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Information | Vote | Gewinner
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten. Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf einen individuellen Benutzertitel. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zur Wettbewerbssaison 2014
Wer neben den Votes noch weitere Kritik für dein Werk erhalten möchte, aber kein eigenes Topic erstellen will, der kann dies gerne in unserem Einzelne Werke-Topic tun!
Zitat von Aufgabenstellung
Das Thema dieser Runde lautet:
Nacherzählung eines historischen Ereignisses
Die Momente, welche die Welt bewegten, bewegen sie noch heute in Kunst, Fernsehen sowie in Literatur, und bleiben auf diese Weise stets in Erinnerung. Eure Aufgabe besteht in diesem Wettbewerb darin, diesen Erinnerungen wieder Leben einzuhauchen und ein historisches Ereignis nachzuerzählen. Ob ihr euch dabei in eine prägende Person wie Caesar, Luther oder Willy Brandt hineinversetzt oder aus der Position eines anderen (fiktiven) Zeitgenossen von den Geschehnissen berichtet, bleibt euch überlassen. Ebenso ist euch die Erzählperspektive dabei freigestellt, die Aufsatzform mit Einleitung, Hauptteil und Schluss ist hingegen nicht verlangt. Achtet nur darauf, das Ereignis bei eurer Nacherzählung getreu der tatsächlichen Geschehnisse zu fokussieren und für den Leser erkennbar zu gestalten.
Ihr könnt 6 Punkte frei an mindestens drei Abgaben verteilen.
ZitatAlles anzeigenID: [DEINE USERID]
AX: X
AX: X
Beispiel:
ID: 27258
A16: 3
A1: 5
A3: 1
A7: 1
A9: 2
Der Vote läuft bis Sonntag, den 06.07.2014, um 23:59 Uhr.
[tab=Abgaben]
9 November 1989
18 Uhr und 53 Minuten
„Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Besucher der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Im Saal wird es ruhig. Nach dieser Ankündigung hört man nur hastiges Schreiben der anwesenden Reporter.
„Wann tritt das in Kraft?“ Eine konkret gestellte Frage, doch die Antwort bleibt vorerst aus. Der Journalist, der sie gestellt hat, runzelt die Stirn. Vor ihm blättert der Mann mit den grauen Haaren in seinen Papieren. Er wirkt unbeholfen, versucht jedoch, die bekannte Professionalität auszustrahlen. Es gelingt ihm nur teilweise.
„Das tritt nach meiner Erkenntnis...ist das sofort. Unverzüglich.“
19 Uhr und 4 Minuten
Wie bei einer kaputten Schallplatte höre ich den Satz immer wieder.
„Das tritt nach meiner Erkenntnis...ist das sofort. Unverzüglich.“ Ein verstümmelter Satz zwar, geprägt von der Unsicherheit des „Genossen“ Schabowski, doch für mich, meine Familie, alle Bürger der DDR bedeutet er nur eins: Freiheit.
So richtig fassen kann ich es noch nicht. Ich bin hier aufgewachsen. Hier in Berlin. Und immer war diese Mauer da. Seit 20 Jahren lebe ich mit dem Wissen, dass es ein Hindernis gibt, das wir nicht durchbrechen können. Bis heute.
Vor nicht einmal einer Viertelstunde geriet Schabowski, der SED-Chef Ostberlins, ins Kreuzfeuer der Journalisten. Zuerst habe ich nicht verstanden, wieso nur wegen des neuen Reisegesetzes extra eine Pressekonferenz angesetzt wurde. Nach und nach, je mehr er sich in seinen umständlich formulierten Sätzen verhedderte, wurde klarer, worauf das hinauslief. Die SED verlor ihren Schrecken mit jeder neuen Frage, die von den Reportern gestellt und von Schabowski beantwortet wurde.
Die Mauer, der eiserne Vorhang Berlins, ist dabei zusammen zu fallen.
20 Uhr und 13 Minuten
Die großen Neuigkeiten machen wahnsinnig schnell die Runde. Durch das Küchenfenster sehe ich Menschen in Richtung Mauer ziehen. Nur kurze Zeit später brechen wir ebenfalls auf.
„Los, zieht eure Jacken an. Es wäre eine Schande, wenn wir das verpassen würden“, sagt Mutter. Ich frage mich, ob ich morgen meine FDJ-Bluse verbrennen darf. Die Partei hat keinen guten Draht zur Jugend. Jedenfalls nicht zu den Kreisen, in denen ich verkehre. Ich muss an all die Treffen denken, all die Feten, auf denen wir verbotene Westmusik gehört haben. An die Angst vor der Stasi. An die Passkontrollen der Grenzer. Ist das jetzt alles vorbei?
Als meine Mutter meinen Bruder und mich aus der Wohnung scheucht, sehen wir, wirklich draußen los ist. Ganz Ostberlin ist auf den Straßen. Einige Minuten lang stehen wir vor der Haustür, beobachten die vorbei kommenden Menschen.
„Lotte, Max, bleibt bei mir. Vater kommt gleich“, sagt Mutter mit vor Aufregung zitternder Stimme. Als er schließlich die Treppe herunter kommt, machen wir uns auf den Weg zum nächsten Grenzübergang. In der Ferne höre ich Sprechchöre.
„Was brüllen die denn da?“, fragt Max. Er sieht genau so aufgeregt aus wie Mutter. Für seine zwölf Jahre ist er erstaunlich aufgeweckt. Er hat sofort verstanden, dass hier etwas Besonderes vorgeht. Etwas, was man nur einmal im Leben mitmacht.
„Mauer auf!“, brüllt ein Mann direkt neben uns.
„Da haste deene Antwort.“ Ich recke die Faust in die Luft und tue es dem Mann gleich. Mein Vater schüttelt neben mir den Kopf, was mir nur ein Grinsen entlockt.
„War schon lange klar, dass das passiert. Die konnten nicht anders. Nicht, nachdem die Tschechen letzte Woche gegen den ersten Reisegesetzentwurf protestiert haben“, sagt er. Ich lockere meinen Schal ein wenig. Für eine Novembernacht ist es erstaunlich warm. Vielleicht liegt das aber auch nur an der aufgeheizten Atmosphäre hier.
„Ja, du Allwissender“, spottet meine Mutter. Er legt ihr einen Arm um die Schultern.
„Das hat nichts mit Allwissenheit zu tun. Viele haben in den letzten Jahren die Oststaaten als Sprungbrett für einen Urlaub im Westen benutzt. Es ist nur logisch, dass die irgendwann die Schnauze voll haben müssen.“
In den Gesichtern meiner Eltern sehe ich tiefe Zufriedenheit. Im Westen wird es uns besser gehen. So bald es geht werden wir unsere Sachen packen und rüber machen, da bin ich sicher. Keine Stasi mehr. Ein Traum wird wahr.
Wir erreichen den Grenzübergang Friedrichstraße. Trabanten stehen Schlange. Jede Straße in der Umgebung ist dicht. Die Sprechchöre werden sogar noch lauter. Die Menge ist wie ein großes Tier, welches sich gegen seine Käfigstäbe wirft, um frei zu kommen. Und diese Stäbe werden jeden Moment brechen. Weiter vorn sehe ich die Grenzer, diese Instrumente der SED, die bei uns Ostberlinern nicht gerade gerne gesehen sind. Sie waren im Grenzbereich die ausführende Macht. Momentan wirken sie überraschend hilflos. Nicht so wie sonst. Normalerweise hatte die Bevölkerung Respekt vor ihnen, nun haben sie Respekt vor der Bevölkerung.
Ein Grenzer erhebt die Stimme. Ein letztes Aufbäumen der SED-Autorität?
„Werte Genossen Staatsbürger, ich weiß, was Sie alle hergeführt hat, aber ich bitte Sie, doch erst einmal bis Morgen abzuwarten! Es ist nicht bekannt, wie der Genosse Schabowski genau...“
„Gib Ruhe! Das Gesetz ist schon in Kraft getreten. Er hat es selbst gesagt. Wir gehen, wohin wir wollen!“, wird er von einer Stimme aus der Masse angebrüllt. Daraufhin erwidert der Grenzer nichts mehr. Er und seine Kollegen wissen nicht, was sie tun sollen.
„Mauer auf!“, erschallt es immer wieder. Ich lasse mich nur allzu gerne mitreißen. Begeistert stimme ich mit ein.
„Lotte! Hör auf. Wenn die Staatssicherheit das erfährt...“, beginnt Mutter. Sie ist immer sehr vorsichtig. Erst recht, wenn man irgendwo „Hochverrat“ hinein interpretieren könnte. Ich glaube nicht daran, dass die alten Regeln noch gelten, daher teile ich ihre Sorge nicht.
„Wat denn? Wollen se uns alle hopsnehmen? Det will ick sehn!“, falle ich ihr ins Wort.
Ich fühle mich inmitten all dieser Menschen, die alle das gleiche Ziel haben, wahnsinnig stark. Gleichzeitig wünschte ich jedoch, dass auch meine Freunde Peter und Jenny das hier erleben könnten. Sie sind im Todesstreifen umgekommen, als sie flüchten wollten. Sie wurden nicht älter als ich.
Die SED nannte das „Volksaufhetzung“ oder „Bedrohung des Volksapparats“. Wir nennen das „Freiheitswille“. Und nun kriegen wir sie, die Freiheit.
Ostberlin war noch nie so zusammengeschweißt. Einfach unglaublich. Wir fordern unser Recht auf Freiheit ein. Gemeinsam. Sie können uns nicht stoppen.
Der Strom an die Mauer bricht nicht ab. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Grenzer ihren Widerstand komplett aufgeben. Die Menge wird immer aufgeregter.
23 Uhr und 14 Minuten
Es ist so weit. Schließlich hören wir, dass die Bornholmer Straße als erster Grenzposten die Pforte aufgemacht hat. In den letzten Stunden wurde der Andrang zu groß. Die Grenzer haben keine Chance mehr, uns aufzuhalten. Unter andauerndem Hupkonzert der Trabis überqueren wir die Grenze zur BRD. Als ich sehe, wie sie da vorne jubeln und schreien, spüre ich die Aufregung stärker als zuvor. Es ist, als hätte ich Schmetterlinge im Bauch. Auf der Grenzlinie will ich kurz innehalten und irgendwas sagen, aber ich werde von den Massen weitergetragen. Macht nichts. Mich hätte eh keiner gehört.
Die Luft auf der anderen Seite riecht förmlich nach Freiheit. Es ist kaum zu fassen! Alles wird sich verändern. Wirklich alles. Sogar belanglose Dinge wie der Weg zur Berufsschule oder zum Einkaufen. Es ist ein völlig neues Lebensgefühl. Zusammen mit meiner Familie entdecke ich den Westen.
Im Laufe der Nacht gelangen wir über den Potsdamer Platz und den Tiergarten bis zum Brandenburger Tor. Vor den Banken stehen andere Ostbürger Schlange, um ihr Begrüßungsgeld abzuholen. Die Restaurants und Bars schließen gar nicht erst. Auch auf dieser Seite der Mauer machen die Menschen die Nacht zum Tag. Als wir am Brandenburger Tor ankommen, dämmert es bereits.
7 Uhr und 47 Minuten
„Oh, sieh mal, da klettern welche auf die Mauer!“, sagt Max. Tatsächlich sehe ich viele Westberliner, die sich ebenfalls von unserer Laune anstecken ließen. Sie feiern den Fall der Mauer ebenso wie wir.
„Det will ick ooch! Kommt schon!“, rufe ich begeistert. Mutter ruft mir noch irgendwas hinterher, doch ich höre gar nicht mehr hin. Mit großzügigem Ellbogeneinsatz bahne ich mir den Weg an die Mauer. Im Schatten dieses Bauwerks verharre ich. An das, was ich nun tue, hätte ich vor einem halben Jahr nicht einmal zu denken gewagt.
Ich muss mich nicht einmal anstrengen. Wildfremde Menschen helfen mir hoch, von oben reckt sich mir eine Hand entgegen, die mich zieht. Die Mauer ist knapp drei Meter hoch und breiter als sonst, sodass wir bequem stehen können.
„Danke!“, brülle ich, denn in dem Lärm hätte er mich sonst nicht gehört.
„Kein Problem. Wie heißte?“
„Lotte! Und du?“
„Daniel. Na, so was erlebt man nur ein Mal, was?“ Er ist ein wenig älter als ich. Wir winken den anderen Ostberlinern zu, welche das Schauspiel bewundern.
„Na und ob!“
Der neunte November 1989 wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. Denn dies ist der Tag, an dem die Mauer geöffnet wurde.
dt.: Zorn der Götter
Es ging ihnen gut in der Hauptstadt. Der Kaiser sorgte sich um seine Untertanen, goldene Zeiten waren angebrochen, und alles wirkte perfekt, wie es schon lange nicht mehr gewesen war.
Die Menschen gingen ihrem Tagewerk nach, die Kinder spielten, es herrschte Frieden im Imperium. Niemand fürchtete mehr, als er sonst auch tun würde, es waren wirklich wundervolle Jahre. Jeder Bürger betete zu den Göttern, dass es noch lange so bleiben möge, dass das Glück anhalten würde, und es wirkte tatsächlich so, als wären sie alle und ihr Vaterland gesegnet.
Dass sich dies bald ändern würde, war den wenigsten bewusst.
»Di immortales! Clades est!«
Hilfeschreie schallten durch die lodernden Gassen der Hauptstadt, Frauen und Kinder kreischten um Vergebung, Männer riefen ihnen unverständliche, leere Dinge zu.
Die Hitze schien unerträglich, als sei Vulcanus selbst vom Himmel herabgestiegen und habe die Stadt in sein zerstörerisches Feuer gezogen, wunderschön und grauenvoll zugleich, wie auch die Harmonie, die die Verzweiflung der Bürger mit dem sanften Harfenspiel und Gesang, welche über der Stadt schwebten, ergab.
»Quid factum est?«
»Me auxilio venite!«
Vergebliche Rufe in den leeren Massen der Fliehenden, die von allen Seiten geäußert wurden, wimmernd, heulend.
Gebäude brachen zusammen, deren angenagte Fundamente das schwere Gewicht nicht mehr tragen konnten, begruben Menschen unter sich. Viele waren eingekesselt von den Flammen, die sich ras ausbreiteten.
Es bestand kein Zweifel, die Götter waren erzürnt und ließen Feuer regnen, das die Stadt vernichtete, doch wieso, wieso nur hier, was hatten sie denn getan, so bestraft zu werden? Es ging ihnen unter diesem Kaiser doch so gut wie schon lang nicht mehr, und die Bürger waren unschuldig.
Irgendwo schrie ein Kleinkind, seine Mutter flehte um Gnade, sein Vater mit ihr, doch zu bald hörte man im Stimmengewirr eine junge Familie weniger weinen.
Kein Ende der flammenden Wände war auszumachen, einige Personen gaben auf und legten sich einfach hin, ließen zu, dass der dicke, tödliche Qualm ihren Atem vergiftete, dass das so heiße Feuer ihre Haut versengte. Die meisten von ihnen schwiegen, doch manche schafften es nicht, stille Größe zu zeigen, und schrien, als die reißende Glut sie fraß.
Man wandte den Blick ab, machte sich Hoffnungen, doch diese wurden von Sekunde zu Sekunde schwächer, zu sehr hatten die Flammen sie bereits eingekesselt und weigerten sich, die gebrochenen Menschen loszulassen. Die Katastrophe nahm ihren Lauf und alle mit sich, die nicht gesegnet waren.
Die wenigen, die es aus der Stadt hinausschafften, wo die Stadtmauern das Feuer fernhielt, waren am Boden zerstört. Und manche berichteten sogar von einer allzu bekannten Figur, die sie auf dem Palast gesehen hatten, auch, wenn ihnen nur wenige andere Glauben schenkten.
Rom brannte.
Und hoch oben, so nah an den dicken, schwarzen Wolken wie sonst niemand, spielte derjenige Harfe und sang dazu, der sich Kaiser Nero nannte - so sagt man.
Übersetzungen des Autors:
di immortales = unsterbliche Götter; clades est = es ist eine Katastrophe; quid factum est = was ist passiert; me auxilio venite = kommt mir zur Hilfe
Wie grausilberne Monolithe, errichtet von einer hochintelligenten, außerirdischen Spezies, ragten die Wolkenkratzer in den Himmel. Eine Wolke zog über dem Atlantik vor der Sonne vorbei und tauchte einige der Gebäude in ihren Schlagschatten; augenblicklich zückte Helen ihre Kamera und knipste ein Foto. Zwar käme dieses Motiv nie mehr rechtzeitig zum heutigen Redaktionsschluss, doch war das auch gar nicht nötig. Die nächsten Monat kommende Oktoberausgabe befand sich bereits in Vorbereitung, und man konnte nie wissen, wann und wie man interessante Motive gebrauchen konnte.
Eigentlich hätte Helen jetzt in Los Angeles sein müssen, um mit ihren Arbeitskollegen den letzten Schliff vorzunehmen, doch war sie bei der baldigen Ausgabe kaum beteiligt. Deswegen befand sie sich noch immer auf der anderen Seite des Kontinents und besichtigte mit ihrer Schwester New York. Immerhin hatten sie nur zu dieser Zeit des Jahres Gelegenheit, etwas gemeinsam zu unternehmen.
„Die Alte ist viel größer, als man sie sich vorstellt“, meinte Cassandra rundheraus, den Blick tief in den Nacken gelegt. Über ihnen ragte die spangrüne Majestät der Freiheitsstatue auf, wirkte aufgrund der Perspektive jedoch weniger ehrfurchtgebietend, denn als habe man sie in einen stumpfwinkligen Kegel gezwängt.
Sogleich hob Helen wieder ihre Kamera und hielt den Augenblick für das Familienalbum fest.
„Knuffig“, kommentierte die ältere Schwester und präsentierte Cassandra das Ergebnis. Ihre neuwertige Kodak DCS Spiegelreflexkamera war zwar ein schrecklich klobiges Etwas, das Ähnlichkeit mit dem Glöckner von Notre Dame hatte und sich eigentlich kein Normalsterblicher leisten konnte. Doch machte sie bemerkenswert scharfe Bilder, die man nicht zuletzt auf dem kleinen Display jederzeit betrachten konnte.
Aber als Cassandra das Werk kritisch begutachtete, zog sie eine Schnute. Ihr Abbild aus Flüssigkristall machte mit seiner ungewöhnlichen Kopfhaltung einen reichlich stupiden Eindruck. „Du hast mich im wirklich blödesten Winkel getroffen. Ich dachte, du bist Profi!“
„Klar bin ich das. Das macht die Kamera. Digicams sind doch schließlich die Vorboten des menschlichen Untergangs gegen die Maschinen!“ Während Helen die Worte ihres Vaters zitierte, als er ihr die Kodak zum Geburtstagsgeschenk gemacht hatte, äffte sie auch seine Handgesten und Tonlage nach.
Jetzt musste Cassandra doch lachen, meinte aber mit unterschwelligem Ernst: „Das glaube ich weniger. Die werden noch ganz groß auf dem Weltmarkt werden, da bin ich mir sicher!“
Gespielt salbungsvoll stimmte Helen ihr bei. Doch insgeheim wusste sie, dass ihre kleine Schwester damit Recht haben mochte. Ihre Mutter hatte bei der Namensgebung ihrer Töchter praktisch festgelegt, was aus den beiden mittlerweile geworden war: Während ihre Erstgeborene so schön wie ihre Namensvetterin Helena von Troja war, hatte die Zweite erstaunliche Fähigkeiten in der Wahrsagerei wie die Seherin Kassandra. Allerdings beinhaltete das nur flapsige Sprüche, und nicht einmal die trafen immer zu. Versuchte Cassandra, diese Begabung bewusst einzusetzen, scheiterte sie sogar völlig. Daher nahm Helen an, dass sie einfach nur besonderes Glück hatte mit dem, was sie so dahersagte.
Ein weiteres Mal lichtete Helen die Skyline ab, weil diese in der Morgensonne wie aus Juwelen gefertigt funkelte. Gut, dass sie so früh auf ihre Rundfahrt gegangen waren, wenn auf den Inseln im New Yorker Hafen nicht viel Touristenandrang herrschte. Dummerweise war, wie sie genervt feststellte, eben geschossenes Foto das vorletzte verfügbare auf der Speicherkarte ihrer Digitalkamera. Noch eines, dann war das Medium voll. Vielleicht ließ sich ein Bild finden, das sie schon auf ihren Computer kopiert hatte …
Ein Klingeln unterbrach ihre Überlegungen, welche Dateien sich am besten zum Löschen eigneten. Helen kramte in ihrer Handtasche, bis sie ihr Mobiltelefon fand.
„Ist das Mom?“, wollte Cassandra wissen, als sie den Klingelton erkannte, den ihre ältere Schwester eigens für ihre Mutter eingestellt hatte.
Missmutig nickte Helen. „War ja klar, dass ihr unsere Flucht nicht schmecken würde.“ Erzwungenermaßen nahm sie den Anruf an und flötete unschuldig ins Telefon: „Ja, Ellie hier?“
„Helen!“, tönte es lautstark aus dem Hörer, und die Angefahrene erkannte in Ruths Tonfall Sorge, Verzweiflung und Erleichterung, im Gesamten Machtlosigkeit. Eine ungewohnte Mischung für ihre strenge, stets beherrschte Mutter. „Gott sei Dank, dass ich dich erreiche!“, sprudelte es am anderen Ende, gefolgt von einem Sammelsurium an unverständlichen Sätzen.
Währenddessen erblickte Cassandra etwas am Himmel und machte ihre Schwester mit ihren Blicken darauf aufmerksam. „Ist ja komisch“, meinte sie. „Dieses Flugzeug fliegt ganz schön tief.“ Auch Helen und einige Umstehende wandten den Kopf. Tatsächlich glitt da ein Flieger abnormal tief über die Großstadt hinweg; aufgrund der Entfernung ließen sich weder seine genaue Höhe noch seine Geschwindigkeit abschätzen. War der Flughafen vielleicht überlastet, und es musste eine Ehrenrunde gedreht werden?
„Schatz, wo bist du?“, fragte Ruth endlich etwas gefasster. „Bist du schon in L.A.?“ Es klang, als sei sie selbst von diesem Umstand nicht ganz überzeugt.
Auch wenn Helen das Gespräch bislang unbehaglich merkwürdig vorkam und das Flugzeug sie kurzzeitig abgelenkt hatte, spaßte sie: „Sandy und ich sind auf meiner Insel!“ Das stimmte zwar nicht, da sie sich auf Liberty Island aufhielten, doch lag Ellis Island nur einen Steinwurf entfernt und gehörte zu den Zielorten der beiden Schwestern. Außerdem hatte Helen immer schon einmal diesen Scherz bringen wollen, der in ihrer Familie schon lange herumgeisterte, Ellis Island sei ihre Insel, da ihr Spitzname Ellie war.
Während der Flieger Meile um Meile fraß, konnte Helen regelrecht hören, wie auf der anderen Seite der Leitung die Zahnräder knatterten, als Ruth den Sinn ihrer Aussage analysierte. „Du bist in New York?“, schlussfolgerte ihre Mutter endlich. „Du bist heute Morgen nicht nach Los Angeles geflogen? Dachtest du nicht, es sei vielleicht wichtig, mir das zu sagen?!“ Ruth klang mit jedem Wort, das sie sagte, zorniger. Aber auch erleichterter, was Helen nun gar nicht nachvollziehen konnte.
Ruths älteste Tochter seufzte tief. Ihre Mutter war so ein unverbesserlicher Kontrollfreak, dass es schien, als habe man den Beruf der Fluglotsin im Boston Tower allein für sie eingerichtet. Alljährlich im September mussten Helen und Cassandra sie in ihrer Geburtsstadt besuchen – mindestens das eine Mal im Jahr. Mit fester Stimme stellte sie klar: „Mom, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und noch dazu kein Flugzeug auf einem deiner Bildschirme. Ich muss dir nicht ständig meine Position durchgeben. Was ist denn überhaupt los?“
Der Tiefflieger glitt immer näher heran wie ein gigantischer Albatros, der auf sein Nest zuhielt.
Ruth antwortete: „Der Flug, mit dem du heute Morgen nach L.A. hättest fliegen sollen, wurde entführt!“
Nur Helen hörte, was ihre Mutter sagte.
„Oh, Shit“, stieß Cassandra aus. Eine Frau neben ihnen japste geschockt auf.
Das Flugzeug legte sich leicht quer …
„Schatz?“
… und fuhr mit der Nase voran in einen Wolkenkratzer.
Für einen Moment war es unnatürlich still auf Liberty Island. Dann erreichte sie der Schall eines furchtbaren Berstens und Donnerns, und die Besucher der Insel fingen entsetzt zu schreien an.
„Helen, was ist da los?“, verlangte Ruth zu erfahren.
„Ich … ich muss Schluss machen.“ Ohne auf den Protest ihrer Mutter zu achten, legte Helen auf.
„Ellie, schieß sofort ein Foto!“, hielt Cassandra sie sogleich an. Sie schien nicht halb so erschrocken wie die anderen, nahm aber deren hastig diskutierte Theorien, was passiert sein mochte, auf: „Da ist bestimmt irgendwie der Pilot eingeschlafen. Über so einen Unfall wird man sich noch wochenlang das Maul zerreißen! Und du als Profifotografin kannst mit so einem Schnappschuss ein Vermögen machen!“
Mechanisch, instinktiv den hellseherischen Fähigkeiten ihrer Schwester gehorchend, hob Helen ihre Kamera, legte in tausendfach geübter Geste den Finger auf den Auslöser – und zögerte im letzten Augenblick.
Das Hochhaus funkelte wie eine kristalline Fackel, zuvor nur eine unter vielen, jetzt immer auffälliger zwischen den anderen Wolkenkratzern hervorstechend. Flammen züngelten an der Stelle, wo das Flugzeug ein grauenerregendes Loch gerissen hatte, aber keines sein sollte. Schwarzer Rauch stieg allmählich davon auf wie eine Feuerzunge – jedoch war diese nicht dazu angetan, die Dunkelheit mit ihrem warmen Schein zu erhellen, sondern im Gegenteil dem Tag das Licht zu stehlen. Es war ein kräftiges Motiv, das sich hier vor Helen wie auf dem Präsentierteller ausbreitete, das spürten ihre Instinkte als Fotografin. Und doch …
„Ich kann nicht“, stammelte sie vor sich her.
Cassandra, die von der Gefühlslage ihrer Schwester nichts ahnte, schnaubte ungeduldig: „Das ist doch ganz einfach! Du musst nur den Finger krümmen.“
Wahrscheinlich sprach sie noch weiter, aber Helen hörte sie schon nicht mehr. Was ihre Ohren erfüllte, waren Schreie. Nicht die Rufe der Besucher der Freiheitsstatue und ihrer Insel, sondern die Schreie der Menschen, die in dem Gebäude in Feuer und unter Trümmern starben. Schreie des Schmerzes, des Entsetzens, der Angst – so als sei Helen mitten unter ihnen. Ihre Vernunft sagte ihr, dass das nur Einbildung sein konnte, und versuchte, diese mit Logik zu vertreiben. Doch die Illusion wurde nur stärker.
Acht- und kraftlos ließ Helen ihre hochwertige Spiegelreflexkamera zu Boden fallen. Das letzte Bild, das je von der Skyline der Metropole aufgenommen wurde, auf dem sie so zu sehen gewesen war wie vor dem Einschlag des Flugzeugs, erlosch auf dem Display.
In die Schreie der Sterbenden mischten sich allmählich die Worte, die Ruth gesprochen hatte. Hinterließen in Helens Geist, den Anblick New Yorks betreffend, eine fürchterliche Erkenntnis:
Das war ihr Flieger. Sie wäre eine der ersten Toten gewesen.
Bismarck spürte, wie sein Schnurrbart vor Aufregung zitterte. Es war nicht seine Art, starke Emotionen zu zeigen, wenn es ihm nicht nützlich war. Aber dennoch durchlebte er sie, und jetzt, in diesem Moment, stärker als je zuvor in seinem Leben. Denn er hatte es vollbracht. All die Jahre des Verhandelns, des Kampfes gegen seine politischen Gegner und des Krieges hatten letztendlich zur Verwirklichung seiner Ziele geführt. Das Reich war gegründet und nun würde Wilhelm, König von Preußen, die Kaiserwürde entgegennehmen, am 18. Januar 1871, exakt 170 Jahre nach der Gründung des preußischen Königreiches.
Der prächtige Spiegelsaal in Versailles, in dem einst Ludwig XIV. prunkvolle Feste gefeiert hatte, war nun erfüllt von den Vertretern der zukünftigen Bundesstaaten des Deutschen Reiches, von führenden Militärs, Politikern und Fürsten. Und doch wusste Bismarck, dass niemand in diesem Saal, nicht einmal der zukünftige Kaiser, so wichtig war wie er. Ganz alleine hatte er die Geschicke des preußischen Staates und schließlich auch von Deutschland in den letzten Jahren gelenkt, hatte die Liberalen mühsam auf seine Seite gezogen, hatte den König von Preußen in die richtige Richtung geschubst und nun als konservativer Mann ironischerweise vollbracht, was stets ein Ziel der Liberalen gewesen war: Die Einigung Deutschlands.
Gleichwohl würde es nicht das Deutschland werden, welches sich diese freiheitsliebenden Narren immer vorgestellt hatten. 1848 hatte Friedrich Wilhelm IV. Aus Angst vor ihnen erklärt, dass „Preußen fortan in Deutschland aufgehen würde“. Bismarck hatte diesen Satz nun quasi umgedreht: Preußen würde die Vorherrschaft besitzen, und am Ende würde kein Unterschied zu dem Szenario bestehen, in dem Preußen sich die anderen Staaten einfach einverleibt hätte.
Es war ein langer Weg bis dahin gewesen, niemand wusste das besser als Bismarck. Ihm war bei seinem Ziel der Machterweiterung Preußens bereits früh klar geworden, dass er Österreich würde loswerden müssen. Der Vorsitz und Einfluss der Österreicher im sogenannten Deutschen Bund, der nichts anderes war als eine lose Vereinigung der Staaten zum Zwecke der Wahrung des Status quo, bedeuteten Hindernisse, die es zu überwinden galt. Und das Mittel, welches sich in der Geschichte immer wieder als effektivstes zur Veränderung erwiesen hatte, ebnete ihm den Weg: Krieg. Drei Kriege, um genau zu sein.
Der erste Krieg, durch den die bisher von Dänemark verwalteten Herzogtümer der Herrschaft Preußens und Österreichs zugesprochen wurden, hatte die Spannungen der beiden gerade noch Seite an Seite kämpfenden Staaten verstärkt. Bismarck lächelte bei dem Gedanken. War es nicht eine Ironie, dass der Krieg gegen Dänemark die Waffenbrüder entzweite? Die beiden Brüder, die sich um Deutschland wie um ein Spielzeug stritten, bis es dann natürlich zur unvermeidlichen Prügelei kommen musste. Eine Prügelei, in der Preußen triumphierte und sich zudem erfolgreich die Staaten im Norden Deutschlands einverleiben konnte.
Aber dennoch, auch wenn man Österreich hatte herausdrängen müssen, so war es doch ein potentieller Verbündeter in Zukunft. Der Reichskanzler dachte daran, wie er sich mit dem preußischen König darüber geradezu gestritten hatte. Der in veraltet-kriegerischen Begriffen denkende Monarch hatte Gebietsabtretungen gefordert, gegen die Bismarck lautstark hatte protestieren müssen. Die Androhung seines eigenen Rücktritts war notwendig gewesen, um den diplomatischen Fehler zu verhindern. Doch es hatte funktioniert: Die Annäherung an Österreich war für die Zukunft gesichert.
Und es war nur noch die Frage übrig geblieben, wie man nun auch die süddeutschen Staaten in den festen Bund zwingen konnte. Und was bot sich da besser an als der Krieg gegen einen gemeinsamen Feind, einen Feind, der im Bewusstsein fast aller Deutscher fest als „Erbfeind“ verankert war? Erneut war es überaus paradox, dass Frankreich, der Einigung Deutschlands angstvoll entgegensehend, sie schließlich in Stein meißeln würde. Bismarck hatte dabei eine wahre Meisterleistung vollbracht, zu der er sich selbst gratulieren konnte: Er hatte den Krieg, den er selbst anstrebte, ausgelöst, ohne als Aggressor in Erscheinung zu treten. Offiziell hatte Frankreich den Krieg begonnen, und das war alles, was im Bewusstsein der Öffentlichkeit zählte. Der Krieg war immer noch im Gange, aber er würde nicht mehr lange dauern. Der „Erbfeind“ war ausgelaugt, erschöpft und würde bald aufgeben. Eine Kapitulation, die Bismarck zur Schwächung Frankreichs nutzen würde.
Doch die Zeit dazu war noch nicht gekommen, und nun war erst einmal ein anderer Triumph zu genießen, nämlich die Gründung des zweiten Deutschen Reiches in der Geschichte. Der finale Teil der Zeremonie hatte begonnen. Bismarck selbst musste nun die Estrade betreten und die Proklamation verlesen, die kurz, aber dennoch feierlich gehalten war. Er wusste, dass er mit ihr nicht ganz die Wahrheit sagte. Obwohl er vom gemeinsamen Willen der Staaten sprach, die nunmehr seit sechzig Jahren ruhende Kaiserwürde zu erneuern, hatte dieser Wille ihn selbst eine Menge an Überzeugungsarbeit und speziell im Falle von Bayern den preußischen Staat sogar eine gewisse... Zuwendung gekostet.
Bismarck hatte seine kurze Rede unter Beifall beendet. Nun war die Krönung des Kaisers und seine endgültige Ausrufung an der Reihe. Ein in seiner Form scheinbar so unbedeutendes Detail, welches Bismarck aber trotzdem erneut Streit mit dem König beschert hatte. Der Titel war entscheidend: Bismarck wusste, dass Wilhelm den Titel „Deutscher Kaiser“ annehmen musste, obwohl er das gar nicht wollte. Stattdessen hatte dieser Monarch, der sein Land so romantisch verklärte, darauf beharrt, dass die Königskrone Preußens viel höher stand und sich „Kaiser von Deutschland“ nennen wollen. Doch dies war unmöglich: Österreich gehörte zwar nicht zum zukünftigen Reichsgebiet, betrachtete sich aber immer noch dem deutschen Land zugehörig. Diese Rangbezeichnung wäre eine gewaltige Anmaßung gewesen.
Die meisten sahen es dem zukünftigen Kaiser nicht an, doch sein Kanzler erkannte die Unruhe, die ihn überkommen hatte. Er selbst verspürte nun auch einen kleinen Anflug von Furcht: Was, wenn Wilhelm die Kaiserkrone doch noch ausschlagen würde? Doch wie er den Gedanken gefasst hatte, schüttelte Bismarck innerlich auch schon wieder beruhigt den Kopf. Es wäre eine zu große Peinlichkeit für Seine Majestät, ein Fauxpas, von dem er sich nicht wieder erholen würde.
Eine laute Stimme riss Bismarck aus seinen Gedanken: „Und so rufe ich für alle Bürger unseres glorreichen Staates aus...“ Der badische Großherzog Friedrich, Schwiegersohn des neuen Kaisers, dem dessen Ausrufung oblag, machte scheinbar eine Kunstpause. Bismarck vermutete jedoch, dass es auch ein Zögern aufgrund der Unklarheit des eigentlichen Titels war. „Ein Hoch auf Kaiser Wilhelm!“ beendete der Mann seinen Satz nun beinahe schreiend. Während alle Menschen um ihn herum wie er auch laut „Hoch!“ riefen, lachte der Kanzler still in sich hinein. Es war so raffiniert. Statt sich auf einen Titel genau festzulegen, bezeichnete er Wilhelm einfach nur als „Kaiser“. Und eben dieser Kaiser, in seiner Uniform und mit seinem ungewöhnlichen, üppigen Bartwuchs außerordentlich beeindruckend wirkend, schritt nun von der Estrade herab, um seinen Untergebenen die Hand zu schütteln. Doch als Bismarck die Hand ausstreckte, ging der Kaiser ohne ein Wort und ohne ihn eines Blickes zu würdigen an ihm vorbei. Die symbolische Geste der Verachtung versetzte der Freude des Kanzlers einen leichten Dämpfer. Er wusste, dass die Anwesenden darüber noch reden würden. Dennoch war es ihm im Grunde gleichgültig. Es passte natürlich nicht in das Weltbild des jetzigen Kaisers, wenn sein Kanzler ihm sagte, was er zu tun hatte, auch wenn er sich nur oberflächlich dagegen wehrte. Was jedoch wirklich für Otto von Bismarck zählte, war der Triumph Preußens und dass dieser Triumph, der die Schaffung einer neuen Großmacht auf dem europäischen Kontinent bedeutete, sein eigener war.
16. Oktober 1888
„Mr Lusk?“
Der Angesprochene hob den Kopf und runzelte die Stirn. Gerade war er dabei gewesen, einige Akten über den Fall von Catharine Eddowes , dem letzten Opfer, nachzulesen. Der Konstabler, welcher die Leiche entdeckt hatte, war nicht in der Lage gewesen, ihm einige der dringenden Fragen ausführlich zu beantworten. Er war zu beschäftigt damit gewesen, sein allmorgendliches Frühstück auf den Rinnstein zu erbrechen.
Mr Lusk rieb sich müde übers Gesicht. Dann richtete er sich jedoch auf. „Was?“
Der junge Konstabler, dessen Gesicht eine unnatürliche Blässe zierte, hielt ihm zögerlich ein Päckchen hin. Es war nur lose in braunes Packpapier eingewickelt worden, welches sich bereits an den Ecken zu lösen begann. „Ein... Päckchen für Sie, Sir. Es wurde an Sie adressiert, Sir.“
Lusk erhob sich schwerfällig. Am liebsten hätte er sich nach Hause begeben, um sich einen schönen Absacker zu gönnen und all diese Widerlichkeit, mit der er in letzter Zeit immer wieder aufs Neue konfrontiert wurde, für einen Moment vergessen zu können. Aber seine Arbeit rief.
Und der Mistkerl würde sich nur ins Fäustchen lachen, wenn er jetzt wie ein Hund den Schwanz einzog. Dafür war der Stolz von Lusk zu ausgeprägt.
Diesen Sieg würde er dem Mörder niemals gönnen. Nicht einmal über seine kalte Leiche.
Ungeduldig riss er dem jungen Mann das Päckchen aus der Hand und trug es zu seinem Schreibtisch. Er ignorierte die Akten, welche regelrecht überall verstreut waren, geflissentlich. Stattdessen begann er, das Papier zu entfernen. Unter der Schicht kam eine Schachtel zum Vorschein, nicht viel größer als eine seiner Akten. Sie war verschlossen.
Lusk nahm den Deckel vom Päckchen ohne jegliche Scheu. Später würde er sich innerlich für diese Unachtsamkeit ohrfeigen.
In dem Päckchen lag, auf Zeitungspapier, ein blutiger Klumpen. Schockiert starrte der Mann dieses Ding an, völlig unfähig, nur einen Ton über die Lippen zu bringen. In seiner Kehle sammelte sich ein Schrei, der jedoch keinen Weg nach Außen fand. Spucke, die nach bitterer Galle schmeckte, befand sich in seinem Mund.
Der junge Konstabler beugte sich über die Schachtel, Neugier auf den Zügen gezeichnet. Als er jedoch das Organ entdeckte, noch mit Blut bedeckt, wurde er kreidebleich im Gesicht. Und übergab sich noch an Ort und Stelle.
Lusk jedoch beherrschte sich. Er hielt dies für einen Streich; zwar durchaus makaber, aber dennoch nichts weiter als ein dummer Jungenstreich.
Seine Augen entdeckten, in der einen Ecke der Schachtel, einen Briefumschlag. Mit spitzen Fingern zog er ihn heraus, öffnete ihn mit einer schnellen Bewegung und faltete den Brief, welcher aus dem Umschlag heraus flatterte auf seinen Schreibtisch, auseinander. Dabei registrierte er, dass seine Hände leicht zitterten.
Schnell flog sein Blick über die geschnörkelten Zeilen. Und wurden mit jedem gelesenen Wort größer und größer.
Und bei dem Unterzeichner des Briefes konnte er es schließlich nicht mehr zurückhalten: Er stieß einen abgehakten Laut des Schocks aus.
Ein paar Tage später war das Ergebnis des Mediziners Doktor Openshaw vorhanden. Es handelte sich bei dem Organ um eine menschliche Niere, die vermutlich in Ethyl-Alkohol konserviert gewesen war.
Doch trotz dieser etwas schockierenden Nachricht verunsicherte Mr Lusk etwas gänzlich anderes. Nämlich die Feststellung, wem die Niere vermutlich gehörte. Oder wohl eher gehört hatte.
Catharine Eddowes war die ehemalige Besitzerin der Niere gewesen. Zumindest wurde dies von den befragten Medizinern vermutet.
Und bei dem Gedanken daran, dass ihm tatsächlich die Niere einer toten Gehsteigschwalbe, wie er die Prostituierten des East Ends spöttisch nannte, geschickt worden war, ließ ihm keine ruhige Nacht mehr. Zu Anfang hatte er nicht viel darauf gegeben.
Aber dies war kein dummer Streich oder eine Heimzahlung eines wütenden Fanatikers; nein, dies war seine Nachricht an die Polizei, die Medien und das gemeine Volk. Es war seine Art, ihnen allen zu zeigen, dass er noch da draußen war. Dass er mit gezücktem Messer auf sein nächstes Opfer wartete und über ihre halbherzigen Versuche, ihn dingfest zu machen, nur lachen konnte. Niemand war eine Bedrohung für ihn, den Schlitzer. Er war nicht aufzuhalten...
Denn er kam direkt aus der Hölle.
Aus der Hölle
Mr. Lusk,
Mein Herr
Ich schicke Ihnen die halbe Niere, die ich aus einer Frau genommen und für sie konserviert habe. Das andere Stück habe ich gebraten und gegessen; es war sehr gut. Vielleicht schicke ich Ihnen das blutige Messer, mit dem ich sie herausnahm, wenn Sie nur noch etwas warten.
Gezeichnet
Fangen sie mich, wenn sie können, Mishter Lusk
Nein, es war unmöglich. Sergestes musste sich geirrt haben, anders konnte es gar nicht sein. Obwohl er einmal ein Barbar gewesen war, schlug in seiner Brust jetzt ein treues Römerherz. Diese Person würde unser Reich nie verraten, das wusste ich. Mein bester Freund war ein aufrichtiger Bürger, dem Senat und Kaiser Augustus treu. Er würde nie…
„Publius, kommst du?“
Überrascht schüttelte ich den Kopf und versuchte zu verstehen, was mein bester Freund Arminius gerade gesagt hatte. Was sollte ich tun?
„W-Was?“, brachte ich verwirrt hervor und schlug mir selbst gegen den gefiederten Helm, um mich in die Realität zurückzuholen.
„Publius Quintilius Varus, wenn du jetzt nicht sofort deinen Hengst antreibst, werden deine eigenen Legionen dich zurücklassen. Was ist denn heute mit dir los, hast du etwas Schlechtes gegessen? Dieser misstrauische, grüblerische Gesichtsausdruck steht dir überhaupt nicht, freu dich doch wenigstens über deine Position. Du bist ein römischer Stadthalter, also benimm dich wenigstens wie einer“, wies mich Arminius halb lachend, halb im Ernst zurecht und mir wurde klar, dass meine Sorgen unbegründet waren. Sergestes, ein den Römern freundlich gesonnener Cherusker hatte mir gesagt, dass einige Germanen einen Überfall auf mich planten. Mehr noch, Arminius sollte ihr Anführer sein.
Schon allein die Idee war absurd, ich wurde von drei Legionen, also um die 17000 bestens ausgebildeten Soldaten begleitet. Ein Angriff auf eine so große Streitmacht wäre Selbstmord und dass Arminius ihn leiten sollte, war schlichtweg unmöglich. Es stimmte zwar, dass mein bester Freund ursprünglich ein germanischer Fürstensohn gewesen war, jedoch hatte der Senat ihm und seinem Vater die Chance gegeben, vollwertige Römer zu werden, wenn die sich die Cherusker im Austausch dafür „Senatus Populusque Romanum“ unterwarfen, sie hatten angenommen und Arminius hatte sich im Dienste der Armee so gut bewährt, dass er inzwischen sogar in den Ritterstand erhoben worden war. Nein, es war unmöglich. Arminius war ein respektabler Römer, ich wusste es.
„Pu-bli-us! Wenn du deinem Pferd jetzt nicht endlich die Sporen gibst, lassen ich dich wirklich zurück!“
Ich schüttelte nur leicht lächelnd den Kopf und trieb endlich meinen Hengst an.
Arminius war kein Verräter. Das wusste ich.
„ ,…weiß ich aus sicheren Quellen, dass die Barbaren einen Aufstand planen und empfehle Ihnen, diesen bereits im Keim zu ersticken‘ Was denkst du, glaubst du, diese Nachricht ist echt?“, fragte Publius, nein, Varus und ich musste den Impuls unterdrücken, mich entweder zu übergeben oder laut loszulachen.
„Woher soll ich das wissen?“, meinte ich und versuchte meine Stimme möglichst ruhig zu halten, was zwar nicht ganz klappte, doch der Stadthalter der Provinz Germanien schien nichts bemerkt zu haben.
„Ich bezweifle zwar, dass es unser allmächtiger Kaiser oder sonst ein hoher Beamter war, der das geschrieben hat, jedoch ist es kein allzu großer Umweg und was kann es denn schaden, dort einmal nach dem Rechten zu sehen? Meiner Meinung nach wäre es besser, den Abstecher hinter den Teutoburger Wald vergebens zu machen, als es zu versäumen und dann zu bereuen. Aber im Endeffekt bist du hier der Heerführer und nicht ich“
Varus sah mich einen Moment lange nachdenklich an und nickte dann erfreut.
„Es war die richtige Entscheidung dich zu fragen. Ich werde deinem Rat folgen, Arminius“
Erneut unterdrückte ich das aufkommende Bedürfnis, die Inhalte meines Magens auf dem Boden von Varus Zelt zu verteilen.
Arminius. Wie sehr ich diesen Namen hasste, genauso sehr wie die, die ihn mir gegeben hatten. Ich hieß Armin, der römische Zusatz war unerwünscht und die ausländischen Besetzter in meiner Heimat ebenfalls. Aber zum Glück würde dieses Land bald wieder meinem Volk gehören. Varus dieser dumme Hund hatte den Köder geschluckt und die 17, 18 und 19 Legion würden nicht wissen, was über sie hereinbricht. Ich hätte endlich meine Rache.
„Bin ich entlassen?“, fragte ich leise und Varus nickte.
Ich verließ das Zelt und blickte mich um. Da waren Wälder, endlose grüne Ebenen, Sumpflandschaft und natürlich Römer. Die Ranghöheren schliefen in großen Zelten, die einfachen Fußsoldaten einfach so auf dem Boden. Und obwohl ich versuchte, den Makel in der Landschaft zu ignorieren, konnte ich nicht anders, als ein bisschen wütend zu werden.
Morgen, ermahnte ich mich selbst, morgen würde dieses Land endlich wieder uns gehören.
„Hopp!“, rief ich und presste die Sporen in die Flanken meines Streitrosses, welches den Kopf zurückwarf, die Augen nach hinten verdrehte und losgaloppierte. Hinter mir erstreckte sich ein langer Zug an Legionären, in diesem unwegsamen Gelände mussten wir alle im Gänsemarsch hintereinander her gehen. Durch das dichte Blätterdach des Teutoburger Waldes konnte ich die vollen Ausmaße des Zuges zwar nicht ausmachen, wusste aber, dass er gewaltig sein musste. Um die fünftausend Schritte lange, wenn nicht länger.
„Arminius, was meinst du? Wie lange geht es noch, bis wir den Barbaren begeg- Arminius?“
Mein bester Freund hatte sein Pferd zum stehen gebracht und hantierte an seinem Gürtel herum. Erst dachte ich, er wolle bloß seinem Wasserschlauch hervorhohlen, doch das, was er da vom Gürtel zog, war etwas gänzlich Anderes.
Arminius hob das seltsame Ding etwa auf die Höhe seines Kinns und jetzt konnte ich erkennen, dass es ein geschmücktes Horn war. Doch irgendwas an diesen Verzierungen stimmte nicht. Anstatt Diana, Jupiter oder Mars zu zeigen, war darauf ein alter, einäugiger Mann abgebildet, der auf einer Brücke stand und an dessen Hüfte ebenfalls ein Horn hing.
Arminius grinste mich an, jedoch seine Augen waren eiskalt und zum ersten Mal in meinem Leben fürchtete ich mich vor dem Mann, den ich als meinen besten Freund bezeichnete.
„Lass mich dir etwas erklären“, flüsterte Arminius und fuhr mit seinem Finger sanft über die mit schwarzer Farbe aufgetragenen Malereien auf seinem Instrument.
„Der Gott, der hier abgebildet ist, heißt Heimdall und sein Horn Gjallarhorn. Wenn das Ende aller Zeiten naht, wird er hineinblasen und die Götter zum letzten Kampf rufen. Ich bin nicht Heimdall und dieses Horn nicht das Gjallarhorn, aber“ Seine Worte bekamen einen manischen Unterton. „für das Ende deiner Zeiten wird es genügen“
Und hiermit stieß Arminius, Sohn des Segimer und Erbe des Fürsten der Cherusker in sein Horn.
Das Ende aller Zeiten hätte keine bessere Beschreibung für die folgenden Ereignisse sein können.
Meine Hände waren blutverklebt, mein Haar verfilzt doch es kümmerte mich nicht. Ich musste weiterkämpfen, mehr Köpfe abschlagen, mein Schwert hatte noch lange nicht genug Blut getrunken. Erst wenn alle dieser Eindringlinge vernichtet sein würden, erst wenn alles römische Gesindel vom Land der Cherusker getilgt wäre, würde ich ruhen können.
Und ich hätte endlich meine Rache.
Drei Tage lauerte die Schlacht bereits und von dem, was einst drei Legionen gewesen waren, lebte nur noch ein kleiner Rest. Unsere Taktik war perfekt gewesen. Die Römer hatten den Fehler gemacht uns Germanen zum Dienst in der römischen Armee zu zwingen und hatten uns so ihre größte Schwäche offenbart. Sie waren Meister im Formationskampf und auf offener Ebene hätten wir keine Chance gegen sie gehabt. Doch genau das war ihnen schließlich zum Verhängnis geworden, denn verstreut, wie sie waren, konnten sie sich nicht aufstellen. Außerdem hatten wir auch einen zweiten Vorteil gehabt. Der größte Teil unserer Streitmacht hatte zwar im Unterholz auf mein Signal gewartet, jedoch die erste Angriffswelle war aus dem germanischen Teil der römischen Armee gekommen. Das hatte unsere Feinde überrumpelt. Und das war ein großer Teil unseres Erfolgs in dieser Schlacht gewesen.
„Arminius!“, brüllte jemand hinter mir. Ich drehte mich um und meine Augen weiteten sich.
„Va-rus? Ich hätte nicht gedacht, dass du noch lebst, aber wenn es so ist, dann trifft das sich gut. Denn weißt du, du warst der Erste, der mich, anstatt mich mit meinem echten Namen Armin anzusprechen, Arminius genannt hat. Wenn ich dich töte… WENN ICH DICH TÖTE KANN ICH ENDLICH WIEDER ARMIN SEIN UND DIE ZEIT, ALS ICH TEIL VON EUCH RÖMISCHEM ABSCHAUM WAR, ENDGÜLTIG HINTER MIR LASSEN!“
Varus sagte nichts. Er sah nicht einmal wütend aus. Langsam zog er sein Schwert aus der Scheide und nahm es fest in eine Hand. Dann endlich begann er zu sprechen: „Diese vollen drei Tage habe ich mich die ganze Zeit gefragt, wie ich mich an dir rächen könnte. Seit du in dieses verfluchte Horn gestoßen hast, habe ich an nichts anderes mehr gedacht. Und nun hast du mir die Antwort auf dem Silbertablett serviert. Jetzt weiß ich, wie ich es dir heimzahlen kann“ Er hob die Klinge höher, aber statt sie auf mich zu richten, setzte er sie an seinen eigenen Hals.
„Jetzt wirst du mich niemals töten. Und hiermit heißt du Arminius für immer“
Die Klinge fuhr an seinem Hals entlang, zeichnete Blut und Varus keuchte mit letzter Kraft:
„Einmal Römer, immer Römer“
12. August 1099.
Der Sonne hing tief, blutrot überstrahlte sie das karge Land, das sie erobert hatten. Kein zwei Tage hatte es gedauert, da musste Godefroy sich mit seinem Gefolge wieder zurück auf nach Jerusalem machen. Die Nacht würde ihm erst verraten, ob sie als Sieger oder Verlierer heimkehren sollten.
Der Herr von Bouillon überblickte zu Pferde das Feld, auf dem in den letzten Stunden die Schlacht geschlagen worden war. Vorsichtig schritt das Tier durch den noch immer heißen Sand, nur wenige Meter entfernt von abgebrochenen Lanzen und herrenlosen Pfeilen, die entweder ihr Ende im Boden oder einem Ägypter gefunden haben. Nur selten war ein Kreuzfahrer inmitten der Gefallenen auszumachen, dann wies Godefroy seine Männer an, diesen zu bergen. Niemand sollte in dieser unchristlichen Umgebung zurückbleiben und dem Teufel überlassen werden.
Während die Soldaten ihre Kameraden beerdigten, ritt der Feldherr durch die Lager und resümierte die geschlagene Schlacht. Am frühen Morgen waren sie aufgebrochen, um Askalon einzunehmen und die Fatimiden aus dem neuen Königreich Jerusalem zu vertreiben. Gerade mal einen Tag hatte es gedauert, nach der Ankunft im Umland der Festungsstadt auch das Lager ihrer Feinde auszuspähen. Am Vortag noch wären sie fast in eine Falle getappt und der Angriff wäre zum Verhängnis geworden. Die Ägypter versuchten, die Kreuzritter durch eine Herde von verschiedenstem Vieh zum Plündern und somit zu Leichtsinn anzuregen – die als Nahrung gedachten Tiere wurden kurzerhand als lebendiger Schild in das Kreuzfahrerheer eingegliedert.
Einige von ihnen überlebten das Getümmel des Kampfes und grasten nun zwischen den durchbohrten Leichen ihrer Besitzer das braune Gras des israelischen Küstenlandes ab. Godefroy konnte an einem der langen Schatten erkennen, dass ein Schaf sich an einer der Blutlachen tränkte, sie sich an den tiefer gelegenen Mulden des Schlachtfeldes gebildet hatten. Ein Schauer lief seinen Rücken herab und seine Hand vollführte unwillkürlich und routiniert ein flottes Kreuzzeichen vor seiner Brust. Er sprach ein Gebet für das unwissentlich geschändete Schaf und wandte den Kopf wieder zum Horizont, an dem die Sonne schon beinahe vom schwarzen Mittelmeer verschluckt worden war. Schwach leuchteten die Sterne in der späten Dämmerung durch die Wolkenschwaden und wiesen so den Weg nach Askalon wie auch nach Jerusalem.
Der Ritter kehrte ihnen den Rücken zu, um zurück zu seinem provisorisch aufgeschlagenen Zelt zu marschieren, in dem sein Mitstreiter Raimund von Toulouse vor ihren Gefährten – Tankred, Robert aus der Normandie und Godefroys Bruder Eustach – konstatierte, den rechtmäßigen Anspruch auf die Stadt Askalon zu haben, da er den rechten Flügel in der Schlacht geführt hatte, der eindeutig meisten Fatimiden zu Fall gebracht hätte. Godefroy vertagte die Diskussion mit dem Argument, dass die Ägypter noch in ihrer Stadt ausharren würden und sich die Herren besser zu Ruhe begeben, da keiner wisse, was der Morgen bringen würde.
Die Ägypter waren versprengt und angeschlagen, jedoch hatten beide Seiten Verluste erlitten und die unerträgliche Sommerhitze setzte den Kreuzfahrern weit mehr als den Einheimischen zu. Der Feldherr von Bouillon sinnierte über die Situation, die sie am nächsten Tag erwarten würde; die Tiere, die ihr in Relation gesehenes kleines Heer optisch untermalt und unterstützt hatten, die in ihrer Panik um sich geschlagen und Männer zu Boden gerissen hatten, die kein Ritter alleine hätte niederstrecken können – tot oder entflohen. Der Überraschungsmoment, der ihnen am frühen Morgen einen großen Vorteil eingebracht hatte – verpufft. Wie er es auch drehte und wendete, die einzige Chance war die Ungewissheit über die tatsächlich verbleibende Heeresstärke des Wesirs al-Afdal, dem Heerführer der Fatimiden. Man munkelte, er habe mit seinen Schiffen über Askalon bis zu fünfhunderttausend Mann vor die Tore der Festung gebracht, und Godefroys Gefolge stand in der ersten Schlacht lediglich zwanzigtausend kriegsgewandten Ägypten gegenüber, denen sie aber guten Schaden zufügen konnte. Was, wenn dies nur eine Vorhut gewesen war?
Der gute Mann sinnierte lange, auch über den weiteren Verbleib seiner tapferen Kreuzritter und der tausenden Fußsoldaten seines Heeres. Es war ihm noch nicht zugetragen worden, wie viele Brüder im Kampf gefallen sind und wie viele wegen ihre Wunden zu Gott beten mussten, damit ihnen nicht dasselbe Schicksal widerfahren würde. Sein Heer war malträtiert, zusammengestaucht und gestutzt, die Pferde waren obgleich der Last, die sie den Tag auf ihren Schultern tragen mussten, ausgelaugt und entkräftet. Viele Rüstungen hatten Beulen davongetragen, die ihre Träger zwar vor Schlimmerem schützten, aber nun von keinem Schmied geglättet werden konnten – da der Schmied in Jerusalem verblieben war, das ohnehin nur einen Tagesritt entfernt lag. Sie würden einen und Verstärkung anfordern müssen, sofern sich nicht in der Morgenröte für den gesammelten Rückzug entschieden werden sollte.
Raimunds Gedanken waren optimistischer als die seinen, das vermochte Godefroy mit Sicherheit zu wissen. Ihn irritierte der Anspruch seines Gefährten auf die Stadt, da sie ihm als Herrscher Jerusalems eher zustand. Raimund hatte die Krone abgelehnt. Pikiert dachte er darüber nach, wie er seinem Konkurrenten in der morgigen Fortsetzung zeigen würde, dass er der rechtmäßige Herr im Königreich Jerusalem und somit auch Askalon sei.
13. August 1099.
Der Tag brach mit einer Überraschung ihrerseits an – als die Männer den Ort überblickten, an dem am Abend noch hunderte Fatimiden in ihrem eigenen und dem Blut ihrer Gefährten lagen, so fanden sie ein leer geräumtes Feld vor sich. Lediglich zerborstene Lanzen und kaputte Pfeile bevölkerten den blutdurchtränkten Sandboden, die Tiere und die Leichen und auch die Fatimiden selbst waren verschwunden. Die Bedenken Godefroys hatten sich, gemeinsam mit den Ägyptern, auf und davon in die Wüste gemacht. Der Versuch, die Stadt einzunehmen, scheiterte jedoch am richtigen Belagerungsgerät. Ohne Belagerung konnten sie die Bewohner Askalons nicht zur Aufgabe zwingen und so beschlossen sie, die Vertreibung al-Afdals und seiner Truppen als Sieg mit nach Hause und nach Jerusalem zu tragen. Viele Kreuzfahrer sahen ihr Gelübde – das Heilige Land von den Muslimen zurückzuerobern – als erfüllt an und kehrten nach den Feiern um die gewonnene Schlacht nach Europa zurück. Andere verblieben in einem der neu gegründeten Staaten.
Die Schlacht vor den Toren Askalons war die letzte des ersten Kreuzzuges; aber keineswegs die letzte, die im Heiligen Land für die Christen geschlagen wurde.
Im Namen Gottes?
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