Tasos kam irgendwie aus der Fassung, als Thrystan meinte, er hätte keine Kraft. "Du hast sicher eine, vielleicht hast du sie nur noch nicht eingesetzt. Oder nur unbewusst. Aber du hast eine, da bin ich mir sicher. Sonst würden wir kaum hier sitzen und reden, sondern du wärst schon abgehauen", meinte er und kaute etwas auf einem trockenen Brot herum, dass er sich gerade genommen hatte.
Thrystan nahm sich wieder sein Brot und biss davon ab. Mit vollem Mund fragte er: "Wenn ich eine Kraft habe, wie kanne ich die einsetzen?"
Tasos kaute weiter auf seinem Brot herum, als Thrystan eine Frage stellte. "Wie man sie einsetzen kann? Naja, das erste Mal ist rein instinktiv meistens, dann, wenn es die Situation erfordert. Ich hätte ohne meine Kraft nicht überlebt, ich bin einmal annähernd erschossen worden. Danach können manche sie bewusst einsetzen. Ich zum Beispiel aber nicht, ich kann sie nur einmal am Tag einsetzen und das nur, wenn jemand auf mich schießt. Also genau kann ich das auch nicht beantworten, tut mir leid", erklärte er und verputzte die letzten Reste seines Brotes und brachte dann das Teller wieder zum Abwaschen zurück.
Thrystan war enttäuscht von Tasos' Antwort. Er hatte also irgendeine Superkraft, konnte sie aber nicht einsetzen. Tasos stand auf. Da kam Thrystan eine Idee, er lief Tasos hinterher, der seinen Teller wegstellte, und fragte ihn: "Wie hat du denn das erste Mal deine Kraft eingesetzt?"
Tasos musste schmunzeln, als Thrystan ihm jetzt hinterherlief. Die Frage, die dieser stellte, überraschte ihn etwas. "Wie ich die Kraft zum ersten Mal eingesetzt habe? In Salonikas, meinem Heimatland, war ich obdachlos. Einmal kam so ein Spinner, der irgendwas gegen Obdachlose hatte. Was meine Aura nicht wirklich verbesserte. Dann zuckte er aus und zog eine Pistole. Er verpasste mit dann einen sauberen Kopfschuss und ich überlebte nur, weil meine Haut durch die Fähigkeit die Kugel abgefangen hatte. Der Spinner wurde dann aber verhaftet", erklärte er in einem erstaunlich ruhigem Ton. Immerhin, wenn er keine oder eine andere Kraft hätte, hätte er das nicht überlebt. Jetzt drehte er sich zu seinem Gesprächspartner um und fragte ihn: "Was willst du jetzt eigentlich machen?"
Da war er wieder, dieser widerliche Gedanke an den Tod. Unwillkürlich griff Thrystan seine Dolche, gut versteckt in den langen Ärmeln seiner Kutte, und bemerkte dabei nicht einmal, wie er das letzte Stück Brot fallen ließ. Er wusste zwar nicht, was eine Pistole war, aber es schien deutlich etwas Tötendes zu sein.
Plötzlich bemerkte er, dass Tasos ihn anschaute. Schnell dachte er zurück an die Frage, die er nur abwesend mitbekommen hatte. Ja, was sollte er jetzt eigentlich machen?
"Ich weiß es nicht", antwortete er wahrheitsgemäß. "Was macht du jetzt?"
Tasos sah Thrystan mit einem Auge fragend an, als er bemerkte, dass er sein Brot fallen gelassen hatte. "Du hast da was verloren", meinte er gespielt trocken und deutete auf das Brot, das jetzt am Boden lag. "Ich wäre jetzt eigentlich wieder trainieren gegangen, etwas anderes hab ich in den zwei Wochen eigentlich auch nicht gemacht", meinte er und blickte dem Kleinen in die Augen, wozu er nahezu senkrecht nach unten blicken musste. "Ich kann aber auch irgendwas anderes machen, falls du mich irgendwo dabeihaben willst", fügte er noch hinzu. So nebenbei streckte er seine Arme und dehnte sie ziemlich weit nach hinten, sodass es in den Schultern knackste. "Ah, besser", stieß er kurz aus und wartete auf die Antwort.
Thrystan sah kurz auf das Brot am Boden, hob es dann auf, steckte es sich in den Mund und schluckte, ohne zu kauen. "Kann du mich herumführen? Ich kenne mich hier nicht aus, vielleicht kann du mir zeigen, wo was ist?"
Tasos war doch etwas verwundert, als Thrystan ihn fragte, ob er ihn herumführen konnte. „Öhm….joa, kann ich machen, aber ich kenn mich hier selbst noch nicht so gut aus. Das nötigste wird ich dir aber zeigen können“, meinte er und grinste den Kleinen an. Recht viel mehr als den Fitnessraum, die Schlafräume, die Unterrichtsräume und die Kantine hatte der Hüne auch noch nicht zu Gesicht bekommen. Dementsprechend war die Führung eigentlich ein Crashkurs und dauerte keine Viertelstunde. Der Ex-Soldat beendete den Mini-Rundgang beim Trainingsraum. „So, das ist der Trainingsraum, hier verbring ich die meiste Zeit“, erklärte er. „Was willst du jetzt machen?“
"Ich weiß es nicht", antwortete Thrystan. "Vielleicht gehe ich wandern. Oder andere Erleuchteten kennenlernen." Er fühlte sich hier schon jetzt irgendwie ein bisschen wohl. Tasos war der erste Mensch, der ihm nicht feindselig gegenüber eingestellt war und er wollte unbedingt nachsehen, ob alle Erleuchteten so waren. Ohne Verabschiedung drehte er sich zum Ausgang und ging hinaus in den Garten.