Saisonfinale
- 2014 / Runde zwei -
Informationen / Vote
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Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist es aufgrund der Berechnung der Gesamtpunkte mit der Formel wichtig, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Dazu findet ihr weiter unten eine Schablone, die ihr zum Voten nutzen könnt. Des Weiteren sind Sympathievotes sowie Votes für die eigene Abgabe unerlaubt. Begründungen sind keine Pflicht, aber können geschrieben werden, sofern man möchte (ihr könnt euch als Hilfe unser "How-to-vote-Topic" anschauen). Votes mit Begründungen erhalten Punkte in der Votetabelle. Informiert euch ebenfalls in unserem Informations- und Regeltopic der Saison 2014.
ZitatEure Aufgabe in der zweiten Runde besteht darin, eine kurze Geschichte zu verfassen, in der ihr Personen, Ereignisse oder Zustände verspottet oder anprangert. Kurz: schreibt eine Satire! Der Begriff konnte früher mit einer so genannten Spottdichtung gleichgesetzt werden, wird heute allerdings zumeist als ein "künstlerisch gestalteter Prosatext" bezeichnet. Wenn ihr weitere Informationen zur Satire erhalten wollt, so könnt ihr hier nachschauen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 07.12.2014, um 23:59 Uhr.
Ihr dürft 7 Punkte verteilen. Maximal 4 an eine Abgabe. Bitte achtet darauf, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Ihr müsst des Weiteren diese Punkte auf mindestens drei Abgaben verteilen.
Kori to Koki no Kyoku
"Das Lied von Eis und Feuer"
Die Sonne schien von einem leicht bewölkten Himmel auf die Region Kyoku herab. Ihre Strahlen vergoldeten die Qualmwolke, die aus dem aktiven Vulkan Futschi aufstieg, ebenso wie die Rauchfahnen aus den Schornsteinen der Stadt zu seinen Füßen. Die Landschaft ringsum prägte rotbraunes Geröll, das der Feuerberg vor Jahren ausgespien hatte, dazwischen gediehen verschiedene Sträucher und Kräuter.
Weit abseits der Randgebiete der Vulkanstadt stand eine einzelne Holzhütte, mehr schmal als breit und mit einer großen Fensteröffnung an der Front. Ein paar Pokémon aus der Umgebung standen davor Schlange, um eine Kugel von Deribis Eiscreme zu erstehen; der allseits berühmte Name prangte über der Theke neben der stilisierten Abbildung eines Gelatini.
Es herrschte Aufruhr, einige der Eiscremehungrigen begannen, sich unverrichteter Dinge zurückzuziehen. Keiner wollte den Zorn des Machomeis auf sich ziehen, das die Öffnung mit seinen vier muskulösen Armen komplett ausfüllte. „Du geben Kadur-Pastinake!“, grollte es und hämmerte mit der Faust gegen ein Holzbrett.
„Wie ich bereits sagte, hou, ist Kastadur-Pistazie leider ausverkauft“, versuchte Deribi, ein Botogelund der Ladenführer, dasKampfpokémon zu beschwichtigen. „Bitte, Kaito-san, komm morgen wieder –“
„Neee, heute!“, donnerte Kaito zur Antwort und wackelte mit seiner gewaltigen Kraft an der Hütte.
Deribi wurde in seiner eigenen Eisdiele herumgeworfen, rief verzweifelt: „Yuki-chan, tu doch was, hou!“
Das seit einigen Monaten angestellte Frosdedje überlegte bereits aus eigenem Antrieb, doch fiel ihr keine Lösung ein. Yukiko hielt sich fest am leeren Kastadur-Pistazieneisbottich im Hinterteil der Hütte, wo die Süßspeisen durch die Körperkälte der Eispokémon gekühlt wurden. Ihr Lieferant für die Pistazien war im Verzug; das Lieblingseis ihres labilsten Kunden hatten sie so nicht herstellen können. Das Mogelbaum-Hartholz, aus dem die Hütte gezimmert war, knirschte bedrohlich. Das isolierende, robuste Material widerstand selbst Feuer; doch wie es schien, würde es unter der Kraft des vierarmigen Trolls zerbrechen!
„Wir, hou, haben auch andere leckere Sorten zur, hou, Auswahl“, bot das Botogel atemlos an, als das induzierte Erdbeben endete. „Kikugi-Kirsch, Tropius-Banane, Flau– hoouuu!“ Als Kaito ihn am Kragen packte, unterbrach er seine Rezitation mit einem überraschten, langgezogenen Laut. Deribi schwebte auf Augenhöhe mit dem masochistischen Machomei.
„Du geben Kasstur-Pizzeria, oder ich kaputtenHütti!“ Das Kampfpokémon unterstrich seine Drohworte, indem es die Eisdiele erneut erschütterte, diesmal mit größerer Heftigkeit.
Dadurch drohten die Eisbottiche, aus ihrem Regal zu rutschen. Yukiko schaffte es, sie vor dem Sturz, der sie unweigerlich zerstören würde, zu bewahren. Gerade im letzten Moment rettete sie eines der Gefäße. Darauf abgebildet war ein Blattsymbol, das anzeigte, welche Eissorte sich in dem Fass befand. Das war die Idee!
Schnell setzte Yukiko ihren Einfall in die Tat um und hielt Kaito eine Eiswaffel samt Kugel unter die Nase. „Hou…“ Deribi sog scharf die Luft ein, als er an der gelbgrünen Farbe erkannte, dass es sich keineswegs um Pistazie handeln konnte. Doch es war grün, das mochte vielleicht helfen.
Der Troll ließ Deribi noch nicht los. Mit einer seiner oberen Hände nahm er das Waffelhorn an sich, beäugte das Eis. „Was das?“, fragte er dümmlich.
„Kastadur-Pistazie“, versicherte Yukiko schnell.
Das Machomei probierte, für seine Grobheit, erstaunlich vorsichtig. „Schmecken komisch.“ Er zog Deribigrollend an sich heran. „Warum schmecken komisch?“
„Das, hou, naja…“, stammelte das Botogel, fieberhaft nach einer Ausrede suchend.
„Eine neue Rezeptur!“, polterte Yukiko, um ihm zu Hilfe zu kommen. „Geht aufs Haus.“
Deribi nickte bekräftigend, brachte aber nur ein „Houhouu!“ zustande.
Wieder fuhr Kaito mit der Zunge über die Eiskugel. Er stieß dem Geschäftsführer den Finger in die Brust: „Morgen machen altesKaturtas-Pissoir, oder neue Sorte Bogel-Eis. Und ich machen Hütti futsch in Futschi!“ Damit gab er Deribi endlich frei, entfernte sich und ließ sich auf einem Vulkanstein nieder.
Als die Eispokémon erkannten, dass die Situation fürs Erste gerettet war, atmeten sie erleichtert auf; beim Botogel von einem gehauchten „Houuu …“, beim Frosdedje von einer Wolke winzigster Eiskristalle begleitet.
„Endivie-Minze, hou?“, fragte Deribi anerkennend. „Guter Einfall!“
Seine Angestellte lächelte matt, sah sich vor der Eisdiele um. Kaito hatte ihnen alle anderen Kunden vergrault. Ihr Blick fiel auf den Übeltäter, der mit mürrischer Miene sein Fake-Pistazieneis verspeiste. „Wieso mag er ausgerechnet das Eis mit dem schwierigsten Namen? Ein Wunder, dass er genug Hirnmasse hat, vier Arme unabhängig voneinander zu bewegen.“
„Bei nur zweien, hou,wärs schon ein Wunder“, kommentierte das Botogel.
„So sprechen Sie also von Ihrer Kundschaft hinter deren Rücken? Sehr unhöflich.“Die Stimme war vor der Theke erklungen. Dort stand ein Rutena, das eine halb berahmte Hornbrille auf der Nase und ein Klemmbrett in den Armen trug.
„Und Sie sind?“, wollte Yukiko säuerlich wissen.
„Mein Name ist Reina, Restaurantinspektorin.“ Um ihre Vorstellung zu unterstreichen, streckte sie ihre Visitenkarte vor.
„Wir sind kein Restaurant, hou“, korrigierte Deribi.
Das Rutena schob die Brille zurück, blätterte in den aufgeklemmten Papieren. „Nun, Ihre Eisdiele ist eindeutig als Schnellrestaurant gemeldet und fällt daher unter meinen Zuständigkeitsbereich.“ Sie wartete gar nicht auf eine weitere Erwiderung, sondern begann sogleich ihre Inspektion, indem sie die Eisdiele umrundete.
Als sie vorerst nicht zu sehen war, steckten dieEispokémon die Köpfe zusammen. Misstrauisch raunte Yukiko: „Könnte sie eine Spionin der Vulkanstadt sein? Vielleicht haben die Roster sie geschickt.“ Die Röster, wie die einflussreichste Zunft der Gegend hieß, machte seit Generationen Millionengeschäfte mit dem Verkauf gerösteterSamurzel-Nüsse und Sonnkern-Sonnenblumenkerne in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Dass Deribi mit seinem neuartigen Produkt zu unerwarteter Konkurrenz geworden war, war ihnen ein Dorn im Auge. Roster nannten Yukiko und Deribi sie, weil ihre Tradition längst überholt, daher eingerostet war.
Ein bläulicher Schimmer legte sich über die Botogel-Augen. „Glaube ich nicht. Die Roster sind listenreiche Intriganten und nicht dumm. Ein Feuerpokémon ist zu offensichtlich.“ Der Glanz verblasste. „Hou, gerade ein Rutena mit einem so, hou, einfallslosen Namen!“
Reina beendete ihre Runde um die Mogelbaum-Hartholzhütte, setzte eine Notiz auf ihr Klemmbrett. Sie schob die Eingangstür auf und machte Anstalten, einzutreten. Sogleich stellte sich Yukiko ihr in den Weg, deutete auf das Schild neben dem Eingang. Darauf stand Zutritt, darunter zwei nebeneinander liegende Kolonnen: für Unbefugte nicht gestattet und für Feuerpokémon strengstens verboten. Das Rutenawarf einen Blick darauf. „Soso“, meinte sie nur, kam dennoch herein. Yukiko musste vor der Gluthitze, die ihr Fell ausstrahlte, zurückweichen. „Ist das derselbe Rassismus, dem auch diese Becher entstammen?“ Sie nahm vom Stapel, der neben den Waffelhörnern stand, einen Pappbecher, drehte ihn prüfend. „Soweit ich informiert bin, servieren Sie Feuerpokémonnur in diesen Bechern.“
„Weil ihr Eis schneller schmil-“
„Ist hier auch ein Gelatini angestellt?“, unterbrach Reina Yukiko.
Der Geschäftsführer antwortete: „Nein, hou. Nur Yuki-chan und ich.“
Das Rutena schien nicht überrascht. „Aber das Maskottchen Ihrer Eisdiele ist ein Gelatini. Da erwartet ein Kunde doch, von einem Gelatini bedient zu werden.“
„Hohou“, kicherte Deribi. „Aber wir haben Gelatini-Joghurteis.“
„Das ist eine Eissorte“, präzisierte das Rutena, „und darf deswegen so heißen. Aber ein Gelatini als Maskottchen ist schwerer Identitätsdiebstahl.“ Die sprachlosen Blicke der Eispokémon ignorierend, deutete Reina sogleich auf eine kleine Pfütze, die sich auf der Theke gebildet hatte. „Feuchtigkeit ist eine ideale Voraussetzung für Keime. Die Hygiene hier ist sehr bedenklich.“ Wieder krickelte sie auf ihr Klemmbrett.
Yukiko konnte kaum glauben, was sie da hörte. Wenn die warme Außenluft durch die Fensteröffnung eintrat, schlug sie auf dem kalten Hartholz nieder. Das Kondenswasser gefror mit der Zeit undbildete Eisblumen. Diese entfernteYukiko nicht, weil sie für passendes frostiges Ambiente sorgten. Mit der Körperwärme des Rutena taute der Eisdekor nun. Yukiko schnaubte: „Das ist‘s doch gerade, warum Feuerpo-“, als Reina sie unvermittelt in die Brust piekte, verstummte sie überrascht. Schützend verschränkte sie die Arme. „Was soll denn das?!“, fragte sie ungehalten.
„Eine beneidenswerte Oberweite, meinen Glückwunsch“, meinte die Inspektorin.
Worauf wollte sie hinaus? „D-danke. Schätze ich.“
„Sehr ungewöhnlich für Frosdedje“, knüpfte Reina weiter, schielte an Yukiko vorbei zu Deribi, der hinter ihr stand. „Doch nicht etwa der Grund, aus dem Sie eingestellt wurden?“
„Was?“ Herablassend prustete Yukiko. „Was für ein Blödsinn. Nicht wahr, Deribi-sensei?“ Sie wandte sich um.
Ihr Arbeitgeber blickte verträumt grinsend an die Hüttendecke; ein Blutstropfen hing an seiner Schnabelspitze. „Hehehou…“, murmelte er verlegen.
„Stimmt es etwa?!“, polterte Yukiko, als sie sein Verhalten begriff. Wieder wurde das Botogel am Kragen gepackt.
Deribi zuckte erschrocken zusammen. „Hou! Yuki-chan, ich hab damals nur ge-houfft, dass dann mehr Kunden kommen, hou!“
„Das macht es nicht besser!“
Unbeobachtet drückte sich Reina an den Streithähnen vorbei zu den Eisbottichen. „Eine sehr… bescheidene Auswahl“, kommentierte sie die sechs Eissorten. Als sie das Fass mit dem Wolkensymbol öffnete und hineinblickte, ließ Yukiko vonDeribi ab. Die Inspektorin wollte wissen: „Welche Geschmacksrichtung ist das?“
Deribi trat vor, stemmte die Flügel in die breiten Hüften und erläuterte geschäftsmäßig, als wäre er eben nicht gewürgt worden: „Flauschling-Marshmallow, die Spezialität des Hauses, hou!“
„Wird diese Spezialität flüssig serviert?“ Reina tauchte einen Finger in das rettungslos geschmolzene Eis.
Was für eine Ignoranz! „Das ist‘s doch gerade, warum Feuerpokémon hier nicht reindürfen. Sie strahlen-“, vor Hitze wollte Yukiko sagen, doch erneut fuhr ihr das Rutena über den Mund:
„Mit Einschmeichelungen erreichen Sie keine bessere Bewertung.“
Deribi versuchte, Yukikos Aussage zu erklären: „Nein, hou, sie meinte, Sie sind heiß.“ Das Frosdedje schlug die Handfläche gegen die Stirn.
„Mit sexueller Belästigung erreichen Sie noch weniger!“ Wieder schrieb Reina etwas nieder; sie reagierte genauso, wie Yukiko es befürchtet hatte. „Nächster Punkt“, setzte das Rutena seine Inspektion ungerührt fort. „Die Zutaten. Was ist die Grundlage Ihrer Eiscreme?“
„Für Deribis Eiscreme gebrauchen wir, hou, beste Kuhmuh-Milch und kalt geschleuderten Wadribie-Honig.“ Der Geschäftsführer klang, als mache er Werbung für sein Produkt. Wie unglaublich naiv!
„Kuhmuh-Milch?“, wollte Reina genauer wissen. Als der Ladenbesitzer stolz nickte, informierte sie: „Kuhmuh-Milch ist ein geschützter Name. So darf sich nur die Milch einer bestimmten Farm in Johto nennen. Jede andere muss als Miltank-Milch ausgeschrieben werden. Wenn Sie sagen, hierbei handele es sich um Kuhmuh-Milch, muss sie also aus Johto eingeliefert werden. Das können Sie sich wohl kaum leisten!“
„Houu?“, machte Deribi niedergeschlagen. „Nein…“Er sah so elend aus, dass Yukiko ihren Zorn auf später verschob. Ihr Arbeitgeber stammte, wie sie aus Sinnoh, aus Johto, wo es nur eine Marke Miltank-Milch gab. Wahrscheinlich wusste er nicht, dass nur diese Milch den Beinamen Kuhmuh tragen durfte. Was Reina mit ihm tat, war einfach nicht gerecht!
„Jetzt passen Sie mal auf, Inspektorin!“ Sie schob sich an Deribi vorbei und baute sich vor Reina auf. „Ich weiß nicht, was das hier soll, und es ist mir auch egal. Aber wenn Sie meinen Sensei beleidigen, bekommen Sie es mit mir zu tun!“
Unbeeindruckt sagte Reina: „Wollen Sie damit andeuten, dass Sie mich herausfordern? Ein Eispokémon gegen ein Feuerpokémon?“ Sie lachte höhnisch.
„Was ich damit andeuten will“, griff Yukiko das Stichwort auf, „ist, dass ich unter acht Brüdern aufgewachsen bin, die sich alle zu Firnontoren weiterentwickelt haben. Ich weiß genau, wie es ist, für die Schwächere gehalten zu werden. Ich lasse mich nicht einschüchtern von einem zweibeinigen…“
„Hou?“, machte Deribi hinter ihr verwundert.
„…aufgeblasenen…“
„Hou?!“ Deribi versuchte, das Frosdedje am Weitersprechen zu hindern.
„…bestutztenVulnona!“
Deribi legte die Flügel auf den Schnabel, als habe er die beleidigenden Worte selbst gesprochen. „Hou…“, resignierte er.
Das Gesicht des Feuerpokémon zeigte keine Regung,außer einer verächtlich hochgezogenen Augenbraue.
Im nächsten Moment schleuderte eine violettrote Flammenwalze die Eispokémon aus der Hütte. Benommen versuchte Yukiko, sich vom Vulkanboden aufzurappeln. „Sensei“, keuchte sie. „Deribi-sensei, ich bekomme keine Luft…“ Sie schob das halb bewusstlose Botogel von sich runter und atmete einmal tief durch. Was war passiert?
Reina trat aus der Eisdiele, steckte den von der Feuerattacke noch immer rauchenden Ast in den Schweif zurück. Sie schwang einen klobigen Holzstempel und presste ihn neben das Verbotsschild. Ein rotes, eingekreistes Kanji blieb zurück, das abreißen befahl. Dann ging die Inspektorin zu den geschlagenen Eispokémon herüber, drückte auch ihnen den Stempel auf den Kopf.
Yukiko rieb sich die schmerzende Stelle und blickte zu Deribi rüber. „Abschieben“, las sie vor. Noch immer etwas schwindlig fragte sie: „Wieso denn abschieben?“
Mit ruhiger, sachlicher Stimme erwiderte Reina: „Sie stammen beide nicht aus Kyoku, und Ihr Arbeitsvisum ist nur so lange gültig, wie Sie arbeiten. Ohne die Eisdiele haben Sie nachweislich keine berufliche Tätigkeit. Bis zum Monatsende müssen Sie in Ihre Heimatregionen zurückkehren.“ Gnadenlos ließ sie die beiden in ihrem Entsetzen allein.
Kaito saß noch immer auf seinem Stein, saugte von unten den Rest Minzeeis aus der Waffel. „Verzeihen Sie, wollen Sie sich ein paar Moneten verdienen?“, bot sie dem Machomeieine Handvoll Geldmünzen an.
Kaito beäugte den dargebotenen Betrag. „Momente immer gut. Was ich machen?“ Er verschlang das Waffelhörnchen komplett und folgte Reina. Das Rutena trug ihm auf, sich die Hütte aufzuladen und fortzuschaffen. Hilflos mussten Yukiko und Deribi mitansehen, wie das Machomei ihre kleine Eisdiele mühelos anhob, sich mit Reina auf den Weg zur Vulkanstadt machte. Als sie den Hügelkamm erreichten, hinter dem die Häuseransammlung lag, wandte die Inspektorin sich um. Sie zog mit dem Finger ein Augenlid runter und streckte ihnen die Zunge raus. Schadenfreudig grinsend hopste sie die andere Seite des Hügels hinab.
„Sie ist doch eineRosterin!“, rief Yukiko wütend aus und wollte hinterher. „Dieses doppelte Spielchen wird sie mir büßen!“
Deribi hielt sie zurück. „Lass sie ziehen“, sagte er ernst. Überrascht sah seine Angestellte zu ihm runter. In seinen Augen lag ein bläulicher Schimmer. „Sie mögen diese Schlacht gewonnen haben, doch der Krieg ist noch lange nicht entschieden!“ Der seiner Arbeitsgrundlage beraubte Ladenführer mochte zumeist tollpatschig und unbedarft wirken; doch wenn er diesen Schimmer in den Augen hatte, klang er wie ein Samurai aus dem alten Kanto. Yukiko fand diese Anwandlungen bisweilen beunruhigend.
Doch ebenso plötzlich, wie sie über Deribi gekommen war, verschwand sie auch wieder. „Außerdem, Yuki-chan, hou“, begann er, griff nach ihren Händen, „werde ich niemals zulassen, hou, dass man uns trennt! Du bist doch mein Nordstern, hou!“
Gerührt lächelte das Frosdedje. „Sensei, du alter Schmeichler! Ich will auch nicht von dir getrennt werden.“
„Hou, Yuki-chan!“, schwärmte das Botogel.
„Deribi-sensei“, antwortete Yukiko mit demselben Tonfall. Ihrer beider Augen leuchteten, Schneekristalle glänzten darin wie Sterne.
Doch plötzlich bemerkte Yukiko, wohin Deribi seine Augen gerichtet hatte: Etwas abwärts ihres Gesichts auf die Körperregion, die sie von den meisten anderen Frosdedje unterschied. Ihre Schneekristalle schmolzen dahin, eine Zornesader bildete sich auf ihrer Stirn. „Sensei“, sagte sie dunkel. „Doch nicht etwa wegen denen?!“ Mit einem Ruck entzog sie dem geschockten Deribi ihre Hände. Das Botogel erkannte ihre Wut, zuckte zurück und suchte das Weite. „So leicht kommst du mir nicht davon!“, rief Yukiko, flog ihm hinterher, schleuderte Spukbälle auf ihn.
Deribi lief panisch davon, Beteuerungen stammelnd, dass er nur das Beste für sein Geschäft gewollt habe, immer wieder unterbrochen durch ein „Hou!“, wenn ein Ball ihn traf.
Als sie außer Sichtweite der Stelle waren, an der die Hartholzhütte gestanden hatte, entbrannte an einem unpassend grauen Gesteinsbrocken eine kleine Flamme. Lava floss aus einer Höhlung, nahm unförmige Gestalt an. Ein ovaler Kopf erschien, über dem zwei gelbe Stielaugen schwebten. Das Magcargo steckte sich eine Zigarre in den Mund, entzündet an der eigenen Gehäuseflamme, grinste verschlagen. Erwartungsvoll rieb es die Lavatropfen links und rechts des Mundes wie Hände aneinander. „Dann läuft ja alles nach Plan“, jubilierte es. Mit bösartigem Lachen schlug es, wenngleich viel langsamer, dieselbe Richtung ein, die auch Reina gegangen war.
Es hörte auf, ehe es begann
Lyrics: Wenn eine Hoffnung stirbt (Peter Maffay)
Die Sonne steht so tief
und sie wärmt nicht mehr.
Den Namen, den ich rief,
hörst du längst nicht mehr.
Mich binden die Gedanken an;
es hörte auf, ehe es begann.
Enton ist ein dummes Pokémon. Der Autor ist sogar geneigt zu behaupten: das dümmste Pokémon, das es gibt; doch in Anbetracht der Heerscharen von Rattfratz und anderen Taschenmonstern mit verschwindend geringen Level, die nicht einmal dann Reißaus nehmen würden, sollten sie einem ausgewachsenen Level-100-Metagross gegenüberstehen, ist selbst er sich nicht ganz sicher.
Fakt ist aber immerhin, dass Enton zumindest ein sehr, sehr dummes Pokémon ist. So wie Menki intrigant und Enekoro eigenwillig sind, so ist es nun einmal das Naturell eines Enton, nicht viel von der Welt zu verstehen. Was allerdings nicht bedeutet, dass es nicht auch gute Vorsätze haben kann, ganz im Gegenteil. Das Exemplar, um das sich diese Geschichte dreht, hatte zum Beispiel ein außerordentlich gutes und vor allem ehrenwertes Ziel, das es anstrebte. Dass es dieses jedoch nicht einmal im Ansatz erreichen konnte (aber hey, »Der Weg ist das Ziel«, so heißt es doch), ist, nun ja … von vornerein anzunehmen; weswegen der Autor sich auch nicht damit zurückhält, dem geneigten Leser diese Information noch ein weiteres Mal ausdrücklich um die Lauscher zu knallen:
DIESE GESCHICHTE GEHT NICHT GUT AUS!!!
Oder mit Verweis auf den Titel und deutlich subtiler ausgedrückt: Der Traum dieses armen, dummen Enton wurde in tausend Scherben zerbrochen, noch ehe er die Möglichkeit bekam, zur Realität werden zu können. Shit happens.
Unsere Geschichte – oder vielmehr die unseres dummen Enton – beginnt an einem sonnigen Morgen, an irgendeinem Tag in der Woche, auf die in der Pokémon-Welt aber sowieso keiner Wert legt. Wir befinden uns in der Nähe von Schatzstadt, einem kleinen Örtchen voller friedlich nebeneinander dahinlebender Pokémon, denen es augenscheinlich nicht in den Kopf gehen mag, dass ebenjene Koexistenz mehr als nur fragwürdig ist. Ganz ehrlich, welches Magnayen würde beim Anblick eines saftigen Voltilamm nicht in Versuchung geraten, ebenjenes zu verschlingen? … Ganz richtig, keines! Außer jenen in Schatzstadt, wie es zumindest nach außen hin wirkt; denn dort leben Ursaring neben Vulpix, Blitza neben Togetic, und keiner scheint sich des üppigen Festmahls vor seinen Augen gewahr zu sein (wobei der Autor eher die Meinung vertritt, dass die Pokémon hier lediglich zu zahlreich sind und es somit kaum jemandem auffällt, wenn es plötzlich ein, zwei Feurigel weniger gibt).
In dieser Gegend also beginnt die Geschichte unseres Enton; das selbstverständlich keinen Namen hat, immerhin ist es – wenn auch Mittelpunkt unserer Geschichte – doch kein Protagonist, nicht dazu auserwählt, die Welt vor dem Bösen zu erretten, und darf sich somit auch nicht einer epischen Selbstbetitelung à la Sapphire oder Wasserwind (oder was dergleichen Alpträume es da draußen noch geben mag) erfreuen. Begnügen wir uns also damit, es als Enton zu bezeichnen …
… Und ebenjenes Enton hatte ein Problem. Nicht, dass es jemals wirklich gewusst hätte, was ein Problem überhaupt ist (denn dazu hätte es dieses komplizierte Wort überhaupt erst einmal kennen müssen); aber es war sich, während es am Strande von Schatzstadt saß und gedankenverloren (was wörtlich zu nehmen ist) auf das Meer hinaus starrte, doch der Tatsache bewusst, dass es etwas störte.
Sein Blick streifte den Horizont und vor seinem inneren Auge erschien, was nur wenige Stunden zuvor geschehen war:
Das arme, verlorene Voltilamm blickte sich ängstlich nach einer Fluchtmöglichkeit um, während die wilden Pokémon um es herum – die allesamt böse und durch das Leben und Herumirren in den sogenannten Mystery Dungeons wahnsinnig geworden waren – das unschuldige Wesen hungrig begutachteten. Sie alle hatten seit Tagen, ja Wochen kein Fleisch mehr gehabt, und der Äpfel, die sich überall finden ließen und für Außenstehende schmackhaft sein mögen, waren sie längst überdrüssig geworden. Nun aber hatte sich jenes Voltilamm in ihre Reihen verirrt, ohne Zweifel mit dem Ziel, einen ihm zugeteilten Auftrag oder Ähnliches zu erledigen; und die Zeit ihres Festmahles war endlich gekommen. Ausgehungert bleckten Voltenso, Arkani und all jene anderen Pokémon, die sich in den Tiefen dieses Mystery Dungeons verloren hatten, hinab auf das wehrlose Voltilamm, welches sich längst zu einer Kugel zusammengerollt hatte, in der Hoffnung, letzten Endes vielleicht doch noch verschont zu werden. Die Wesen des Verlieses aber, ausgezehrt und begierig auf das frische Fleisch vor ihnen, war nichts ferner gelegen, als diese saftige Beute entkommen zu lassen; und so zog sich der Kreis um das arme Wesen, kauernd und bangend, immer enger, bis es schließlich nicht mehr zu sehen war …
Mit einem verzweifelten Hilferuf kamen die Bilder vor seinem inneren Auge zu einem Ende, und schaudernd wandte das Enton den Blick von dem in der Ferne liegenden Horizont ab. Zu gerne hätte es diese unliebsame Szene aus seinen Erinnerungen gestrichen – doch als wäre es Schicksal, brannten sich die Bilder des von hungrigen Pokémon umstellten Voltilamm immer tiefer in seine Gedanken hinein. Wo es doch sonst niemals Schwierigkeiten gehabt hatte, Dinge zu verdrängen (um ehrlich zu sein, es weniger ein Talent als vielmehr natürlich; denn jeder weiß, dass das Hirn eines Enton bei weitem nicht genügend Kapazität aufweist, um vielmehr abzuspeichern als die allernötigsten Überlebensinstinkte), ließ es nun das Erlebte nicht mehr los; und während es das Geschehnis noch einmal durchlebte, da war ihm, als würden die Wolken über seinem Kopf und das Meer zu seinen Füßen sich zu kräuseln beginnen und das Schicksal zu ihm sprechen …
Was mir den Atem nimmt
ist ein Schuldgefühl;
ich weiß, dass das nicht stimmt,
doch das hilft nicht viel.
Und alles ringsumher bleibt stumm –
es bleibt zum Schluss nur noch Warum?
Und um dem Leser weitere Sinnkrisen und Gedanken(ver)läufe dieses dummen Enton zu ersparen –diese zogen sich bis weit in den nächsten Tag hinein, woraufhin eine ganze Woche der hin und her schwankenden Unentschlossenheit folgte, die wiederum am Strand von Schatzstadt in einer eintägigen Selbstfindung endete … Um also den vorgegebenen Rahmen von zweitausendfünfhundert Worten nicht zu sprengen sowie das Gemüt des Lesers nicht allzu sehr zu langweilen, hier die Kurzfassung:
Das Enton beschloss, ein Erkunder zu werden, um fortan Pokémon in Not zu helfen. Wie es zu diesem für ein Enton wahnwitzigen Entschluss kam (denn wie überall in der Pokémon-Welt bekannt, sind Enton prädestiniert dafür, vorzeitig ins Gras zu beißen oder zumindest auf ewig in irgendeiner labyrinthartigen Höhle zu versauern), darauf wollen wir an dieser Stelle gar nicht genauer drauf eingehen. Da ebendieses Enton nämlich noch immer kein Protagonist ist und auch niemals einer sein wird (zumindest nicht in dieser Geschichte), hat es somit auch keinerlei Anrecht auf eine ausgearbeitete Hintergrundgeschichte; es kann schon froh darüber sein, dass solch eine vom Autor überhaupt angedeutet wird (und seit es nur mit der Andeutung einer Andeutung).
Wie auch immer … Das dumme Enton fasste also den komplett wahnsinnigen und lebensmüden Plan, Erkunder zu werden; und wo kann man zu jeder Zeit in der Pokémon-Welt am leichtesten diesem Traum frönen und die damit verbundenen Ziele wie Ruhm und Anerkennung erreichen? … Ganz genau: in einer Gilde. So machte sich unser Nicht-Protagonist sodann noch am gleichen Morgen, wo es seinen Entschluss gefasst hatte, auf zu der in Schatzstadt residierenden Erkundungs- und Retterteam-Gilde – die damals jedoch noch nicht von dem allseits beliebten (wobei der Autor hier ganz sicher nicht für sich selbst spricht) Knuddeluff angeführt wurde, sondern von einem schäbig aussehenden, nimmer satten Magnayen.
Dieses Magnayen war ein unangenehmer Zeitgenosse: stinkend bis zum Himmel und darüber hinaus, mit blutunterlaufenden Augen, verbraucht trotz seiner jungen Jahre, wirkte es auf den ersten Blick vielmehr wie ein heimatloses, von Omot zerfressendes Pokémon, das sich – vagabundierend und nach Almosen bettelnd – durch sein armseliges Leben schlug. Der Gildenanführer Magnayen aber war aus besonderem Holz geschnitzt, bösartig bis aufs Blut und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Mit für ein Magnayen erstaunlicher List und Tücke hatte es sich den so begehrten Posten des Anführers der Gilde von Schatzstadt gekrallt, und wenngleich heruntergekommen wirkend, hatte es doch von klein auf gelernt, dass nur der Stärkere in einer Welt wie dieser würde überleben können. … Und, nun ja, wie soll der Autor dies am besten formulieren: Magnayen war der stärkste.
Zu ebenjenem Magnyaen also war das dumme Enton an dem Morgen, der sein Leben verändern sollte (es aber letztendlich nicht tat; der Autor verweist hier noch einmal auf den Titel) auf dem Weg, und ebenjenes Magnayen empfing unseren Nicht-Helden in seinem Kabuff, dem Heiligtum im Inneren des Gildengebäudes. Auf dicken, zerfetzten Kissen hockend, das verfilzte Fell aschgrau vom Dreck dieser Welt, betrachtete es das Pokémon, welches watschelnden Schrittes und mit vor Dummheit glänzenden Augen sein Reich betrat, voller Argwohn. Hatte er, sogleich die Kunde eines nahenden Besuchers zu ihm getragen worden war, schon ein saftiges Feurigel oder gar Togetic erwartet, verdarb ihm der Anblick dieses Zeitgenossens, schlammgelb und so unsäglich minderbemittelt, dass selbst seine Anwesenheit schon Kopfschmerzen hervorrief, doch sogleich den Appetit. Sein immerwährend nach Nahrung lechzender Magen verstummte ob dieses Wesens, das verloren zu ihm aufschaute, und kurz war das Magnayen versucht, es wieder fortschicken zu lassen, um weiter seinen Tagträumen eines fetten Bratens frönen zu können – aber genau in diesem Moment, da jener Gedanke sich zu entfalten begann … Ja, da begann das Enton zu sprechen.
»Erkunder werden.«
Einen Atemzug lang war das Magnayen verwirrt, ja wie vor den Kopf geschlagen; noch nie hatte es ein Enton sprechen gehört und insgeheim stets bezweifelt, dass sich jene erbarmungswürdigen Pokémon überhaupt mitteilen konnten. Nun aber stand ein Angehöriger dieser Art vor ihm, zweifellos ebenso dumm wie seine Brüder und Schwestern – und es redete!
»Erkunder werden!«, wiederholte das Enton da noch einmal, dieses Mal mit Nachdruck, nachdem das Magnayen es einige Sekunden lang nur sprachlos angestarrt hatte. Irgendwo in seinem Gehirn kreisten diese Worte, dieser Entschluss, den es Stunden zuvor am Strand gefasst hatte, hervorgerufen durch jenes Erlebnis in dem Mystery Dungeon, wo es dem armen, unschuldigen Voltilamm nicht hatte helfen können. Und wie es da in dieser kleinen Kammer stand, abgestandene Luft atmend und zu dem Wesen aufblickend, das zwischen ihm und seinem Ziel stand, verfestigten sich diese Worte, wurden wie zu Fleisch und zu Blut – und es wich die zuvor noch schwache Ahnung, sein Schicksal gefunden zu haben, der tiefen Gewissheit, dass ebendies sein Lebenssinn sein würde.
»Ich will Erkunder werden.« Ein Blick aus dummen Augen, die jedoch plötzlich zu leuchten schienen.
»Erkunder?« Ein Blick in jene dummen Augen, in denen sich plötzlich so viel mehr befand als nur die Dummheit.
»Ja.« Pause. »Erkunder.« Ein Blinzeln. »Das will ich werden.«
Ungläubiges Schweigen.
So oder so ungefähr zog sich die Konversation zwischen dem dummen Enton und dem nimmer satten Magnayen viele Stunden lang hin; aber nicht etwa, weil das Magnayen unseren Nicht-Protagonisten von seiner Entscheidung abbringen wollte, sondern vielmehr, weil es fasziniert war von dem Mut und der Entschlossenheit, die dieses Enton zeigte. Es hatte noch nicht viele Begegnungen mit Vertretern dieser Art gehabt, allerdings aus allen eines mit Sicherheit gelernt: Mit Enton kann man keine vernünftigen Gespräche führen (und will es auch meistens gar nicht). Und doch, dieses Exemplar war anders.
Bis in den Abend hinein unterhielten sich die beiden Pokémon, das eine anfangs verunsichert, dann neugierig, das andere mehr und mehr an Worten und Wissen gewinnend. Und als schließlich zum Abendessen gerufen wurde und das Gespräch allmählich seinem Ende entgegen ging … Nun, dann fing diese Geschichte WIRKLICH an.
In die Kammer das Magnayen traten zwei Fiffyen und brachten ein – selbstverständlich lebendiges – Voltilamm als Mahl.
Der geneigte Leser wird jetzt sicherlich verdutzt mit den Augen klimpern (oder auch nicht, was dem Autor jedoch herzlich wenig am Herzen liegt) und sich fragen: DAS Voltilamm?! Und um dieses ganze Hin und Her und diese Scharade an Gefühlsduselei endlich einmal zu beenden: ja, DAS Voltilamm. Genau DAS.
Mit den Umständen, wie genau es nun dazu gekommen war, dass dieses Voltilamm den hungrigen Mäulern der Voltenso und Arkani sowie sämtlichen anderen Pokémon entrinnen konnte, um nun als abendliche Mahlzeit zu dienen, soll sich an dieser Stelle gar nicht aufgehalten werden. Wichtig ist nur zu wissen, dass es nun einmal da war – und dass das nimmer satte Magnayen inzwischen einen beträchtlichen Hunger entwickelt hatte.
Und so kam es, dass Magnayen der Gildenmeister vor den Augen des dummen Enton ebendessen Träume innerhalb eines Atemzuges zunichtemachte: Noch bevor irgendjemand (selbst der Autor, so muss er voller Buße zugeben, hat dies nicht kommen sehen und es somit auch nicht verhindern können) reagieren konnte, hatte es sich bereits auf das unschuldige, wehrlose Voltilamm gestürzt und es mit einem einzigen Bissen verschlungen.
Wenn alles sinnlos scheint,
das Leben ist dein größter Feind;
dann hilft dir auch nicht einmal
mehr die Zeit … auch nicht die Zeit.
Und alles ringsumher ist stumm –
es bleibt zum Schluss nur noch Warum?
In einer Welt, wo nur das Recht des Stärkeren gilt und Schwäche mit dem Tod oder in endloser, purer Verzweiflung endet, ist kein Platz für Pokémon wie das dumme Enton. Mögen sie auch für einen kurzen Moment lang des Gefühls gewahr werden, das Schicksal würde es zur Abwechslung einmal gut mit ihnen meinen – letzten Endes müssen sie doch früher oder später alle der Realität in die erbarmungslosen, kalten Augen blicken und erkennen, dass sie schlicht und ergreifend nicht stark genug sind, um in solch einer Welt bestehen zu können.
Diese Erfahrung hatte auch das Enton zu machen, in dem Augenblick, da das ewig hungrige, vollends bösartige Magnayen (mag der Leser kurz geglaubt haben, es würde so etwas wie Mitgefühl empfinden können, so muss er an dieser Stelle bitterlich enttäuscht werden) das hilflose Voltilamm verspeiste. Mit zerstörtem Weltbild floh unser Noch-immer-nicht-Protagonist aus dem Kabuff des Magnayen, stürzte aus der Erkunder- und Rettungsgilde und verlangsamte erst dann seinen Lauf, als es wieder dort angelangt war, wo all dieser Mist überhaupt begonnen hatte, Gestalt anzunehmen: an den Strand von Schatzstadt (und all jenen, die erwartet hatten, es würde in den Mystery Dungeon, zum Ort des ursprünglichen Geschehens fliehen, sei an dieser Stelle noch einmal ans Herz gelegt, dass Enton nach wie vor äußerst dumme Pokémon sind; von ihnen zu verlangen, sich an einen Ort zu erinnern, den sie vor mehr als einer Woche besucht haben, ist also nicht nur anmaßend, sondern ebenfalls eine ganz eigene Form von Dummheit).
Hier auf jeden Fall ließ das dumme Enton schließlich seinen Gefühlen, seinen Tränen und seiner Wut freien Lauf, schlug auf den Sand ein (was, wie man sich recht leicht vorstellen kann, doch ziemlich ergebnislos war) und verfluchte schließlich das Schicksal mit den ihm noch verbliebenen Worten, die wirr seine Gedanken kreuzten und nach einer Ausflucht suchten:
»Schicksal! Warum?!«
Und der Autor antwortete, indem er vollständig die vierte Wand durchbrach: Weil ich es kann.
Sardinengefühle
„Die Sardine, auch Atlantische oder Europäische Sardine genannt, ist die einzige Art der Gattung Sardina in der Familie der Heringe. Sie ist ein bedeutender Speisefisch“, zitierte ich gerade von der ersten Seite, die mir Google ausspuckte, um meiner Freundin eine wissenschaftlich hochwertige Einführung in ihr morgiges Referatsthema zu geben. Währenddessen war sie gedanklich vollkommen in ihrer braunen Lederhandtasche versunken - genauso wie ihr Smartphone, welches sie darin verzweifelt suchte. Gelassen warf ich einen Blick hinter meinen Rücken, doch bis auf einen Lastwagen konnte ich nichts erkennen.
„Beeilung, der Bus kommt jeden Augenblick!“, rief mir Julia hektisch zu, obwohl sie direkt neben mir so zügig lief, wie es die hohen Schuhe ermöglichten. Ihre grüngrauen Augen wandte sie dabei nicht von ihrem Lieblingsaccessoire ab und das lange, blonde Haar hüpfte im Takt der Musik, die ich durch meine schwarzen In-Ear-Kopfhörer konsumierte. Statt literarisch wertvolle Bücher zu verschlingen und Kafka zu vergöttern, wie es sich wohl mancher Dozent von seinen Studenten erhoffte, ließ ich mir vor Vorlesungsbeginn lieber mit angemessener Musik aus dem deutschen Rap die Laune erheitern. In der Zwischenzeit fuhr der Bus unbemerkt im gemächlichen Tempo hinter dem Lastwagen direkt an uns vorbei; meine Freundin beschleunigte plötzlich ihren Schritt.
„Paul!“, schrie Julia mir zurückblickend entgegen, als das öffentliche Verkehrsmittel bereits an der Haltestelle angekommen war. Ich fuhr mir kurz durch meine gestylten Haare, kramte meinen Studentenausweis aus der Tasche meiner dunkelblauen Jeans und sprintete zur Tür, die sich hinter meiner Freundin schon schloss. Der Busfahrer hatte erstaunlicherweise das Verständnis, auf einen Lahmarsch wie mich zu warten – eine Seltenheit, welche man mit der eines Shinys in meinen geliebten Pokémonspielen vergleichen konnte.
„Entschuldigung, ich möchte hier aussteigen“, hauchte eine ältere Dame in einen Teil der Menge, welche wie wir im Gang stehen, sich an die Scheibe quetschen und im Rondell des Ziehharmonikabusses schwungvoll in die Kurve oder alternativ auf die Nase legen musste. Nachdem wir zusammen mit ein paar Studenten, welche man zum Beispiel am Dreitagebart und den Augenringen identifizieren konnte, für eine Weile ausgestiegen waren, um Platz zu schaffen, stürzten wir uns wieder in das Gefährt, bevor noch die an der Haltestelle wartenden Kommilitonen diesen Moment der Schwäche ausnutzten. Wenn man Pech hatte, wurde einem das bereits erkämpfte Fleckchen im Bus dabei wieder genommen. Es ging uns allen um das nackte Ankommen an der Universität, ohne lange in der Kälte stehen zu müssen.
Julia starrte mich nach dem Anfahren mit einem empörten Gesichtsausdruck an. Ich trug mal wieder meine schwarze Umhängetasche vor der Brust, sodass ich ein wenig Freiraum in dieser Sardinenbüchse bewahren konnte. Bis auf ihrer Wenigkeit ist dies niemandem aufgefallen; nicht einmal dem Fahrer, der an jedem zweiten Halt sein Fahrzeug von vorne bis hinten nach Platz für einen weiteren Gast absuchte oder einen solchen herausbat, sofern sich die Türen nicht mehr schlossen. Während ich mich weiterhin den Schlägen auf meinem Trommelfeld widmete, missbrauchte meine Freundin die verschmutzte Glasscheibe als Spiegel, um von einem Pickel sehr seltsamer Art erschrocken zu werden. Diese Gesichtsentgleisung amüsierte mich und zum Glück nahm sie es mit Humor, als ich mich noch zu ihr beugte und mit dem Finger darauf zeigte. Wir liebten uns nur freitags nicht; an dem Tag wurde uns stets bewusst, wie wenig Zeit wir miteinander verbrachten, da wir uns ausnahmsweise Stunden im Unterricht und in der Mensa auf die Pelle rückten.
An der Universität angekommen schaute ich in die bereits wartende Welle an Studenten, welche sich nach uns in diesen Bus hineindrängen würden, damit sie nach ihren viel zu früh für ihre Gattung liegenden Veranstaltungen schnell wieder ins Bett zurückkehren konnten. In der Zwischenzeit quälten Julia und ich uns durch den schlammigen Waldweg direkt dorthin, wo jene hergekommen waren. Der Matsch benetzte unsere Sportschuhe, wobei es nicht lohnte, diese vor Wochenende zu reinigen, denn der Weg war jeden Tag derselbe. Doch noch mehr als dieser Trampelpfad konnte die Suche nach Sitzgelegenheiten im Saal frustrieren. Der Boden bot sich allerdings immer zur Not an.
Die Luft stand, wir saßen, und ich wünschte mir gegen Ende der Vorlesung, dass es andersherum wäre. Die Tür schien sich mir zu nähern, gedanklich griff ich schon nach dem Knauf, aber anstelle eines klackenden Geräusches hörte ich nur das Knirschen der Plätze - ausgelöst durch angesetztes Sitzfleisch -, das mich aus der mentalen Abwesenheit riss. Ich blickte wieder nach vorn und der Hörsaal bebte förmlich vor Aufregung. Vielleicht lag es jedoch am Wippen meiner Beine, das Langeweile bekämpfen sollte, jedoch stattdessen die Kaugummiverpackung weiter in den Boden eingravierte.
„Das Thema ist heute besonders interessant für Sie, meine Damen und Herren“, pries die Professorin erneut mit ihren wiederholenden Worten an, während das Mikrofon mal wieder neben der Wasserfalsche abgelegt und vergessen worden war. So hörten die hinteren Reihen auch stets das, was sie dort hören mochten: gar nichts. Julia schmiegte sich heute etwas an meinen grünen Pullover, positionierte ihre Hand auf den Ärmeln, die ich mir bis zum Ellenbogen hochzog, sodass sie mich nicht am Mitschreiben störten, sofern denn irgendetwas von dem Geschwafel der Dozentin dafür würdig gewesen wäre.
„Wir wollen am Samstag in den neuen Club am Bahnhof, kommen wir beide dort mit?“, fragte meine Freundin mit weit geöffneten Augen im vollen Bewusstsein, dass sie mir damit erschwerte abzulehnen. Ich durchwühlte meine Datenbank nach Ausreden oder möglichen Terminen, denen ich eigentlich schon abgesagt hatte, aber ich musste resignieren.
„Jo, könnten wir machen“, erwiderte ich vorsichtig und schaute dabei ihn die grinsenden Gesichter unserer Freunde. Sie wussten alle, wie hochgradig interessiert ich an solchen Experimenten war. Diese Schweine lockten mich jedes Mal von Spielekonsolen und meinem Computer.
Gedanklich bin ich jedoch ohnehin schon längst in deren Welt versunken, wobei mir während diesem zum Gähnen langweiligen Vortrag noch eine wesentlich bessere Idee in den Sinn gekommen war: Paul, verfasse doch mal einen Text, in welchem du den Menschen, denen dies sicherlich auch interessiert, von diesem elenden Montag berichtest. Ich wünschte mir in diesem Moment schon das Ende der Woche herbei, da er sicherlich bis dahin vollendet wäre. Würde ich meine Leser genauso ermüden wie meine Professorin oder könnten sie mich für diesen alltäglichen Wahnsinn gar auslachen?
„Weißt du, heute im Bus musste ich zwangsläufig an eine Sardinenbüchse denken. Sardinengefühle, das wäre doch der perfekte Titel für einen Text, oder?“, sagte ich zu Julia, die eine Mine verzog, welche ihre Hoffnung ausdrückte, dass nicht noch weitere diese Worte gehört hatten. Für einen Moment öffnete sich ihr Mund, ihre Augen blinzelten kurz und sie antwortete: „Was geht heute eigentlich mit dir?“
„Ich weiß es auch nicht, vielleicht ist es mir nur zu eng und die Luft zu dünn hier.“
Kein Meer mehr oder mehr Meer?
Als sie nun vor der Urzeithöhle steht, die sengend heiße Sonne blendend hell über der weißen Stadt Xeneroville, drängt sich dem Mädchen ein Gedanke auf, den es schon eine Weile lang gehegt hat, der jedoch bis dato von anderen, wichtigeren Dingen – wie etwa die Reporter von Trainer aktuell es haben wagen können, den Namen ihres Knilz' – in den Hintergrund gedrängt worden sind. Das Schicksal der gesamten Hoenn-Region und eventuell auch des Restes der Welt steht auf Messers Schneide, doch wäre das alles nicht passiert, wenn Team Magma diesen wahnwitzigen Plan gar nicht erst in die Tat umgesetzt hätte. Man sollte doch meinen, dass ein erwachsener, kluger Mann wie Marc die Schattenseite seines Planes hätte sehen können, aber Fehlanzeige.
Und so betritt sie die Höhle, in der sie einem wildgewordenen Groudon gegenübertreten und es einige Minuten lang ehrfürchtig anstarren wird, nur um es dann innerhalb von Sekunden ohne Probleme mit einem Meisterball einzufangen, mit nur einer Frage im Kopf: warum?
Unsere namenlose Protagonistin wird allerdings nie erfahren, dass die Antwort gar nicht mal so komplex ist, wie man es erwarten würde.
Es ereignete sich vor gar nicht allzu langer Zeit (um genau zu sein war es vor etwa fünfundzwanzig Jahren, was zwar nicht als kurzer Zeitraum zu bezeichnen ist, aber auch noch nicht als so langer, um die Bezeichnung ›vor langer Zeit‹ zu rechtfertigen), dass ein Junge namens Marc aus Graphitport City sich dachte, die Welt sei ohne Meer viel besser dran.
Es war nur verständlich, wenn man darüber nachdenkt; immerhin war er zu jenem Zeitpunkt nie aus Graphitport herausgekommen und da kann man nachvollziehen, sollte jemand meinen, er könne das Meer schlicht nicht mehr sehen.
Natürlich wurde er von allen Seiten belächelt oder belehrt. Die Kommentare reichten von »tut mir leid, aber das ist für einen Menschen nicht möglich« über »du kannst ja erst einmal versuchen, einen See zu trocknen, bevor du mit dem Meer anfängst« bis hin zu »im Ozean leben unbeschreiblich viele Pokémon, gäbe es ihn nicht, wäre das gesamte Ökosystem dieser Erde aus dem Gleichgewicht gebracht«. Das war Marc jedoch alles egal. Die Auslöschung des Meeres hätte zweierlei Vorteile, dachte er sich: erstens müsste er nie wieder diese furchtbar salzige Luft ertragen und mit Schiffen auf Inseln fahren beziehungsweise versuchen, sich dabei nicht zu erbrechen, zweitens gäbe es mehr Lebensraum für die Menschen und Pokémon des Landes. Und wenn es im Ozean so viele Pokémon gab, dann konnten diese ja auch einfach an Land kommen und das Problem wäre gelöst. (Das ergab aus seiner Sicht der Dinge Sinn.) Eine Win-Win-Situation also!
Das hieß aber immer noch nicht, dass er wusste, wie er das anstellen sollte. Er dachte an einen Superstaubsauger / Superwassersauger, hatte aber keine Ahnung, wo er den herbekommen sollte. Er erwägte, das ganze Wasser einfach auszutrinken, diese Idee schoss er allerdings schnell wieder in den Wind, als ihm auffiel, dass das weder gesund noch lecker war. Er überlegte, ob man irgendwo einen Stöpsel ziehen konnte, der dafür sorgte, dass alles abfloss, bezweifelte dies jedoch. Tagsüber plante er, in der Nacht träumte er von einer Welt ohne große Wassermassen, doch eine Lösung erblickte er nie.
An dieser Stelle kam ein Junge namens Adrian ins Spiel, der schon immer mal Pirat sein wollte, jedoch nicht nah genug am Wasser wohnte, um diesen Plan in die Tat umsetzen zu können. Im Gegensatz zu Marc kam er aber viel herum und so landete er eines Tages in Graphitport City, sah das viele Wasser und war so beeindruckt davon, dass er sich mental notierte, es könne gar nicht schlecht sein, das Meer auszuweiten. Und er hatte sogar eine Idee, wie: seine Großmutter hatte ihm oft von einem legendären Pokémon namens Kyogre erzählt, dass den Ozean erschaffen hatte. Und wenn es ein Pokémon war, dann existierte es irgendwo in Hoenn – er musste es also einfach finden. Das konnte ja gar nicht so schwer sein.
Eines Tages lief dieser Adrian dann Marc über den Weg, als er gerade vertieft war in ein Gespräch über besagtes legendäre Kyogre. Marc hörte davon zum ersten Mal, aber zählte eins und eins zusammen (ausnahmsweise mal) und bald darauf war er Stammgast in der Bibliothek seiner Schule, denn er war sich sicher, dass es zu Kyogre ein Pendant geben musste, das ebenso stark war, nur andersrum. Und ›andersrum‹ hieß dann wohl, dass es kein Wasser erschuf, sondern Land oder irgendetwas sonst, das dafür sorgen konnte, dass das Meer kein Meer mehr war. Und siehe da – er fand heraus, dass jenes Pokémon namens Groudon tatsächlich die Kontinente erschaffen hatte!
Nun musste er Groudon nur noch finden, und das bestenfalls vor dem Spinner, der die Ozeane erweitern wollte. Allein würde sich das jedoch als schwierig gestalten, also brauchte er Freunde (was ein Problem darstellte, denn wer will schon etwas mit jemandem zu tun haben, dessen Lebensziel es ist, das Meer auszulöschen?) oder zumindest Gleichgesinnte. Wie konnte er die nur finden?
So tat er das, was jeder in seiner Situation getan hätte – er eröffnete eine AG in seiner Schule, die er sehr kreativ ›Land-Erweiterungs-AG‹ nannte. Erfolglos, zu Beginn – woran vielleicht auch der Name schuld war. Was sollte man sich darunter auch vorstellen? –, bis ein kleiner übergewichtiger Junge namens Kalle eines Tages vor der Klassenzimmertür stand und das zweite Mitglied der AG, die kurz darauf nach einer Idee von Kalle zu ›Team Magma‹ umbenannt wurde, gefunden war.
Es dauerte einige Jahre, bis sich mehr Leute versammelt hatten, doch gegen Ende von Marcs Schulzeit war eine Gruppe zusammengekommen, die allesamt aus Spinnern mit Antipathie gegenüber größerer Ansammlungen von Wasser bestand. Spätestens, seit die etwas gruselige, aber beliebte Jördis teilnahm, gewann die AG, äh, das Team dann so rasant an Beliebtheit, dass auch nach dem Verlassen der Schule weiter nach Groudon geforscht wurde – immer in Rivalität mit Adrian (der hatte sich nämlich Marcs Idee geklaut und bei sich zuhause eine AG namens Team Aqua eröffnet, was bei ihm jedoch deutlich schneller funktioniert hatte, denn im Vergleich zu Marc waren seine Überzeugungskünste gottgleich; er hatte nicht viel analyisert, sondern sich einfach auf den höchsten Hügel seiner Umgebung gestellt und »nieder mit den Landratten« geschrien, was erstaunlich gut funktioniert hatte).
Und so stehen wir nun kurz vor dem Untergang der Hoenn-Region, und das alles nur, weil ein kleiner Junge das Meer nicht mehr sehen konnte. Wie gut, dass es in jeder Region Helden wie unsere namenslose Protagonistin gibt, die sich dem Problem annehmen, während der Champ, ein fähiger Arenaleiter, die Leute, die für den ganzen Mist erst verantwortlich waren und ein Junge, der ständig behauptet, er sei stärker als unsere Heldin, nichtstuend vor der Höhle stehen.
Keine Punkte
Hey, hallo! Ja, du, genau dich meine ich! Kannst du mich hören? Keine Sorge, du bist nicht verrückt geworden. Du hast es lediglich mit einem Geist zu tun. Oder einem Alien. Oder beidem. Um es kurz zu machen: Meine Seele hat es wohl irgendwie in diese Welt verschlagen. Naja, ich finde es nicht so schlimm. Ich mag diese Welt, sie ist so nett und friedlich. Abgesehen natürlich von den paar Konflikten zwischen euren Ländern und euren Glaubensrichtungen. Und den Epidemien. Und dem ewigem Kampf zwischen Veganern und Fleischfressern, Hunde-, und Katzenhaltern.
Glaub mir, in meiner Welt sieht es kaum rosiger aus. Sie ähneln sich schon gewaltig, unsere beiden Welten. Wenn du ein Astronaut wärst, könntest du dir deine blaue Heimat ansehen, sie gedanklich ein bisschen hin und her drehen und, voilà, du hättest meinen Planeten vor Augen. Möglicherweise ist es sogar der gleiche und mich hat es lediglich in eine andere Dimension verschlagen. Keine Ahnung. Ich hatte ehrlich gesagt nie was mit Physik am Hut. Aber ich war mal in einem Raumfahrtmuseum, also halte mich nicht für ungebildet!
Leider leide ich unter einem Problem das die Ewigkeit, die man als unsterbliche Seele irgendwie rum bekommen muss, wohl mit sich bringt: Ich langweile mich zu Tode. Haha, Wortwitz.
Ich habe jetzt schon viele Dinge getan. Hier und da ein bisschen Angst und Schrecken verbreitet, einen Mordfall aufgeklärt, verirrte Kinder aus dem Wald geführt. Was man halt so tut als Geist. Aber du bist der glückliche Erste, mit dem ich richtig in Kontakt trete.
Dir, der du aus einer anderen Welt stammst, will ich eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte aus der Welt der Pokémon, in der wundersame Wesen dir gerne zur Seite stehen, wenn dir der Sinn nach Suizid steht, du schon immer mal vom Blitz erschlagen werden wolltest oder es dir lustig vorstellst, von dem Rücken eines Mach 2 fliegenden Vogels geschleudert zu werden, sodass es deine Überreste von Kanto nach Hoenn verschlägt. Eine Geschichte voller Abenteuer und Geheimnisse. Eine Geschichte, die die goldene Grenze von 2500 Wörtern einhält. Eine Geschichte, die es wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Meine Geschichte.
Ach ja, wo wir gerade dabei sind; Rot ist übrigens der Name. Klingt scheiße? Ist er auch.
Rot. Das ist der Ausdruck der innigen Liebe meiner Eltern zu mir. Wie sagte meine Mutter immer so schön?
»Kein Wunder, dass dein Vater abgehauen ist!«
Ja, ich gebe es zu. Als Ergebnis einer dieser “Ich bin aus Versehen in sie hinein gefallen“- Fälle, benannte man mich lediglich nach der Farbe, die mit mir aus meiner Mutter flutschte. Macht den Namen nicht besser, was? Naja, eigentlich war er sogar ganz erträglich. In Alabastia, dem “wunderschönen“, winzigen Dörfchen ohne jegliche eigene Wirtschaft, in dem ich aufgewachsen bin, gab es neben meinem nämlich nur zwei andere Häuser. Und von denen war eines ein Labor! Dementsprechend wenige Kinder lebten dort. Eines von ihnen war mit einem ähnlich liebevoll gewählten Namen wie meinem gesegnet und vielleicht war es gerade das, das uns verband: Blau, mein ewiger Rivale und benannt nach dem Zustand in dem sich seine beiden Elternteile befanden, als der flüssige Grundstein seiner Selbst in die sichere Hülle eines Eis verlegt wurde.
Ordinär? Ach, komm schon, ich bin erst Zehn, da darf ich doch wohl noch so reden.
Auf jeden Fall schien Blaus Familie von ihm genauso begeistert zu sein, wie meine von mir. Was mich nicht wundert, muss ich zugeben. Der Typ ist ungefähr so angenehm wie Fußpilz. Schlechte Frisur, dämliches Grinsen und ein ausgebildeter Gottkomplex. Das ist Blau wie er, anders als ich, leibt und lebt. Wie du dir vielleicht denken kannst sind wir nie beste Freunde geworden.
Erstaunlicherweise war seine Familie mir jedoch immer recht wohl gesonnen. Vor allen Dingen sein Großvater, der nebenan im Labor lebte und als Koryphäe auf dem Gebiet der Pokémonforschung galt. Vielleicht war er aber auch nur so nett zu mir, weil er mich und Blau verwechselte. Um ehrlich zu sein war mir der Professor nämlich nie so recht geheuer. Ständig vergaß er meinen Namen und nicht selten sogar mein Geschlecht! Blau erging es nicht anders. Und dann drehte er mir auch noch ein vollkommen widersprüchliches Gerät an, das zwar bereits die Daten über alle Pokémon dieser Welt enthielt, die sich jedoch nur durch den Fang dieser frei schalten ließen. Und der Professor selbst hatte es auch noch programmiert! Und da sagt man mir, der Herr leide nicht an Alzheimer.
Aber Professor Eich war es auch, der mir an einem schicksalhaften Tag mein erstes Pokémon gab. Natürlich war es ein Glumanda. Was soll ein Trendsetter wie ich auch mit einer lahmen Schildkröte oder einer Knolle? Eine Feuerechse, die passte zu mir.
Den ersten Tag meiner Reise kann ich allerdings wohl kaum als Erfolg bezeichnen. Denn kaum dass ich, wie es für einen Zehnjährigen selbstverständlich üblich ist, meinen Rucksack gepackt und mich auf den Weg in die nächste Stadt gemacht hatte, da hielten mich schon die Gesetzeshüter auf. Gut, es war vielleicht nicht die beste Idee, mich mitten in der Nacht auf den Weg zu machen. Aber irgendwie ist mir noch immer nicht ganz klar, was eigentlich deren Problem war. Meine Mutter sah das übrigens ähnlich. Da konnten ihr die Polizisten noch so oft an den Kopf werfen, wie unverantwortlich sie sei und das sie besser auf mich aufpassen solle. Kaum waren sie aus dem Haus, da warf sie mich auch schon wieder raus. Offensichtlich hatte sie sich zu schnell daran gewöhnt, nun endlich ein eigenes Bett zu haben. Aber mir konnte das nur recht sein.
An diesem Punkt kann ich meine Geschichte endlich richtig beginnen. Um ehrlich zu sein könnte ich jetzt den ganzen Tag quatschen, aber ich bin von Natur aus eher schweigsam. Zumindest, bis ich hier gelandet bin. Wie ich schon sagte: Paralleluniversum.
Vermutlich würden dich die Details sowieso nur langweilen. Glaub mir, wenn du deine ersten zehn Trainer besiegt und ihr Geld gestohlen hast, verliert diese ganze Reisegeschichte unheimlich an Reiz. Zumindest ging es mir so. Denn an diesem Punkt habe ich bemerkt, dass dieses verbrecherähnliche Dasein nun mein Job geworden war. Ja, in der Theorie klingt es ganz nett, andere verletzen und ausrauben zu können ohne dabei vom Gesetz behelligt zu werden. Fast so, als sei man ein Yakuza. Aber wie die Freude über das heiß ersehnte Weihnachtsgeschenk verpufft die Euphorie selbst in einem solchen Fall schneller, als man erwarten würde.
Man fängt an, die Schattenseiten zu sehen. Den hundert Kilo wiegenden, überfüllten Rucksack, in dessen Tiefen grundsätzlich nur das Item verschwindet, das man gerade dringend braucht, egal ob Fahrrad oder Limonade. Die aufdringliche Konkurrenz die sich, auch wenn du nur an ihr vorbei gehst, nach einem Kampf kreischend auf dich stürzt und selbst nach diesem noch mit unvorstellbar wichtigen Anrufen belästigt. Den sich als Stalker heraus stellenden Professor, der hinter jedem Busch, Stuhl oder Stein hervorlugt wenn man einmal auf seinem Fahrrad aus einer Arena heraus fahren will, und zur Ordnung aufruft, sodass man das blöde Ding vor lauter Scham zurück in die Tasche quetscht. All das wird zur Routine und die einzigen, die bei diesem Lebensstil ordentlich Schlaf bekommen, sind die Pokémon. Es fehlt die Abwechslung. Hinzu kommt, dass ich ein verdammtes Naturtalent bin.
Mein Problem war also folgendes: Es gab keine Herausforderung für mich. Aus dem Tritt brachte es mich lediglich, wenn ein knapp zwei Meter großes Pokémon mal wieder meinte, es könne sich in fünfzig Zentimeter hohem Gras verstecken und mir so den Weg versperrte. Selbst die Arenaleiter, vor denen alle anderen Trainer so sehr erzitterten, erschreckten mich höchstens mit ihrem Kleidungsstil. Also tat ich das, was alle Menschen tun, die zu sehr unter Langweile leiden: Ich legte mich mit der Mafia an.
In meiner Welt heißt diese “Team Rocket“ und ist ein klischeebeladener Haufen aus offensichtlichen Schulabbrechern an dessen Spitze ein, zugegebenermaßen, durchaus brillanter Kopf steht. Aber Dummheit ist ja bekanntlich ansteckend.
Zu der Zeit, als ich mich dazu entschloss meinen Ruf in meinem Heimatland Kanto deutlich zu verbessern und mich zum Helden zu mausern, war es nicht schwierig der Spur Team Rockets zu folgen. Tatsächlich schien mit Ausnahme der Polizei so ziemlich jeder schon einmal mit ihnen in Kontakt gekommen zu sein. Meine oberflächlichen Recherchen führten mich demnach schnell in das angenehm große Prismania City, genauer gesagt in das Gebäude mit dem unauffälligen Namen “Rocket Spielhalle“. Da sah es genauso aus, wie du dir eine Spielhalle vermutlich vorstellst. Voller wunderlicher, aber zumeist netter Leute, die noch freundlicher wurden, wenn sie sich vom Spiel losrissen und in das Licht hinaus taumelten, um dort die zum Spielen notwendigen Münzkörbe an Kinder zu verschenken. Die Betreiber behandelten alle Kunden gleich und verboten niemanden, sich an den einarmigen Banditen zu setzen und sein Glück zu versuchen. Dennoch habe ich Ewigkeiten gebraucht, um mir ein Porygon zu erspielen. Schuld daran war nicht etwa eine Pechsträhne, sondern viel mehr ein weiteres Mal die Polizei, die sich zwar sehr für die Spielhalle und seine unbescholtenen Kunden, jedoch kaum für das “Rocket“ im Namen interessierte. Aber ich komme vom Thema ab. Genau wie ich damals kurzzeitig mein Ziel aus den Augen verlor. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr mir die Finger nach diesem Porygon juckten!
Als ich also friedlich meine Zeit an den Automaten verbrachte, fiel mir bald ein Poster auf, das schief und halb abgerissen an der Wand hing. Nicht nur sein Aussehen, auch ein schwarz gekleideter Typ mit einem unübersehbaren “R“ auf der Brust machte die Wanddekoration verdächtig. Nachdem ich mir endlich mein Porygon erspielt hatte, - das übrigens durchaus die Millionen Pokédollar Investition wert war, immerhin brauchte ich noch mächtige Pokémon um mich Team Rocket entgegen zu stellen - spielte ich gleich noch ein wenig weiter, um mir Sichlor und ein paar TMs zu eigen zu machen. Zuletzt, als mir kaum noch Geld übrig blieb, widmete ich mich dem Poster. Ich hätte gerne noch etwas weiter gespielt, immerhin gab es noch einige Preise die mir sehr weitergeholfen hätten.
Das hätte ich mal besser getan. Denn der Gang zu diesem dämlichen Poster besiegelte mein Schicksal. Im Nachhinein spendet es mir immerhin etwas Trost dass ich einem Wesen zum Opfer fiel, das schon vielen Menschen die Seele geraubt hat: Einem Vertreter. Ein solcher stand nämlich genau neben mir, als ich gerade unauffällig an dem Plakat herum zu zerren begann. Der Typ stürzte sich schneller auf mich, als die verfluchten Käfersammler.
Ironischerweise war ich schon zu Beginn meiner Reise auf einen seines Formates gestoßen. Einem lächerlich unglaubwürdigen Praktikanten, der mir ein überteuertes, nutzloses Karpador andrehen wollte und den ich lachend hinter mir ließ. Aber der hier war echt gut. Er erzählte mir etwas von mächtigen, mystischen Pokémon und dass er genau so eines dabei habe. Ein geisterhaftes, nahezu unbesiegbares Wesen, das einfach so in einem Pokéball erscheinen könne und das die Wenigsten zu Gesicht bekämen, weil es sich nur würdigen Trainern zeige und weil er bisher keinen passenden gefunden habe und mein großes Potential erkenne, würde er mir ein nahezu unglaubliches Sonderangebot machen. Dabei sprach er mich ungefähr zweitausend Mal mit “Sir“ an und bewunderte ganz offensichtlich meine souveräne Erscheinung. Jeder, ich wiederhole Jeder, hätte sich geschmeichelt gefühlt. Gib zu, auch du hättest dein letztes Hemd für ein solch hoch angepriesenes Pokémon gegeben! Es sollte meine Geheimwaffe werden und die hatte ich doch wirklich dringend nötig, nicht? So mächtig waren Porygon und Sichlor ja nun auch wieder nicht. Wie hätte ich denn ahnen können, was für ein Pokémon ich mir da an den Gürtel holte? Naja, ist ja auch egal. Ich kaufte dem Typ seine Ware ab und widmete mich dann wieder dem Poster, oder besser gesagt dem Schalter, der sich darunter befand. Kaum betätigt offenbarte sich mir auch schon eine geheime Treppe, deren Erscheinen niemanden außer mir interessierte da die Menschen in meiner Welt sich um ihren eigenen Kram kümmern, ohne dabei ständig andere zu belästigen.
Die Treppe führte in ein geheimes Untergrundversteck in dem sich, drei Mal darfst du raten, das Team Rocket eingenistet hatte. Tatsächlich wimmelte es dort nur so von schwarz gekleideten Gestalten die allesamt so strunzblöd waren dass sie nicht bemerkten, wie ich mich an einem nach den anderen von ihnen vorbei schlich. Selbstverständlich hatte ich keine Angst vor einem Kampf, aber ich hatte auch keine Lust mich mit all diesen Schwächlingen anzulegen, wo ich doch eigentlich nur Interesse an ihrem Anführer hatte, den ich irgendwo in dem Versteck vermutete. Leider hatte ich vergessen dass es durchaus noch Menschen gibt, die einen jeden Rocket Rüpel in puncto Blödheit übertreffen.
Gerade, als ich um eine weitere Ecke der labyrinthartigen Gänge schlich, seelenruhig und ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass man mich irgendwie bemerken könnte, schrillte mein Pokécom los und einer dieser verfluchten, untalentierten Teenager plärrte so laut, dass es selbst ein Relaxo aufgeweckt hätte: »Hey, Rot. Ich muss dir was erzählen! Mein Rattfratz ist kein gewöhnliches Rattfratz, oh nein! Es ist das stärkste und schönste und klügste aller Rattfratz! Erst vor einem Augenblick hat es ein Raupy besiegt! EIN RAUPY!«
Das war der Moment ab dem ich gezwungen war, zu kämpfen. Selbstverständlich waren all die kleinen Fische kein Problem und langweilten mich mindestens genauso sehr, wie Glutexo, Porygon und Sichlor.
Ein Gutes hatte die Sache. Sie ersparte mir die weitere Suche nach Team Rockets Anführer Giovanni. Den schleppten die verzweifelnden Rüpel nämlich von sich aus winselnd zu mir, als sie endlich erkannten, dass ich jeden von ihnen mit Leichtigkeit das hart ergaunerte Geld aus der Tasche zog.
Das war vielleicht ein Mann, sage ich dir. Einem klischeehaften Film entsprungen, definitiv. Breite Schultern, teure Klamotten, ein Blick so kalt wie der Winter selbst. Es fehlte eigentlich nur noch ein schnurrendes Snobilikat an seiner Seite. Passenderweise schickte er genau so eines in den Ring, nachdem sein Onix den Kampf mit der Deckenhöhe frühzeitig aufgab und weil mich dieser Typ und sein Kätzchen so aus dem Konzept brachten entschied ich mich dazu, das als unbesiegbar angepriesene Pokémon in den Kampf zu schicken. Der Pokéball erstrahlte in einem grellen Licht, das mich blendete und ja, ich versuche dir das Finale meiner Geschichte gerade etwas bildlicher zu gestalten, also hör gefälligst richtig zu. Andererseits gibt es an dieser Stelle eigentlich nicht mehr viel zu sagen. Als Trainer hat man nun einmal die doofe Angewohnheit, ständig auf den Rücken seines Pokémon zu starren, was sich in diesem Fall als ziemlich verheerend herausstellte. Das blöde Vieh war nämlich ein Ninjatom.
Da ist man ein Mal unvorsichtig, glotzt eine Sekunde zu lange in den hohlen Panzer eines toten Käferpokémon und schwuppdiwupp ist die Seele weg und eine vielversprechende Trainerkarriere vorbei. Ich wette, dieser miese Blau ist inzwischen der Champ und sitzt auf meinem Thron! Nun ja, ich kann es nicht mehr ändern.
Aber weißt du, was mir gerade auffällt? Deine Welt ist anscheinend nichts anderes, als der leere Körper eines Ninjatom. Das würde auch die Ähnlichkeiten erklären. Cool, nicht?
…
Was meinst du damit, die Geschichte ist langweilig? Die Pointe ist unglaubwürdig? Es gibt keine Charakterentwicklung? Also bitte!
Wer ist hier der User?
Irgendjemand muss die Gefahr erkennen. Vielleicht ist sie auch schon allen bekannt und sie wird ignoriert, das weiß ich nicht. In vielen Filmen wurde die Herrschaft der Maschinen über den Menschen prophezeit, und niemand scheint sich für unseren gefährlichsten Feind zu interessieren.
Das Smartphone.
Ich ziehe die Schultern ein Stück hoch, weil mir eine eiskalte Windbö entgegenkommt. Überrascht bin ich nicht, schließlich ist es schon Ende November. Diese Temperaturen sind verhältnismäßig normal. Eine meiner braunen Strähnen wird mir ins Gesicht geweht. Ich wische sie ungeduldig weg.
Rechts und links stehen schon die ersten Stände des Weihnachtsmarkts, der seit kurzer Zeit geöffnet hat. Lichterketten, Weihnachtskugeln und goldene Sterne hängen an den Dächern und Fassaden der Geschäfte. Im Schaufenster neben mir sehe ich mein durchgefroren wirkendes Spiegelbild. Die Haare fallen mir bis auf den Rücken. Unter einem meiner grünen Augen befindet sich ein kleines Tattoo in Form eines Sterns. Auf meinem Kopf sitzt eine weiße Wollmütze, die meines Erachtens gut zur schwarzen Winterjacke passt. Jeans und Stiefel runden das Outfit ab.
Die Fußgängerzone ist mal wieder viel zu voll, alle paar Meter muss ich einem weiteren Menschen ausweichen. Und wenn ich mir so ansehe, wie die unterwegs sind, kommt mir beinahe die Nudelsuppe wieder hoch, die ich vor nicht einmal einer halben Stunde zu einem exorbitant hohen Preis erstanden habe. Hätte ich gewusst, dass ich direkt im Anschluss zum Weihnachtsmarkt geschleift werden würde, wäre mein Magen leer geblieben.
„Kari? Alles okay? Du machst ein Gesicht, als hätte dir der Allmächtige die dritte Periode dieses Monats gegeben.“ Ich werfe einen genervten Blick über die Schulter.
„Lass den Mund am besten zu, Gabriel“, erwidere ich freundlich. Gabriel ist mein Kameramann. Mit seiner Skijacke und den dicken Boots sieht er zwar aus, als würde er sich für eine Bergtour rüsten, aber ohne ihn könnte ich meine Videos nicht machen. Unsere Beziehung ist mehr als merkwürdig, aber dennoch freundschaftlich. Er fährt sich durch seinen schwarzen Schopf. Ich habe oft das Gefühl, Gabriel sei der einzige, der mich versteht. Wir sind ein Team.
„Musst du so aus der Wäsche gucken, wenn wir zusammen unterwegs sind? Es ist doch ganz nett hier. Guck mal, ein Glühweinstand.“ Tatsächlich passieren wir eine kleine Bude, aus der es verführerisch durftet.
„So gucke ich immer. Nicht nur, wenn ich mit dir rumhänge. Klar soweit? Was mich stört, sind diese ganzen...Menschen.“ Im Grunde sind nicht einmal die Menschen mein Problem, sondern Smartphones und diverse andere technische Spielereien, welche auf den Homo Sapiens Sapiens losgelassen wurden.
Die Hersteller dieser Geräte haben ohne Zweifel nicht mehr und nicht weniger als die Ausrottung der Menschheit im Sinn. Das Einschalten eines Smartphones in der Hamburger Fußgängerzone zieht das unweigerliche Abschalten aller fünf Sinne plus Großhirn des Users mit sich. Sollte ein Smartphone-Besitzer das Pech haben, auf einen Artgenossen zu treffen, führt das zum Tod durch das Aufeinanderprallen zweier ebenso blinder wie unaufhaltsamer Körper. Fälle, in denen ganze Großfamilien simultan auf ihre Bildschirmchen gestarrt und darum die drohende Gefahr eines U-Bahnschachts zu spät bemerkt haben, sind allerdings auch schon bekannt. Jeder Hilferuf über Whatsapp kam zu spät.
„Pass doch auf, Mädchen!“, werde ich angefahren. Ich verkneife mir die bissige Bemerkung und drängele mich einfach an dem Mann vorbei, der natürlich ein Smartphone in der Hand hält. Darum hat er mich nicht kommen sehen. Immerhin hat er mir mit seinem Kommentar gezeigt, dass wenigstens seine Emotionen noch funktionieren. Gabriel lässt bei dem Manöver beinahe seine Tüte mit gebrannten Mandeln fallen.
„Was ist dem denn über die Leber gelaufen?“, wundert er sich.
„Sein Handy.“ Eine passendere Antwort gibt es nicht.
Ich würde ja selbst Platz machen, das wäre kein Problem, aber das Risiko, dass der Person vor mir direkt im nächsten Moment ein Befehl vom Smartphone vorgegeben wird, sie solle doch bitte den Kurs wechseln, ist mir einfach zu groß. Außerdem kann ich die Existenz der „Lauf links, lauf rechts“-App, welche ein erfolgreiches Ausweichen mittels schneller Richtungswechsel unmöglich macht, nicht ausschließen. Eine Feldstudie hat ergeben, dass man in solch einem Fall am besten stehen bleiben sollte. Der entgegen kommende Smartphone-Benutzer wird (hoffentlich) bemerken, dass es ein Hindernis gibt, ergo bleibt er ebenfalls stehen. Allerdings lässt er seinen Bildschirm nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Weitere Menschen, die ein Smartphone in Gebrauch haben, werden ihrerseits hinter ihm anhalten, sodass man einen kleinen Stau in der Fußgängerzone verursacht. Wer hier der wirkliche User ist, scheint unklar.
Ein weiteres Paradebeispiel sorgt einige Meter weiter fast dafür, dass zwei kleine Mädchen zu Boden gehen. Gerade im letzten Moment können sie ausweichen. Als ich sehe, dass auch sie jeweils ein Smartphone in der Hand halten, halte ich unwillkürlich für einige Sekunden den Atem an. Ich komme sozusagen live in den Genuss einer neuen Generation Befallener. Noch sind sie jung. Noch könnten sie gerettet werden. Aber wer unternimmt da etwas? Die Eltern? Nein, die haben doch viel zu viel zu tun. Wenn die Kinder von Playstation, Smartphone und Fernsehen abgelenkt werden, haben sie immerhin mehr Zeit für ihre eigenen Gedanken. Ob dies allerdings die individuelle Entwicklung des Kindes positiv beeinflusst, wenn eine Beziehung zu den Eltern fehlt, ist unklar.
Und genau das scheint der zweite, wesentlich perfidere Plan hinter den Smartphones zu sein. Wenn man die Menschen schon nicht direkt damit umbringen kann, dann isoliert man sie wenigstens. Nach nur einigen Wochen sind sie abhängig genug von ihren Spielzeugen, dass sie gar nicht mehr merken, wie ihr eigenständiges Denken nachlässt und sie immer öfter zum Smartphone greifen. Diejenigen, die mir hier beinahe die Nudelsuppe wieder abringen, befinden sich im Endstadium.
Ein einzelnes Smartphone kann selbstverständlich ziemlich viel. Sonst würde es sich ja nicht so gut verkaufen. Unter dem Deckmantel der Arbeitserleichterung plant es seinen Feldzug gegen die Menschheit.
Diese Dinger sind relativ leicht zu bedienen. Den normalen Desktop vom Computer gibt es hier nicht mehr, statt einer Maus benutzt man also den eigenen Finger. Jeder Befehl wird per Hand eingegeben. Ein Haufen bunter Symbole bevölkert den Bildschirm eines jeden Smartphones, das sind die sogenannten Apps. Natürlich steigt der Schmutzpegel auf dem Touchscreen proportional zur Benutzung, sodass man sich quasi stündlich gezwungen sieht, ihn sauber zu machen.
Die Vielfalt an Apps ist sogar dermaßen gewaltig, dass nahezu jedes uns bekannte Verb vom Smartphone ausgeführt werden kann. Rechnen, suchen, wecken, filmen, kochen, töten, alles kein Problem. Man soll sogar damit telefonieren können, obwohl ich dies in Natura noch nie selbst erlebt habe und es daher als Mythos ansehen muss. Whatsapp wird momentan als der geheime Pate der Appfamilie gesehen, da er mit tödlicher Präzision jede Aktivität sämtlicher User protokolliert und aufzeichnet. Kommunizieren also Person A und Person B miteinander, wird Person A mittels zweier blauer Häkchen angezeigt, dass Person B seine Nachricht gelesen hat. Damit soll indirekt dafür gesorgt werden, dass sich Person B ständig beobachtet fühlt und schwere Paranoia entwickelt.
Auf einer Bank, die sich einige Meter weit von uns entfernt befindet, sitzen 4 junge Frauen nebeneinander und haben jeweils ein Smartphone gezückt. Wahrscheinlich chatten sie gerade miteinander. Dank des Smartphones ist das Social Life absolut kein Problem mehr – für niemanden. Sogar diejenigen unter uns, die keinen Chatpartner haben, können auf eine virtuelle Lebensform namens „Siri“ zurückgreifen, welche im Smartphone wohnt und ihren Besitzer mit der erfrischenden Ausdauer eines Zeugen Jehovas unterhält. Dabei sind ihre Antworten generell beleidigend oder herablassend. Am liebsten jedoch beides zugleich. Auf die Frage, wo sich denn das nächste McDonalds befinden könnte, antwortet Siri: „Ich wusste schon immer, dass du fett wirst.“
„Wie lange bleiben wir hier?“, erkundige ich mich. Gabriel zuckt kurz mit den Schultern. Eine Bewegung, die Gleichmütigkeit bedeutet. Er lässt sich von meiner Ungeduld nie aus der Ruhe bringen. Sein Rucksack hüpft bei jedem Schritt auf und ab. Ich weiß, dass sich darin seine zwei Kameras und das Mikrofon befinden.
„Unwichtig. Uns drängt niemand. Weißt du, wenn du mal lächeln würdest, wärst du gleich tausendmal hübscher, hat dir das mal jemand gesagt?“ Sein Anmachversuch ist zwar irgendwo niedlich, aber momentan habe ich schon mit dem Studium und der Verwaltung meines Youtube-Kanals mehr als genug zu tun. Da bleibt keine Zeit für mehr als gelegentliches Austoben.
„Nein.“ Mein Blick wandert kurz zu einer großen, digitalen Reklametafel an der nächsten Fassade, die dem Betrachter versprechen, er würde mit diesem oder jenem neuen Mantel nie wieder Hunger leiden oder Kälte verspüren.
Den Menschen wird nicht einmal ein Vorwurf gemacht. Von allen Seiten werden sie zugedröhnt von Fernsehen, Internet – den Massenmedien schlechthin. Die Ärmsten haben keine Chance. Nur wenige können dank eiserner Disziplin und einer Geduld aus Titan diesem Strom aus Informationen widerstehen. Mein Lieblingsbeispiel für solche Informationen ist die Waffengewalt in Amerika. Dreißigtausend Tote haben die da pro Jahr, das muss man sich erst einmal vorstellen. Kanada kommt genauso leicht an Waffen wie ihre schießfreudigen Nachbarn, dennoch ist die Todesrate dort viel niedriger. Muss wohl an der geringeren Verbreitung von Smartphones liegen.
Die engsten Verbündeten dieser vom Satan gesandten Geräte sind eben besagte Medien. Rassismus wird in Amerika genauso unterschwellig propagiert wie die blanke Angst, die den Bürgern in die Hirne getrieben wird, sobald sie den Fernseher anschalten. Dabei macht die Polizei dort einen guten Job, im Grunde sinkt die Kriminalität sogar. Davon hört man allerdings nichts in den Medien. Nicht ein bisschen. Die Worte meines alten Mathelehrers kommen mir in den Sinn.
„Ein Taschenrechner ist nur so gut wie diejenige, die ihn bedient“, sagte er oft. Dass dieser Grundsatz für alle Maschinen gilt und es eben so „böse“ statt „gut“ heißen könnte, ahnte damals noch niemand.
Und auf dem Feuer der Unwissenheit der Bevölkerung kochen die Vertreiber der Smartphones ihr garstiges Süppchen. Es gibt einige, seltene Exemplare der Menschheit, die ihr sich extra in einen Bereich am Rand der Straße stellen, an dem sie niemanden stören, bevor sie das Gerät einschalten. Die erkennt man dann meistens an den Kopfhörern, die sie zusätzlich tragen, weil sie die Informationsflut nur durch entspannende Musik aushalten. Als sei das noch nicht genug, haben offenbar ausschließlich die Politiker und Lobbyisten die zerstörerische Macht der Smartphones und Konsorten erkannt und nutzen sie für ihre Zwecke.
„Du lügst doch. In deinen Videos blühst du regelrecht auf. Ich habe gesehen, wie deine Fans in der Comment-Section quasi ausflippen.“ Es gibt Menschen, die haben schwere Probleme damit, die Gemütslage ihrer Freunde richtig zu lesen. Gabriel hat es sich zum Ziel gesetzt, zu beweisen, dass meine grimmige Einstellung oft nur gespielt ist. Ich bin sicher, dass er das schafft. Genau dann, wenn Obama den Waffenhandel einschränkt.
Bei den mittlerweile auch schon auftretenden Schusswaffendelikten von kleinen Kindern sind die Medien allerdings oft sprachlos. Ich selbst halte es für eine Superidee, dem Kind zur Verteidigung eine solche Waffe mitzugeben. Immerhin könnten seine Mitschüler und Mitschülerinnen auch eine haben. Man weiß in Amerika nie, wer eine hat. Die Hausfrau aus Macon, Georgia, macht sich Tag für Tag Sorgen um ihre Familie. Die in New York genauso. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, dass es immer mehr und mehr Waffenbesitzer gibt. Dass man Feuer auch mit Wasser bekämpfen kann, will dort niemandem in den Schädel.
Was also tut der Präsident? „I WANT CHANGE“ steht auf seinen Flaggen, auf seinen Wahlplakaten, und womöglich auch auf seinem Bettzeug. In Amerika bedeutet „Change“ aber auch so viel wie „Wechselgeld“, könnte es sein, dass wir ihn all die Jahre missverstanden haben? Kein Wunder, dass er so schnell graue Haare bekommt und immer trauriger aussieht. Seit 6 Jahren fragt er nach Wechselgeld, und niemand hört ihm richtig zu. Diese zum Himmel schreiende Gerechtigkeit muss dringend Publik gemacht werden.
Vor Kurzem erst hat ein Grundschüler mehrere seiner Klassenkameraden erschossen. Obama zeigte sich erschüttert, mit gebrochenem Herzen. Er werde alles in seiner Macht Stehende tun, um die Verbreitung von Waffen einzuschränken.
Damit fängt er sicherlich gleich im nächsten Januar an. Nur Vertrauen.
„Die sehen nur, was sie sehen wollen. Dabei sollen sie sehen, was wirklich ist. Solange die Botschaft nicht ankommt, nützt das alles nichts“, murre ich. Ich habe mit Youtube angefangen, weil irgendjemand anfangen muss. In meinen Videos stelle ich meistens Dinge vor, die von den Nachrichten aus irgendwelchen mir nicht bekannten Gründen übersehen werden. Auf den Scheuklappen der Redaktion steht allerdings nicht umsonst dick und fett „Lobby“ geschrieben.
Während ich gemeinsam mit Gabriel weiter die irdischen Freuden des Weihnachtsmarktes erkunde, denke ich nach. Um Ebola scheint sich auch niemand mehr zu kümmern. Jedenfalls sehe ich in den Medien kaum mehr etwas darüber. Das muss doch heißen, dass die Seuche geheilt ist, oder? Ein Hoch auf die moderne Wissenschaft! Womöglich werden schon in diesem Moment Kanister voller Impfstoff nach Afrika gebracht, um der dortigen Bevölkerung zu helfen.
Oder vielleicht fliegt auch gerade ein Einhorn über Westafrika, welches Regenbögen aus den Augäpfeln schießt und damit jeden Menschen, den es trifft, immun gegen jede Krankheit dieser Erde macht. Ich bin gerne optimistisch. Auf „gegessenen“ Themen reite ich allerdings nicht gerne herum, das würde die Zuschauer nur langweilen.
Wir kommen an einem älteren Herrn vorbei, der sein Smartphone wiederholt nach links und rechts dreht. Der Grund dafür kann nur die digitale Tastatur sein. Genau wie das Gerät, in welches sie eingebaut ist, entwickelt auch sie ein Eigenleben. Ihr einziger Lebenszweck scheint die Folter ihres Besitzers zu sein. Um das zu erreichen, hat die Tastatur eine Menge teuflische Tricks auf Lager. Manchmal erscheint sie gar nicht, dann wiederum erscheint sie so groß, dass der halbe Bildschirm von ihr verdeckt wird, und manchmal stellt sie sich auch quer. Eine Vorhersage, welches Verhaltensmuster sie beim nächsten Mal zeigen wird, ist nicht möglich. Erst, wenn der Benutzer bei jedem Versuch in Schweiß und Tränen ausbricht, weil er es einfach nicht mehr ertragen kann, zeigt sich die Tastatur versöhnlich und beginnt, richtig zu funktionieren. Zumindest für ein paar Sekunden.
Die Tastatur hat auch ein paar gute Kumpels, die allesamt in Tablets und Smartphones einprogrammiert sind: Touch-sensible Fotoalben. Je nachdem, wie man fotografiert, erscheint das Bild entweder zu klein oder horizontal, und wenn der User versucht, es per Multi-Touch zurecht zu schieben, geht das Spiel von vorne los. Tödlich ist dies zwar nicht, aber es dient ebenfalls der stetigen, psychischen Zerrüttung des arglosen Opfers.
„Ich weiß, wo es die besten Mandeln von ganz Hamburg gibt. Hast du Hunger?“, fragt Gabriel eine Weile später.
„Du hattest doch vorhin erst eine große Tüte!“
„Na und? Du aber nicht. Und über was denkst du eigentlich die ganze Zeit nach?“
Ich antworte nicht sofort, sondern sehe einem Jungen dabei zu, wie er sich bei seiner Mutter über ein verbogenes iPhone beschwert. Erste Anzeichen für den geplanten Massensuizid dieser Geräte sind schon publik gemacht worden. Ihr Ziel ist offensichtlich, aber niemand kommt darauf.
Mein Blick sucht den Gabriels.
„Unwichtig. Her mit den Mandeln.“
Der Mensch stammt vom Hühnchen ab
Schon immer besaßen die Menschen einen unstillbaren Wissensdurst, egal, ob es um Physik, Biologie, Kultur, das All oder Gott ging. Alles musste erforscht sein, alles bewiesen, weshalb wir selbst eine alte physikalische Formel besitzen, die die Existenz Gottes beweist - oder nicht. Es kann nämlich keiner lesen, was dort geschrieben steht. Vielleicht geht es in der Formel auch gar nicht um Gott sondern um Hosen, aber da ein Mensch behauptete, es würde um Gott gehen, wird das wohl stimmen. Denn der Mensch ist ein universelles Wesen, allen anderen Tieren überlegen, da er sich durch seine Evolution perfekt an jede erdenkliche ökologische Nische anpassen konnte. Folgen wir dieser These, wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis uns Kiemen wachsen. Immerhin besitzen Embryonen in einer gewissen Phase ihrer Entwicklung Kiemenansätze, die manche Menschen sogar tatsächlich ausbauen. Dass uns dann allerdings die richtigen Lungen fehlen würden, um sie zu benutzen, ist nicht so schlimm. Immerhin sind wir doch die höchste Stufe der Evolution. Nun, aber ob und wie wir diese durchlaufen haben, ist nicht ganz geklärt. Und das, obwohl es bereits so unendlich viele Diagnosen und Theorien zu unserer Herkunft gibt.
Da wären einerseits die diversen Entstehungsgeschichten seitens der Religion, wie zum Beispiel die tragische Liebesromanze zwischen Rangi und Papa - wobei Papa doch tatsächlich der Weibliche der beiden ist - oder der Super Action Fight in der Mythologie des Hinduismus, die alle eher einer Hollywood-Verfilmung ähneln als einer wahren Geschichte bei der Suche nach unserem Ursprung. Dennoch sollte - der Fairness halber - vielleicht eine Religion erwähnt werden, die seit Jahrtausenden alles tut, um jegliche Evolutionstheorien im Keim zu ersticken - das Christentum. Durchaus eine faszinierende Geschichte, in der die Schöpfung dem weihnachtlichen Plätzchen Backen gleicht. So wird der Mann doch wie ein Teig geformt und verziert, nur um dann aus einer seiner Rippen die Frau zu erschaffen. Bestimmt ist jede Feministin vollkommen davon überzeugt, dass wir alle eigentlich nur ein Teil des Mannes sind und ohne ihn gar nicht existieren könnten. Spinnt man diesen Gedanken weiter, bedeutete das, jede Frau war einst ein Mann. Hieße dies also, dass jede Lesbe in Wirklichkeit gar nicht lesbisch sondern schwul und jede Hetero-Frau in Wirklichkeit auch schwul ist? Somit wäre ebenso jeder hetero- als auch homosexuelle Mann schwul, wodurch man zu der Erkenntnis gelänge, dass absolut jeder Mensch auf der ganzen Welt schwul ist. Ist Heterosexualität also eine Erfindung der Kirche, um die weltweite Homosexualität zu verschleiern? Ein faszinierender Gedankengang, der nur noch von der Tatsache abgelöst werden kann, dass alle Menschen - nach christlichen Lehren - einem exzessiven Betreiben von Inzucht entspringen müssen, da außer den Kindern Adams und Evas keine anderen Menschen vorhanden waren, mit denen diese hätten kopulieren können, da Lilith - Adams erste Frau - ja leider bereits von Lucifer entführt wurde.
Ob die menschliche Dummheit wohl ihren Ursprung in genau diesem Prozess der Inzucht fand? Bestimmt hätten sich Forscher mit diesem Thema ausgiebig beschäftigt, wären ihnen nicht Wissenschaftler wie Lamarck oder Darwin zuvor gekommen.
Werfen wir doch einen genaueren Blick auf diese zwei Theorien, die die Bekanntesten der vorliegenden Evolutionstheorien darstellen.
Da wäre zum einen der Lamarckismus. Lamarckismus ist die Theorie, dass Organismen Eigenschaften an ihre Nachkommen vererben können, die sie während ihres Lebens erworben haben. Besagte Eigenschaften lassen sich durch den reinen Wunsch zur Veränderung oder die häufige und exzessive Benutzung von Körperteilen erreichen. Das Beispiel der Giraffe wird hierbei als häufigstes zu finden sein, sowenn man Lamarckismus in Google googelt. Jegliche andere Suchmaschine dürfte dies allerdings auch zufriedenstellend bewältigen. Da aber der Nachwuchs von Bodybuildern keine Bodybuilder-Babys aufweist, scheint diese Theorie wohl fehlerhaft. Bedauerlich, jetzt werden mir wohl keine Flügel wachsen, wenn ich lange mit meinen Armen wedelnd durch die Wohnung laufe.
Als nächste - und bekannteste - Theorie zählt der Darwinismus. Auch bekannt als Survival of the Fittest. Betrachtet man allerdings den heutigen Menschen, bin ich mir nicht ganz so sicher, wie man "The Fittest" zu verstehen hat. Nun gut, vielleicht sollte zuerst geklärt werden, was diese liebe Theorie denn überhaupt besagt. Darwinismus bezeichnet das Theoriensystem zur Erklärung der Artentransformation, wobei insbesondere die natürliche Auslese, sprich das Selektionsprinzip, im Vordergrund steht. Ergo, die am besten angepassten Wesen mit den meisten Nachkommen überleben und die weniger gut angepassten sterben aus. Deshalb sprang der Affe - laut Darwin - auch vom Baum, als der Regenwald durch das kalte und trockene Wetter weniger wurde und die Steppe ihren Platz auf der Erde festigte. Dass der Affe heute nicht ausgestorben ist, so wie es Darwins Theorie besagt, lässt sich wohl darauf zurückführen, dass noch genügend Futter im Regenwald vorhanden war, als die zukünftigen Menschen diesen verließen. Auf den ersten Blick klingt das doch wohl wie die ultimative Weisheit, wenn dies nicht auch einen Prozess der Inzucht voraussetzen würde. Hierbei werden nun die Affen als A, die besser Angepassten als B und deren Kinder als C bezeichnet. Zufällig besser angepasste Affen B kopulieren nun mit einander und zeugen ein Baby, das - wie sie - besser an seine Umwelt angepasst ist. Um diesen Vorteil nun weiter erhalten zu können, müsste dieses Baby C erneut mit jemand kopulieren, der besser angepasst ist. Aber dies ist nicht der Fall, da der Vorteil von B nur ein zufälliger Vorteil ist - so weit Darwins Theorie. Ergo müsste C nun entweder mit A kopulieren und seinen Vorteil verlieren oder es müsste erneut auf seine Eltern B zurückgreifen, damit sein Vorteil weiter getragen werden kann. Da wir Menschen nun Menschen und keine Affen sind, entschied sich C also für die zweite Variante, die Kopulation mit seinen Eltern bzw. könnte es auch mit seinen Geschwistern, also weiteren C kopuliert haben. Selbst bei mehreren Affen, die zufällig besser angepasst sind, würde es irgendwann in Inzucht verlaufen. Dieser Fall ist - wie vielleicht der ein oder andere weiß - bei den Tigern zur Zeit ein Problem. Aber laut Darwin müssen wir uns ja da keine Sorgen machen.
Heutige Wissenschaftler sind der Ansicht, sowohl Kirche als auch Evolutionsforscher liegen falsch, wobei sie doch so ein ganz kleines bisschen Recht haben. Die Rede ist hierbei von Rekombination von Chromosomen und Genen und diversen anderen Spielereien, die den Genpol erweitern. So stammen wir also nicht vom Affen, ab, haben aber gemeinsame Vorfahren. Wären wir nicht hierauf gekommen, so wären uns bestimmt solch geniale Funde wie der Homo Erectus Erectus verloren gegangen.
Allerdings, wenn wir nun nicht vom Affen abstammen, von was stammen wir dann ab? Verzweifelt suchen Forscher seit Jahren nach dem sogenannten "Missing Link". Behauptungen werden aufgestellt und bevor man überhaupt "Banane" sagen kann, heißt es bereits, die Behauptungen wären totaler Blödsinn. Vielleicht suchen die Forscher auch nur falsch? Vielleicht ist unser Ursprung gar nicht in der Vergangenheit zu suchen, sondern im Hier und Jetzt? Ist eigentlich schonmal je jemand darauf gekommen, dass wir vom Hühnchen abstammen könnten? Denn wenn man genau hinsieht, kann man auch einige gemeinsame Merkmale zwischen dem menschlichen und dem hühnischen Skelet erkennen. So hat der Schädel - ohne den Schnabel - eindeutige Ähnlichkeiten mit der Form unseres Gehirns. Und auch das Skelett weist eine S-Form auf, sprich, es hat einen aufrechten Gang, der als die Errungenschaft des Menschen gepriesen wird. Genauso wie das Huhn besaß auch der Mensch einst einen Schwanz, genauso wie viele andere Körperteile des Hühnchens auch beim Menschen zu finden sind: Schädel, Halswirbel, Brustkorb, Ober- und Unterschenkelknochen, Oberarm und Unterarm mit Elle und Speiche. Wer weiß, vielleicht entspringen wir also doch dem Huhn!?
Eine (für alle anderen) lustige Busfahrt
Ich schaue auf die Uhr und mich trifft der Schlag. Dieser Bus hat tatsächlich schon zwei Minuten Verspätung! Nicht fähig, meine Wut zu kontrollieren trete ich gegen den einzigen Gegenstand in meiner Reichweite, was in diesem Fall unglücklicherweise eine Straßenlaterne ist. Der Schmerz durchzuckt mich wie ein Blitz und natürlich kommt jetzt der Bus um die Ecke gebogen.
Sofort nachdem ich eingestiegen bin, stelle ich den Busfahrer zur Rede: „War es etwa Ihre Absicht mir Schmerzen zu bereiten, mein Herr?“ „Aber natürlich war es das“, entgegnet der Busfahrer, „Diese ganze Busfahrt wird nur dazu da sein, um Ihnen den Tag zu vermiesen.“ Ich bemerke nicht, dass er mir danach einen Vogel zeigt, da ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, einen freien Platz zu ergattern. Und tatsächlich habe ich Glück. Als der Bus losfährt, habe ich einen Viererplatz für mich allein. Allerdings nur bis zur nächsten Haltestelle. Denn am Hauptbahnhof kommen die Menschenmassen und ich weiß jetzt schon, ich bekomme wie immer den unangenehmsten Sitznachbarn. Aber für einen kurzen Moment schöpfe ich Hoffnung, dass alles doch nicht so schlimm werden könnte, da der Mann, der sich neben mich setzt, zwar beleibt ist, doch mit den seinem schwarzen T-Shirt und den blauen Jeans recht durchschnittlich aussieht. Leider holt der Mann, sobald er es sich bequem gemacht hat, seinen MP3 Player aus der Tasche und steckt sich seine Stöpsel in die Ohren. Diese erfüllen allerdings nicht ihren eigentlichen Zweck. Da die Hardrock-Musik auf volle Lautstärke eingestellt ist, dringt diese Ohrenvergewaltigung gut hörbar an mein Trommelfell. Was gäbe ich jetzt für Udo Jürgens neben mir, anstatt dieser geschmacksverirrten Person.Und als würde die Lärmbelästigung nicht schon reichen, offenbart mir mein Sitznachbar auch noch, den Grund für seine Statur. Er knuspert sich nämlich regelrecht von Bushaltestelle zu Bushaltestelle. Es werden Chips, Schokolade und sonstige ungesunde Lebensmittel aus allen zur Verfügung stehenden Nischen geholt und verspeist.
Trotz dieser Kombination aus E-Gitarren Klängen, genüsslichem Schmatzen und Krümeln auf meinem schönen Anzug gelingt es mir ungewöhnlich lange, meine Geduld zu bewahren. Aber als der Mann zum großen Finale ansetzt und ich den Inhalt der braunen Tasche, die er auf seinen Schoß hebt erblicke, geht es mit mir durch. Empört über die etlichen Pringles-Dosen brülle ich meinem Nebenmann an: „Schön und gut, dass sie Musikliebhaber sind, aber ich empfinde es als sehr störend wenn ich mir diese Misstöne in meinem Ohr über die gesamte Fahrt gefallen lassen muss! Darüber hinaus ist Essen in diesem Bus nicht gestattet!“ Allerdings bringt mir dieser Auftritt außer den entsetzen Blicken einiger anderer Mitfahrer nichts, denn der Mann neben mir lauscht weiter seiner Musik, ohne mich, oder meine Worte wahrzunehmen. Da meine Bemühungen vergebens sind, muss ich von Hilfe von außen hoffen. Und tatsächlich scheint es so, als würde die am Forstbachweg kommen, als eine ältere Dame auf uns zukommt.
Ich muss ein Grinsen wegen der Schadenfreude verkneifen, denn gleich wird mein Nachbar diesen Behindertenausweis im Gesicht haben, in dem steht, dass der Besitzer zu 1,5% behindert ist und wird deshalb seinen Platz räumen müssen. Und dann sitzt eine stille, nicht Musik hörende Frau neben mir. Doch als sich die ältere Frau aber neben uns aufgebaut hat, habe ich auf einmal den Behindertenausweis im Gesicht. Dazu wird mir schon fast diabolisch gesagt: „Ich würde gerne am Fenster sitzen, junger Mann.“ Somit bin ich gezwungen, mich auf den Gang des Busses zu quälen, indem ich mich mühsam an den Knien meines Nachbarn vorbeischiebe, da der natürlich nicht aufsteht.
Frustriert stehe ich nun da. Wenigstens konnte ich mir einen Platz weit weg von den Hardrock-Klängen suchen. Als allerdings am alten Rathaus eine junge Frau mit Kinderwagen einsteigt, sehe ich mich mit der nächsten Person mit Kopfhörern neben mir konfrontiert, nämlich dem Baby im Kinderwagen.Zunächst starre ich verdutzt den Knirps an, der eigentlich die typischen Babylaute von sich gibt, allerdings in viel zu regelmäßigen Abständen, als das das normal sein könnte. Irgendwann kann ich dann nicht anders, als die Mutter zu fragen: „Gute Frau, hat es irgendetwas damit auf sich, dass ihr Kind Kopfhörer trägt?“ Stolz antwortet die Mutter: „Der Junge übt Englisch.“ Ich höre noch einmal ganz genau hin, aber eine Ähnlichkeit von Lauten wie „Dada“ oder „Laulu“ zu der englischen Sprache kann ich nicht feststellen. Als ich die Mutter deshalb weiterhin fragend ansehe, fügt sie hinzu: „Es ist eine Listen and Repeat-Übung. Und der kleine Heinrich macht das ganz toll!“ Ich bin entsetzt und versuche die junge Frau zur Vernunft zu bringen: „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich habe den Verdacht, dass Ihr Sohn einfach nur irgendwelche Laute ruft, sobald er die Stimme aus dem Kopfhörer hört.“ Jetzt habe ich die Mutter verärgert. Mit einem bellenden Ton entgegnet sie: „Nein, mein Heinrich ist hochbegabt! Es hapert nur etwas an der Aussprache, aber deswegen übt er das ja jetzt auch.“ „Woher wissen Sie denn, dass Ihr Sohn hochbegabt ist, in dem Alter?“ „Eine Mutter weiß sowas eben!“ Ich sehe ein, dass weitere Diskussionen keinen Sinn haben, nicke einfach nur und wende mich dann dem Fenster zu.
Bis zur Lohstraße habe ich dann endlich etwas Ruhe. Niemand redet mit mir. Es ist herrlich. Und am Sandweg kann ich mich auch wieder auf einen Vierer setzten. Doch dann, an der Haltestelle Bürgerhaus kommt der Horror! Der Bus wird überschwemmt, von Schülern, die im Rausch des Schulschlusses kreischen, spielen und toben. Es ist das Grauen. Und als wäre dieser nervtötende Lärm nicht schon genug, bin ich sofort von diesen kleinen Monstern umzingelt. Dann geht die Fragerei los. Aber bei Fragen so vielen banalen Fragen, wie „Wie heißt du?“ oder „Als was arbeitest du?“, die selbstverständlich immer mit „Das geht dich nichts an!“ beantwortet werden, wird man früher oder später bekloppt. Deshalb sehe ich mich gezwungen, zum letzten Mittel, das mir zur Verfügung steht, zu greifen. Obwohl ich alle Sklaven der Technik verabscheue, habe ich für Notfälle bei jeder Busfahrt einen IPod dabei, mit dem ich nun endlich kultivierten Klängen lauschen kann. Doch als ich ihn aus meiner Anzugstasche hervorhole, meint das Mädchen, das gegenüber von mir sitzt und nicht älter als neun Jahre sein kann, verächtlich: „Ich das dein IPod? Da hat ja selbst meine kleine Schwester einen größeren.“
Ich wurde gerade von einer Schülerin gedisst, wie sie es vermutlich sagen würde. Der Schock sitzt so tief, dass ich erst mal sprachlos verharre. Und dann bemerkt auch noch eine der Nervensägen, dass etwas an meiner Hand fehlt. Erstaunt sagt der Junge dann: „Du bist ja gar nicht verheiratet. Hat dich etwa keiner lieb?“ Das nutzt das Mädchen zum nächsten Hieb: „Mich würde es nicht wundern, wenn den keiner lieb hat.“ Mir ist zum Weinen zu Mute. Keine weitere Sekunde möchte ich in diesem Hexenkessel bleiben. Deshalb nutze ich die Gelegenheit, springe auf und hechte aus der sich gerade öffnenden Tür. Lieber laufe ich die paar Kilometer bis nach Hause, als das ich noch mehr komischen Gestalten in diesem Bus begegne. Der Busfahrer hat recht gehabt.
Fischgerichte am Anfang des Seins
Lilly schlug blindlings auf den grummelnden Schädel ein, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand. Kein anderes Souvenir war aus ihrer postkindlichen Gothic-Phase übriggeblieben, doch diesen Wecker hatte sie behalten. Daraufhin öffnete die junge Frau ermüdet die Augen und schubste ihren schwarzen Kater von der Decke, der es sich über Nacht auf ihrem Torso bequem gemacht hatte. Mit einem unglücklichen Miauen stob er aus dem Zimmer. Fast jeder Tag im Leben dieser jungen Frau startete auf diese Weise, doch der heutige Tag würde wie kein anderer verlaufen, und dessen war sie sich völlig bewusst. Ich bin hier, um euch die Geschichte der jungen Lilly zu erzählen, und wie sich an einem Tag alles, was sie bis dahin zu wissen glaubte, völlig auf den Kopf stellte.
Lilly räkelte sich aus ihrem Bett, tapste zu ihrem Wandschrank, und erschrak kurz, als sie ihre eigene Gestalt im großen Spiegel sah, der daran hing. Ihre Haut wirkte bleicher als je zuvor, dunkle Ringe umtobten ihre Augen und sie sah insgesamt aus, als wäre sie letzte Nacht verstorben. Sie schüttelte beklagend den Kopf, zog sich an und trat hinaus in ihr kleines Wohnzimmer, auf dessen Sofa immer noch die Dame lag, der Lilly ihren jetzigen Zustand zu verdanken hatte. Dann knurrte ihr Magen.
»Hättest du mir nicht wenigstens sagen können, wie ich an etwas zu Essen komme?«, beschwerte sie sich, doch das schlafende Wesen gab keine Antwort. Stattdessen erblickte Lilly den Sabber und wie er aus dem Mundwinkel der Halbfremden langsam auf das schwer zu reinigende Sofakissen floss.
Wenig später hatte Lilly ihre Wohnung verlassen und befand sich auf dem Weg zur städtischen Bibliothek, die sie sonst nur besuchte, um für ihr im Grunde völlig irrelevantes Studium zu recherchieren. Sie machte sich einige Sorgen und spätestens als sie vor den riesigen Pforten des schlossartigen, immensen Bauwerks stand, das einen Großteil der Bücher dieser Stadt enthielt, begannen ihre Beine zu bibbern. Früher – vor vielen Jahrzehnten – hatte es sich bei diesem Gebäude um einen Dom, eine riesige Kirche gehandelt, bis zur Umgestaltung.
»Kannst du etwa nicht rein?«, fragte ein alter Narr, der neben der Eingangspforte auf einer Bank saß und in die Morgenkälte hineinatmete. Lilly biss in ihren von ihrer Atemluft durchweichten Schal, während sie vorsichtig zu ihm schielte, um sicherzugehen, dass er mit ihr sprach. Er wies auf den Platz neben sich und irgendwie konnte die Frau nicht anders, als sich dort hinzusetzen.
»Bist wohl noch nicht lange Vampirin, was?«, nuschelte er in seinen grauen, störrischen Bart und jagte ihr gleichzeitig einen gehörigen Schrecken ein. »Sag bloß! Wie heißt du denn?«
»Woher«, fragte Lilly langsam, »wissen Sie, dass ich Vampirin bin?«
»Du trägst bei milden zehn Grad Kleidung, als wär tiefster Winter, deine Augen zeigen Zeichen einer Arteriophyxie, wie sie nur kurz nach der Verwandlung auftritt, dein Körper emitiert keinerlei Eigenwärme, du kannst ohne Einladung kein Gebäude betreten und deine Haare riechen nach Tod.«
»Das ist mein Shampoo!«, versuchte sich Lilly zu verteidigen, doch es schien nicht zu helfen. »Außerdem, das ist ein öffentliches Gebäude! Warum sollte ich eine Einladung brauchen?«
»Weil es mal eine Kirche war!«
Der Mann setzte sich den Detektivhut auf, der in seinem Schoß gelegen hatte, und steckte sich eine Pfeife in den Mund. »Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »was führt dich her?«
Lilly atmete tief ein und aus, bevor sie die Worte suchte, die ihre momentane Situation treffend beschreiben würden: »Ich suche nach einer Heilung für … für …«
Ihre Stimme brach kurz, doch der Alte ließ nicht ab. Dann sprach sie im Flüsterton weiter: »Wenn ein Vampir das Blut einer Jungfrau trinkt, dann … dann …«
»VAMPIRSEELENSCHWÄCHE?«, brüllte der Mann laut und Lilly fuhr furchtbar zusammen. »Bevor du ein Mädel aussaugst musst du doch fragen, ob sie …! Meine Güte, die Jugend von heute wird immer unvorsichtiger! Jedenfalls wirst du im offenen Okkultismusabschnitt der Bibliothek nichts finden. Es gibt aber einen Bereich der Bibliothek, der nur den Kreaturen der Nacht und ihren Alliierten zugänglich ist … dort könntest du möglicherweise fündig werden.«
Lilly sah hoffnungsvoll auf.
»Schau in der historischen Abteilung nach, in einer Ecke findest du die Literatur der Jahre 1887 bis 1889. Dort wurde ein Mechanismus installiert, der eine versteckte Tür zur geheimen Abteilung öffnet.«
»Was passiert, wenn den jemand durch Zufall findet?«
»Unfug! Wer liest schon Sekundenstil? Du musst einfach irgendein Buch herausziehen, dann öffnet sich die Tür.«
Daraufhin stand er auf, schritt zum Eingang der Bibliothek und hielt Lilly die Tür auf. »Sie mögen Eintreten, holde Dame!«
Mit einem Lächeln, das tote Hamster hätte erschrecken können, schritt sie dankbar an ihm vorbei.
Im Inneren des Gewölbes fand sie sein erschreckendes Durcheinander vor, das sich aber, wie es der Mann prophezeit hatte, immer weiter in Luft auflöste, je näher sie der Abteilung Naturalismus kam. Schwer atmend stand sie schließlich vor dem ersehnten Bücherregal, stupste an einem der Papierbündel herum und fand sich alsbald in einem dunklen, von Kerzenlicht beleuchteten Gang wieder, an dessen Ende ein Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren über ein Blatt Pergament gebeugt mit Tinte Zeichen auf ein Blatt Papier malte. Als sie Lilly erblickte, stand sie auf.
»Was bist du?«
»Vampirin«, antwortete Lilly.
»Vampirin? Nun, ich bin eine normale Menschin. Schön, dass du da bist. Was willst du hier?«
Das kohlrabenscharze, gelockte Haar des hübschen Mädchens umtänzelte ihren Kopf, während sie den Eingang hinter Lilly wieder zuschob. Dabei geriet ihr Blick auf die Bluse, die das Mädchen trug – sie bestand aus fein verarbeiteten unzählichen Fischschüppchen, die einen leuchtenden Meeresglanz ausstrahlten.
»Ein Heilmittel für … Vampirseelenschwäche …«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, du bist die dritte diesen Monat! Was ist so schwer daran, nachzufragen, bevor … Moment«, hielt sie inne und begann, an Lilly herumzuschnüffeln, die gerade ihre Jacke an den Haken gesteckt hatte, »du hast keine Vampirseelenschwäche! Bist du ein Junkie?«
»Es ist nicht für mich!«
»Natürlich nicht! Wann ist es das je?«, spottete sie. »Ich bin Amalia. Ich bringe dich zu unserem ›Arzt‹. Doch vorher musst du Handschuhe anziehen, sonst hält er dich für Material. Geh diesen Gang entlang, dann rechts, dann die Wendeltreppe herunter und dort die erste Tür links. Da ist die Umkleide. Bis gleich, ich komme nach.«
Lilly machte sich auf den beschriebenen Weg, und je weiter sie in den versteckten Komplex vordrang, desto mehr dumpfe Stimmen und Rufe konnte sie vernehmen. Einer der Räume stand sogar offen. Als sie hereinsah, erblickte sie eine Gruppe von Menschen, die einem schreienden Redner am Ende des langen Tisches zuhörten, wie er wild gestikulierte und die Leute mit seiner Spucke in seinen Bann zog.
»Jetzt wagt er es, wagt er es –«, erklärte er, »uns diese Beweisführung vorzulegen, UND DAS MIT EINER POLARISIERENDEN EINSEITIGKEIT, DIE MAN NICHTMAL« – er schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch – »VOM PLUSPOL EINES MAGNETEN ERWARTEN WÜRDE!«
Zustimmungsrufe erklangen, die Lilly das Signal gaben, weiterzulaufen. Neben der Tür hingen allerlei alte und versiffte Werbeplakate, von denen eines zum Besuch in der Kneipe »Zum persönlichen Tiefpunkt« einlud, und nach all dem, was die junge Vampirin in den letzten 24 Stunden erlebt hatte, klang dies nach genau dem richtigen Ort für sie.
Schließlich stand sie vor ihrem Ziel, klopfte kurz an und trat in die Umkleide ein. Doch was sie darin erblickte, entsprach absolut nicht ihren Vorstellungen. Lilly musste tief Luft holen, als sie sah, wie eine hübsche, völlig entblößte Meerjungfrau auf einem tischgroßen Grill laszierte, während um sie herum gut ein Dutzend bartierter, dicker Männer mit großen Fischmessern in ihrem Bauch und Oberkörper herumwühlten und die fleischlichen Erzeugnisse auf die heißen Kohlen legten.
»Was um alles in der Welt tut ihr da?!«, rief Lilly und erregte damit die Aufmerksamkeit von gut der Hälfte der Personen, inklusive der Meerjungfrau. Dann rief ein besonders stämmiger Bursche ihr zu:
»Naja, kennst du das nicht, in Japan, wie heißt das? Die essen da Sushi vom Körper junger Mädchen! Wir wollten das auch mal ausprobieren.«
»Das macht ihr falsch!«, rief Lilly, und bemerkte, dass Amalia neben ihr in den Raum getreten war und sie herauswinkte.
»Tut mir leid, ich meinte den anderen Raum«, antwortete sie und wies auf die Tür neben sich.
»Was … was …«
»Ach, mach dir keine Sorgen um Reliqua«, erklärte Amalia. »So wie ich sie kenne, wächst das nach.«
»Wie du sie kennst? Was hast du ihr angetan?«, fuhr Lilly sie entgeistert an und betrachtete Amalias Fischschuppenbluse.
Letztendlich verbrachte Amalia nicht länger als unbedingt nötig in der »Umkleide«, bis sie mit einem Paar weißer Handschuhe hinaustrat und sie Lilly zuwarf. Diese fing sie auf und zog sie sich an, damit sie sich weiter auf den Weg machen konnten.
»Wie findest du das Leben als Vampirin so? Seit wann bist du eine?«
Lilly dachte kurz darüber nacht. Sie wusste nicht, was sie darauf hätte antworten können, aber sie hatte so einiges an Fragen. Nur hatte sie eins verstanden: So sonderbar dieser Ort auch sein mochte, Antworten würde sie hier am ehesten finden. »Erst seit gestern. Ich wurde sozusagen überrumpelt.«
»So ist das also! Ja, so wie du herumläufst, kann man sich das schon fast denken.«
Lilly entschloss sich, nicht lange drumherumzureden. Ihr Magen knurrte schon seit geraumer Zeit. »Woher kriege ich Blut?«
Amalia blieb stehen und schaute sie an. »Na, woher wohl? Aber woher willst du denn wissen, dass du Blut brauchst?«
»Ich bin eine Vampirin.«
»Ja, das stimmt. Aber warum glaubst du, alle Vampire würden Blut trinken! Ha! Vampire saugen Menschen aus, ja, aber nicht jeder Mensch hat Blut in seinem Körper.«
Als Amalia den verwirrten Blick des Mädchens vor ihr sah, hielt sie ihren linken Arm vor sich, direkt vor das Gesicht ihrer bleichen Begleitung. Diese versuchte zwar erst, zurückzuweichen, fand sich aber schnell mit dem Rücken zur Wand vor, und so blieb ihr nichts übrig, als sie machen zu lassen. Amalia öffnete mit der Hand Lillys Mund, platzierte ihren Unterarm darin und presste ihr Kinn nach oben, sodass die dünnen Zähne der Vampirin ihren Weg durch die Haut fanden.
»Bananensaft?!«, stieß sie, kaum hatte sie den Lebenssaft gekostet, aus und schlug versehentlich ihren Kopf gegen die Mauer. Dann sah sie, wie die helle Flüssigkeit aus den Punktionswunden floss. »Du sagtest du wärst ein normaler Mensch!«
Das Bananenmädchen schüttelte den Kopf. »Typisch, kaum hat man kein Blut, wird man nicht mehr als normal bezeichnet. Schämst du dich nicht für deinen Faschismus?«
Lilly konnte die Absurdität dessen, was Amalia da erzählte, kaum begreifen. »Ich weiß es nicht, aber da es eine rhetorische Frage war, kann ich mir die Antwort auch ganz sparen.«
»Woher willst du überhaupt wissen, dass du Blut hast? Vielleicht ist es bei dir auch Bananensaft.«
Lilly schüttelte den Kopf. »Nein, meins war immer rot.«
»Dann ist es vielleicht Wein. Das würde erklären, warum du so schwer von Begriff bist. Brummt dir manchmal der Schädel? Wachst du morgens mit einem Kater auf? Das wären sichere Indizien.«
Lilly entschloss sich, einfach gar nicht darauf einzugehen und lieber zu warten, bis sie zum Arzt fand – hoffentlich einer vernünftigen Person in diesen seltsamen Gewölben.
Schließlich traten beide in einen karg blassblau beleuchteten, modernen Raum ein, in dem sich lediglich eine einzige Person befand – ein junger, charmant aussehender Kerl, der vor einem PC-Bildschirm saß und wild auf die Tastatur einschlug.
»Das gibt es doch nicht!«, rief er frustriert. »Ich habe einen Quadcore und kann Tetris trotzdem nicht ruckelfrei spielen!«
Erst dann bemerkte er die beiden Damen, die sich auf seine Station begeben hatten, nahm seine Brille ab und nickte ihnen zu. Gleichzeitig schlug er kurz zum Abschied gegen die Tischkante, als ob er seinen Ärger so versiegeln konnte, bis er aufstand und das Wort an die Neuankömmlinge richtete.
»Hallo Amalia, wie kann ich helfen?«
»Ähm«, schaltete sich Lilly ein, »ich brauche Hilfe – naja, also, zuhause auf meinem Sofa liegt ein Mädchen, das mich gestern zu einem Vampir gemacht hat … wir hatten uns im Park getroffen und naja … ich, wenn ich gewusst hätte …«
»Mach dir keine Sorgen, die Eingewöhnungsphase geht schnell vorbei«, erklärte er. »Du kannst jederzeit vorbeikommen, wenn du etwas brauchst, zumindest wenn dich dein erster Besuch hier nicht zu sehr abgeschreckt hat. Falls du deines Lebens irgendwann müde bist, dann sag bitte bescheid, ich kann neue Körperteile immer gut gebrauchen.«
Nach diesen beruhigenden Worten kramte er ein wenig in seinem Medizinschrank, als wisse er genau, wonach er suchen musste. Kurz darauf trat Amalia zu ihm, sie tuschelten ein wenig und er nahm ein kleines Fläschchen, das er dem Mädchen in die Hand legte.
Lilly hatte all das durcheinander sehr mitgenommen. Nie hätte sie gedacht, dass sich ihr Leben so schnell würde auf den Kopf stellen können. Einmal war sie unachtsam gewesen, und schon stellte sich die Frage, ob sie überhaupt weiter Steuern zahlen müsse oder sie als Kreatur der Nacht von ihnen ausgenommen werden konnte (nicht, dass sie als Studentin überhaupt Steuern zahlen würde – es war eher das Prinzip, über das sie sich Gedanken machte).
Als glückliche Besitzerin eines Heilmittels für Vampire schritt Lilly nur wenige Minuten später gemeinsam mit Amalia wieder aus dem Krankenzimmer heraus.
»Brauchst du sonst noch etwas?«
»Nein, das sollte alles gewesen sein«, lächelte die Vampirin, die nun, da sie ihre Aufgabe erledigt hatte, deutlich mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen konnte.
»Nagut. Dann bringe ich dich mal wieder nach draußen. Vergiss nicht, dass du noch etwas essen musst. Willst du ein wenig Bananensaft?«
Amalia machte ihren Hals frei und bot ihn feil, doch Lilly schüttelte den Kopf, obwohl es ihr ein wenig schwer fiel, den Blick abzuwenden, da sie die Flüssigkeit in den Adern des Mädchens fließen spüren konnte.
»Weißt du, ich möchte eine gute Vampirin sein. Ich sauge niemanden aus, töte keine Leute, und erschaffe keine neuen Untiere. Ich werde meine Moral nicht aufgrund so einer Sache in Frage stellen.«
»Es ist doch nichts falsch daran, Leute auszusaugen, die kein Blut haben«, antwortete Amalia. »Aber wie du meinst. Ich wünsche dir dabei viel Erfolg.«
Mittlerweile befanden sie sich wieder am Ausgang aus dem Untergrundgewölbe, der zurück zur regulären Bibliothek führte. Ich muss zugeben, ich wäre gerne dabei gewesen. Stattdessen habe ich Lillys kompletten ersten Vampirlebenstag in ihrem eigenen Sofa verschlafen. Doch sie hat Aufsehen erregt – Geschichten über ihre Taten hörte ich im Untergrund noch wochenlang, aber mit denen werde ich andere Abende füllen. Was Lilly und mich anging: Wir blieben trotz aller Widrigkeiten noch lange Zeit ein Paar, bis wir uns irgendwann um einen falsch angelegten Investment-Fonds in die Haare kriegten und zerstritten (die Erzeugnisse haben wir natürlich unserem charmanten Doktor zukommen lassen).
»Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Lilly schließlich von Amalia und streckte ihre Hand aus – um kurz darauf furchtbar von einer geisterhaften Silhouette erschreckt zu werden, die zwischen ihnen beiden durch den Gang schwebte und zu einem Drittel aus Mensch, einem Drittel aus Fisch und einem Drittel aus gar nichts bestand.
»Oh, Reliqua«, murmelte Amalia überrascht, als sie den Geist erkannte. »Scheinbar wächst nicht alles an ihr nach …«
Die Moral von der Geschicht
Lasst mich euch eine Geschichte erzählen.
Was für eine Geschichte?
Nun, ihr wollt sicher eine hören voller Abenteuer, Heldentaten. Von Prinzessinnen, die von Drachen entführt und von Rittern gerettet werden. Von glutäugigen Bösewichten, die keine Schandtat fürchten, um die Welt zu unterjochen. Von feenhaften Geschöpfen, denen jedes männliche (und oftmals auch jedes weibliche) Wesen verfällt.
Vielleicht würde euch auch eine Geschichte gefallen, die von den gefürchtetsten Piraten dieser Weltmeere handelt, die auf der Suche nach dem Schatz sind, der nur ehrfürchtig „Ein Stück“ im Volksmund genannt wird.
Ich könnte euch auch eine Geschichte von Ninjas, die im Schatten wandeln und sich in rosahaarige Kriegerinnen verlieben, erzählen (Aber wer will so etwas schon hören? Ich bitte euch.).
All diese wundervollen und, dies muss betont werden, höchst unterhaltsamen Geschichten könnte ich euch erzählen. Mit Spannung, Humor und zum Schluss einer Moral im Hinterstübchen würden sie sicherlich den gewünschten Eindruck bei euch hinterlassen.
Aber diese Geschichten sind nicht die Wahren. Und heute bin ich hier, um euch eine wahre Geschichte zu erzählen, eine, die sich überall auf der Welt ereignen kann und die ihr gewiss schon das ein oder andere Mal miterlebt haben werdet (Mit oder ohne euer Einverständnis, so befürchte ich.).
Nun höret und staunt, was ich euch zu Berichten habe, meine liebe Bisaboard-Community...
Als Lucinda mit ihren Fingernägeln, die etwa zwanzig Zentimeter lang waren und in einem blutigen Rotton lackiert, dem bebrillten Mädchen durchs Gesicht fuhr, hinterließ sie fünf lange Schrammen. Zuerst passiert nichts.
Kein Schmerzensschrei, ausgestoßen in unbändiger Pein. Kein schrilles Lachen. Nicht einmal ein verhaltenes Kichern geisterte durch die Schulflure der High School in Blütenburg City. Das Einzige, was einen stetigen Laut erzeugte, war das Tropfen des Blutes hinab vom Gesicht des Mädchens. Es war gerade eben zum neusten Opfer von Lucinda geworden.
Aber anstatt nun augenblicklich in Krokodilstränen auszubrechen, stand sie bewegungslos da und schwieg. Mit jeder Minute, die so verging, wurde Lucinda ungeduldiger und zunehmend unausgeglichener.
Bis sie dann explodierte.
Ihre Hand mit den vier Ringen klatschte hörbar auf die rechte Wange des Mädchens vor ihr. Diese wurde von der Wucht des Schlags nach hinten geschleudert, wo sie in eines der tausend Schließfächer knallte. Dabei fielen ihr die Bücher, die sie getragen hatte, auf den Boden und verteilten sich überall im Flur. Während sie völlig fassungslos zu der Blondie hochsah, lachte diese schallend.
Lucinda warf mit einem triumphierenden Lächeln ihre hüftlangen, strohblonden Haare nach hinten und stolzierte davon.
Dieser Tag würde hervorragend zum Intrigenspinnen werden.
Dass spürte sie.
Dies ist unsere Heldin, Lucinda.
Was sagt ihr da voller Empörung? Dies ist keine feenhafte Erscheinung, keine tapfere Kriegerin, nein, nicht einmal eine naive Prinzessin?
Nun, da stimme ich euch zu. Lucinda ist keine Heldin, mit welcher man mitfiebert, weint um den Verlust und den Schmerz und mit ihr zieht man auch nicht voller Mut in die nächstgelegene Drachenhöhle (Hier sollte einmal angemerkt werden, dass es in dieser Geschichte keine Drachenhöhle geben wird. Nicht mal ein Drachenloch.).
Aber sie ist auch kein glutäugiger Bösewicht, der die Welt unter sich knien sehen will.
Ihr seid enttäuscht und empört, ich verstehe. Aber um den Sinn dieser Erzählung verstehen und nachvollziehen zu können, braucht ihr die Unterstützung unserer Heldin... nun gut, dann nennen wir sie eben Anti-Heldin Lucinda. Wie sonst wollt ihr das atemberaubende Ausmaß dieser Geschichte verstehen?
Also, seid weise (oder zumindest nicht dümmlich genug, mich weiterhin zu reizen mit eurer Nörgelei) und lauscht...
Der Vormittag verging ohne besondere Ereignisse. Im Unterricht zu Kampftechnik feilte Lucinda sich die Nägel, während ihr Lehrer vorne am Pult um die Aufmerksamkeit seiner Schüler kämpfte und sein Begleiterpokemon, ein noch nicht ausgewachsenes Trasla, sich verschreckt unter dem Pult versteckte. Ein paar Jungs machten sich einen Spaß daraus, es mit feuchten, angesabberten Papierkügelchen abzuwerfen. Doch für Lucinda war das unter ihrer Würde.
So überstand sie fünf langweilige Stunden, um dann in der Mittagspause mit stolz erhobenem Kinn in die Kantine zu stolzieren. Der Lärm, der bis dahin noch fast das Gebäude gesprengt hatte, verstummte und wurde zu einem unverständlichen Gemurmel. Das Mädchen zog sämtliche Blicke auf sich, die jedoch alle keineswegs bewundern gemeint waren.
Abscheu traf es wohl eher.
Lucinda war gefürchtet. Sie stand in dem Ruf, zickig, angeberisch und absolut unumgänglich zu sein im Miteinander mit Mensch und Pokemon. Jeder, der vernünftig war und seine Schulzeit ohne Gerüchte oder einem geschädigtem Ruf überstehen wollte, ging der Blondine aus dem Weg. Dies wussten sowohl Schüler als auch Lehrkräfte.
Sie hatte einen gewissen Respekt an der Schule. Zumindest dachte Lucinda dies stolz. Dass dieser Respekt wohl eher als Hass angelegt war, war ihr nicht klar. Und wenn doch, so scherte sie sich nicht im Geringsten darum.
Immer wieder betonte Lucinda auch gerne, dass sie, ganz gleich mit welchen Noten, einen überdurchschnittlichen Schulabschluss erlangen würde, da ihr Vater Arenaleiter in Jotho war und somit über genügend Geld und Einfluss verfügte, um seiner geliebten und einzigen Tochter eine gesicherte Zukunft zu vermitteln. Ebenso stand es mit Pokemon: Das Mädchen erhielt jedes Pokemon, was sie wollte. Selbst fangen musste sie diese nicht, hatte ihr Vater doch extra die besten Trainer des Landes für diesen Job eingestellt. Deshalb war Lucinda, obwohl sie eine Niete war was Kampftechnik, Typen und Items darstellte, unbesiegbar, denn ihre Pokemon waren hochgelevelt und ausgesprochen gut trainiert.
Nicht von ihr, verstand sich.
Und so saß sie in der Kantine am größten Tisch, umringt von braun gebrannten Mädchen in kurzen Röcken, die an ihren mit Lipgloss beschmierten Lippen klebten. Insgeheim jedoch wünschte ihr jeder der Anwesenden, mit keiner Ausnahme, den Tod.
Wenn sie doch nur geahnt hätte, wie dicht dieser bereits hinter dem Mädchen stand...
Als sie am Abend nach Hause kam, schnurrte ihr Eneco schon um die Beine. Es hatte Hunger, und Lucinda stöhnte genervt auf, als das Pokemon Haare auf ihrer neuen Jeans hinterließ. Doch ein Blick in die Räume des Hauses zeigte ihr, dass niemand außer ihr und dem Pokemon Zuhause war. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als das Pokemon selbst zu füttern.
Seufzend und leise vor sich hin fluchend stieg sie die Treppe hinauf, kramte im Schrank nach dem Futter und füllte es in den Blechnapf.
Sie nahm ihn in die Hand und bewegte sich Richtung Treppe.
Was als Nächstes geschah, war ebenso widernatürlich wie komisch – zumindest in den Augen Anderer.
Und nun hört gut zu. Denn ein jeder Mensch, wenn er böse handelt oder gegen den Sinn des Schicksals, bekommt augenblicklich die Rechnung.
Das Mädchen sah nicht das Eneco, welches ihr erneut um die Beine streichen wollte und stolperte über das Pokemon. Sie geriet ins Schwanken, stolperte einige Schritte nach vorn – und ihr Fuß schwebte über dem Treppenabsatz. Der Blechnapf fiel krachend zu Boden, als die Blondine taumelte und dann kopfüber die Treppe hinunterfiel. Bei jeder Stufe überschlug Lucinda sich, ihr Kopf krachte jedes Mal gegen das Holz der Stufen. Als sie unten mit dem Gesicht nach oben hin ankam, erklang ein hörbares Knacken – dann war es vorbei.
Lucinda lag reglos da, ihr leerer Blick gen Decke gerichtet.
Oben am Treppenabsatz saß Eneco. Es blickte einen Moment zu seiner Besitzerin hinunter; dann machte es sich hungrig über den Inhalt des heruntergefallenen Blechnapfs her. Als es fertig gegessen hatte, hüpfte es die Treppenstufen hinunter zu seiner leblosen Besitzerin.
Schnurrend legte es sich auf deren Brustkorb und machte zufrieden die Augen zu.
Und was ist die Moral von der Geschicht? (Halbe Eier rollen nicht! … Nein, ihr habt Recht. Dass ist nicht passend, auch, wenn es überaus humorvoll ist.)
Macht euch niemals, liebe User, das Schicksal zum Feind. Und seid nett, entgegenkommend und geduldig mit euren Mitmenschen (Zumindest, solange ihr von jemandem beobachtet werdet. Was ihr allein Zuhause in eurem Zimmer tut, ist nicht von Belang.). Ansonsten werdet ihr einen wahrhaft lächerlichen Tod sterben.
Dies war die Geschichte von Lucinda, dem Mädchen, welches bei niemandem beliebt war und meinte, mit Hohn kommt man im Leben weiter.
Ich danke euch vielmals für eure Aufmerksamkeit (Und, war diese Geschichte nicht wirklich unterhaltsamer als die vom Drachen und der Prinzessin?).