Willkommen beim Vote zum expressiven, epischen und enigmatischen Wettbewerb über das spannende Thema Graffiti!
Findet heraus, welche interessanten Werke es dieses Mal ins Rennen geschafft haben und wie sich die malerische Schreibkunst entfaltet. Viel Spaß und natürlich auch viel Erfolg an die Teilnehmenden. Wir freuen uns auf eure Votes!
Die Aufgabenstellung lautete:
Bei diesem Wettbewerb dreht sich alles um das Thema Graffiti! Von Banksy über Tattoos bis zu den Wänden mit Tags, die sogar eine ganze Geschichte erzählen können. Die Unterschriften von Künstler*innen einer Stadt, die Zeitgeschichte, Kritik an der Gesellschaft oder vielleicht auch einfach ein Mittel, um sich zu verewigen? Mit Graffiti verbinden die meisten etwas, sei es positiv oder negativ, und wir wollen von euch eine epische Geschichte über diese Kunstform! Sei es Fiktion oder Realität, hauptsache eine Geschichte in der Gattungsform Epik, also einem Fließtext über Graffiti. Pokémon-Bezug ist optional, also nicht nötig, und die maximale Wortzahl beträgt 2000 Wörter. Und nun ran an die Dosen und sprüht eure Vorstellung auf die Leinwände und Mauern dieser Veranstaltung!
Die wichtigsten Informationen zum Vote findet ihr hier kurz zusammengefasst:
- Voten könnt ihr bis zum 18.08., um 23:59 Uhr.
- Vergebt für jede Abgabe Punkte zwischen 1 (gefällt mir nicht) und 10 (gefällt mir sehr gut).
- Es ist auch möglich, halbe Punkte (z.B. 2,5 Punkte) zu nutzen.
- Dieser Wettbewerb findet anonym statt. Vergebt deshalb bitte auch für eure eigene Abgabe Punkte. Punkte, die ihr an eure eigene Abgabe vergebt, werden nicht gezählt. Stattdessen erhaltet ihr einen Punkteausgleich.
- Begründungen sind nicht verpflichtend, aber gerne gesehen. Wenn ihr eine Begründung schreiben möchtet, findet ihr in unseren Tipps zum Voten ein paar Anregungen. Für einen begründeten Vote könnt ihr zudem eine Medaille vom Typ Fee beantragen.
- Nutzt für euren Vote bitte die folgende Voteschablone:
Abgabe 01: xx/10
Abgabe 02: xx/10
Abgabe 03: xx/10
Abgabe 04: xx/10
Abgabe 05: xx/10
Abgabe 06: xx/10
Luna konnte nicht mehr schlafen. Die Sonne musste sich gerade erst dem Horizont entgegen senken, aber sie wurde einfach unruhig. Gestern noch hatte Seher eine neue Prophezeiung gelesen. Das Licht würde den Weg zeigen, hatte er gesagt, nachdem die Bilder der Sterne auf der Heiligen Wand erschienen waren. Und auch wenn jetzt noch keine echten Sterne am Himmel waren, musste Luna einfach raus, um ja keinen Hinweis zu verpassen.
Luna war schon immer fasziniert von den Prophezeiungen gewesen. Jeden Abend lief sie als erstes aus ihrer Höhle raus und betrachtete die Heilige Wand. Für die kleine Maus war es fast, als würde sie sich unendlich weit erstrecken. Das Besondere daran war jedoch, dass die Götter auf diese Art mit dem Mäuserudel kommunizierten. Nicht nur einmal war Luna diejenige gewesen, die zu Seher gehuscht war, um ihm von Veränderungen zu erzählen. Wenn ein neues Zeichen oder abstrakte Schrift erschien, war es die Aufgabe von Seher, sie zu deuten. Weiße Mäuse hatten schon immer eine besondere Beziehung zu den Prophezeiungen der Götter gehabt. Doch obwohl sie selbst eine dunkelgraue Färbung hatte, ließ Luna sich nicht davon abhalten, alles über die Heilige Wand zu lernen.
Luna flitzte durch die Gänge, bemüht niemanden zu wecken, doch als sie ins Freie trat, blieb sie abrupt stehen. Vor ihr erstreckte sich die Heilige Wand; doch wo gestern noch Schrift umgeben von Sternen zu sehen war, war jetzt nichts. Absolut gar nichts. Ungläubig starrte Luna auf das Weiß, das sich vor ihr ausbreitete. Die Heilige Wand war leer!
Ein schrilles Fiepen entfuhr Lunas Kehle und riss sie gleichzeitig aus ihrer Schockstarre. Völlig aufgelöst drehte sie sich um und lief zurück in die Höhle. Diesmal achtete sie nicht darauf, wohin sie trat. Ihre Jagd durch die Gänge wurde ab und an von einem Quietschen begleitet, wann immer sie auf fremde Schwänze trat, aber das war ihr egal. Sie musste so schnell es ging zu Seher. Er würde wissen, was die leere Wand zu bedeuten hatte. Oder?
Plötzlich stolperte Luna, die Höhle schien sich um sie zu drehen, während sie über den Boden purzelte. Verdattert blieb sie liegen, bis sich eine vertraute Stimme bei ihr beschwerte: „Luna, du bringst mich irgendwann noch um!“
„Boris!“ Luna erkannte ihren besten Freund sofort. „Ich kann jetzt nicht. Ich muss zu Seher. Sofort!“
Ohne weiter auf Boris zu achten, rappelte Luna sich auf und lief wieder los. Boris aber blieb ihr auf den Fersen. „Luna, was ist los?“
„Die Heilige Wand“, keuchte Luna. Sie wusste, dass das keine ausreichende Erklärung war, aber sie konnte jetzt nicht stehenbleiben, um Boris alles zu erklären. Wenn er sie weiterhin verfolgte, würde er es eh erfahren, sobald sie Seher davon berichtete.
Etwas außer Atem kam sie schließlich in Sehers Bau zum Stehen. Die weiße Maus war wie sie schon auf den Beinen, allerdings noch mit einer ausgiebigen Wäsche beschäftigt. Schmunzelnd wandte er sich an die Neuankömmlinge: „Luna! Gibt es wieder eine neue Prophezeiung zu deuten?“
„Ja. Nein. Ich … Die Wand ist leer!“, platzte es aus ihr heraus.
Seher stockte in der Bewegung und auch Boris war geschockt. „Die Heilige Wand ist niemals leer“, warf er ein.
„Sie ist leer“, betonte Luna. „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
Mindestens genauso schnell wie Luna zu ihm gelaufen war, setzte sich nun Seher in Bewegung und huschte zum Ausgang der Höhle, Luna und Boris dicht hinter ihm. „Unglaublich“, entfuhr es der weißen Maus, als sie zum Stehen kamen.
Schon kurze Zeit später war das ganze Rudel vor der Höhle versammelt. Das besorgte Murmeln zog sich durch die Reihen. Alle warteten angespannt darauf, dass Seher die Leere interpretieren würde. Dieser lief immer wieder vor der Heiligen Wand auf und ab. Als er schließlich zum Stehen kam, erstarben auch alle Geräusche der Mäuse und nur der Abendwind rauschte noch durch die Gräser, die sie umgaben.
„Ich habe alles getan, um die neue Prophezeiung zu ergründen.“ Sehers Stimme hallte laut durch die Stille. „Aber die Götter schweigen. Ab jetzt sind wir auf uns gestellt.“
Hier und da hörte man entsetztes Luftschnappen, als sich die ersten Mäuse von dem Schock erholten. Aufgeregtes Getuschel und sogar das ein oder andere Schluchzen erhob sich aus der Menge. „Ist das wirklich war?“, fragten manche. „Die Götter haben uns verlassen!“, klagten andere.
Luna stand da und konnte sich nicht rühren. Das konnte nicht sein. Diese weiße Wand musste irgendetwas bedeuten. Es konnte nicht sein, dass die Götter ihnen einfach überhaupt nichts sagen wollten. Das war einfach nicht möglich!
„Luna?“ Vorsichtig stieß Boris sie in die Seite und erst jetzt merkte Luna, dass sich die meisten bereits wieder ihren nächtlichen Pflichten zuwendeten. Hatte sie Sehers weitere Erklärungen verpasst, während sie wie gebannt auf das Weiß starrte und versuchte, einen Sinn darin zu sehen?
Luna ließ ihren Blick über ihr Rudel schweifen. Alle wirkten niedergeschlagen oder verunsichert. Es war, als hätte die Heilige Wand allen ihren Lebensmut genommen. Das war nicht richtig! Und plötzlich wusste Luna, was sie zu tun hatte. „Ich werde wachbleiben!“, sagte sie zu Boris.
„Was?“ Entgeistert starrte ihr Freund sie an. „Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Wir bleiben tagsüber nicht wach. Tagsüber kommen die Zweibeiner.“
„Ich muss wissen, was mit den Göttern ist“, beharrte Luna, auch wenn sie die Angst in sich brodeln fühlte. Sie durfte sich nicht davon abhalten lassen. Sie musste es für ihr Rudel tun.
„Seher hat gesagt, die Götter haben uns verlassen. Wachzubleiben bringt nichts außer Schrecken!“
„Seher hat gesagt, die Leere ist keine Botschaft der Götter“, entgegnete Luna. „Sie werden wiederkommen!“ Sie wusste, sie klang deutlich sicherer, als sie sich fühlte, aber das war nicht wichtig. Solange es noch Hoffnung gab, würde sie nicht aufgeben.
Boris sah nicht glücklich aus. „Du solltest auf keinen Fall alleine gehen.“
„Danke, danke, danke!“ Stürmisch fiel Luna über ihren besten Freund her. Sie hatte wirklich Angst davor gehabt, sich alleine dem Unbekannten zu stellen, aber mit Boris an ihrer Seite würde es nur halb so schlimm werden.
„Ich hab’s ja gesagt“, seufzte Boris, „irgendwann wirst du mich noch umbringen.“
Luna hatte wirklich versucht, in dieser Nacht noch etwas zu schlafen, aber sie war viel zu aufgeregt gewesen, um auch nur die Augen zu schließen. Jetzt, da sie neben Boris auf einem kleinen Hügel hockte und die Sonne ihr auf den Pelz brannte, fiel es ihr zunehmend schwer, sie offen zu halten. Immer wieder sanken ihre Lider, aber Luna zwang sich dazu, die Heilige Wand vor sich im Blick zu behalten. Würde sie jetzt einschlafen, wäre niemandem geholfen.
Plötzlich drangen unbekannte Geräusche an ihre Ohren.
„Was ist das?“ Auch Boris hatte es gehört und kauerte sich näher an Luna heran.
„Ich weiß es nicht. Aber vielleicht –“
Sie kam nicht dazu, ihren Gedanken zu Ende zu bringen, denn zwei Zweibeiner kamen über ihre Wiese gelaufen. Sie hatten seltsame Säcke auf den Rücken, die sie abwarfen, ehe sie darin zu wühlen begannen.
„Was ist wenn die Zweibeiner die Götter vertrieben haben?“, fragte Boris ängstlich, doch Luna ging nicht auf ihn ein. Fasziniert beobachtete sie, wie die Zweibeiner riesige Samen aus den Säcken holten und begannen, diese zu schütteln.
„Luna.“ Boris stupste sie in die Seite. „Mir gefällt das nicht, wir sollten lieber wieder zurück in die Höhle.“
„Boris, schau!“
Luna deutete mit dem Schwanz zu den beiden Zweibeinern, die sich nun direkt vor der Heiligen Wand positioniert hatten und die seltsamen Samen vor sich hielten. Schließlich nickten sie sich zu, als würden sie sich über irgendetwas abstimmen. Luna wusste, dass gleich etwas Bedeutsames passieren würde.
Im nächsten Augenblick begann es, aber anders als Luna erwartet hatte. Der Gestank, der herüberwehte, nahm einen Moment lang alles ein und sie musste sich konzentrieren, um wieder etwas anderes wahrzunehmen. Neben ihr hustete Boris und Luna drückte sich an ihn, um ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war. Ihr Blick jedoch war stur geradeaus gerichtet und sie beobachtete, wie Farbe aus den Samen schoss, die die Zweibeiner in der Hand hielten. Farbe, die sich auf der Heiligen Wand zu Formen zusammensetzte. Es schien in Zeitlupe vonstatten zu gehen, aber nach und nach entstand eine neue Prophezeiung.
„Ich sag’s doch!“, sagte Boris, als er sich von seinem Husten erholt hatte. „Die Zweibeiner beschmieren die Heilige Wand. Sie beleidigen die Götter!“
„Oder die Zweibeiner sind die Götter.“
Erst als der Satz ihren Mund verlassen hatte, verstand Luna, was sie da gesagt hatte. Boris geschockter Gesichtsausdruck spiegelte ihre innere Überraschung. „Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“
„Es wäre doch möglich, oder?“, fragte Luna, hörte sich aber lange nicht so sicher an wie zuvor.
„Luna, Zweibeiner sind gefährlich, sie können keine Götter sein. Sie müssen sie vertrieben haben!“
„Ich weiß nicht, ich …“ Wenn sie ehrlich mit sich war, wusste sie gar nichts mehr. Konnte es wirklich sein, dass die Zweibeiner die Götter waren, die ihnen die Prophezeiungen schickten? Oder hatte Boris recht und die Zweibeiner hatten die Götter nur vertrieben und in ihren Bildern lag nicht der Hauch einer Vorhersage?
Luna blinzelte, als das Sonnenlicht von einem der Samen reflektiert wurde und sie blendete. „Das Licht zeigt den Weg“, murmelte sie.
„Was?“
„Das Licht zeigt den Weg. Das war die letzte Prophezeiung“, wiederholte Luna lauter. Überzeugter. „Ob die Zweibeiner die Götter sind oder nicht, ich glaube, es ist wichtig, dass wir hier sind. Im Sonnenlicht.“
„Aber die Zweibeiner …“
„Und wenn schon?“ Plötzlich war Luna alles klar. „Vielleicht hast du recht und die Götter kommen nicht wieder. Aber sieh‘ doch nur! Die Heilige Wand bleibt die Heilige Wand. Es wird weiterhin Prophezeiungen geben. Und die Götter wollten, dass wir es sehen.“
Ungläubig starrte Boris in Richtung der Zweibeiner, die noch immer Farbe um Farbe auf der Heiligen Wand verteilten. „Vielleicht“, begann er unsicher, wurde dann aber bestimmter, „vielleicht leiten die Götter auch die Pfoten der Zweibeiner, sodass sie die richtigen Zeichen malen.“
„Genau!“, stimmte Luna ihm zu. „Und das Weiß, das waren die Zweibeiner ohne die Hilfe der Götter. Deshalb haben sie uns darüber nichts mitgeteilt!“
„Und wenn es nicht so ist?“
Obwohl Luna sich vor dieser Frage fürchtete, nahm sie sich Zeit, um darüber nachzudenken. „Wenn nicht“, sagte sie schließlich, „dann ist es auch nicht so schlimm. Die Prophezeiungen helfen uns. Sie bestimmen nicht unser Leben. Erinnerst du dich, als es hieß ‚Das Ende naht‘? Alle hatten Angst, aber dann war es nur das Ende des Winters. Seitdem sind alle viel freier und ich hab sogar schon gehört, dass zwei Mäuse die Prophezeiungen völlig verschieden ausgelegt haben und trotzdem beide wahr wurden. Die Götter zeigen uns den Weg, aber wir müssen ihn gehen.“
Einen Moment blieb die Unsicherheit in Boris‘ Zügen, dann entspannte er sich. „Wir sind dem Licht gefolgt“, sagte er. „Und die Götter haben uns gezeigt, dass neue Zeichen kommen.“
„Und heute Abend wird Seher sie deuten.“
„Und sagen wir, was wir gesehen haben?“ Boris schien sich bei dem Gedanken deutlich unwohl zu fühlen.
„Nein“, entschied Luna. „Das Licht zeigt den Weg. Es liegt nicht an uns, ihn für andere zu gehen.“
Boris wirkte erleichtert, was sich nur noch einmal verstärkte, als Luna meinte, sie könnten jetzt endlich schlafen gehen. „Die nächste Prophezeiung möchte ich auf keinen Fall verpassen.“
Das Rudel war bereits vor der Heiligen Wand versammelt, als Luna und Boris sich zu ihnen gesellten. Hätte er sie nicht geweckt, hätte sie vermutlich verschlafen. Zum ersten Mal überhaupt. Nun aber drängelte sie sich nach vorne, als Seher zu sprechen begann.
„Ihr hattet Angst“, sagte er. „Wir hatten Angst. Die Leere brachte keine Prophezeiung doch die Götter haben wieder gesprochen. Sie verheißen uns eine großartige Zeit, ein neues Zeitalter. Die Zukunft gehört den Mäusen!“
Jubel brach unter den Mäusen aus und Lunas Schnurrhaare zuckten, als sie zur Heiligen Wand hinaufsah. Ob Zweibeiner oder Götter, dies war die beste Prophezeiung die es hätte geben können. Denn Luna blickte direkt in die Augen einer riesigen Maus.
"Wenn du dich weiter im Faultiertempo bewegst, sind wir zum Schulschluss noch nicht da!"
Ungeduldig hüpfte Cora voraus und drehte sich aller paar Schritte zu mir um.
"Mach doch keinen Stress. Wenn ich schneller laufe, zerfließe ich", grummelte ich und ächzte in der Hitze der grellen Julisonne. Seit ein paar Tagen war es selbst morgens schon unerträglich warm. Wenn es nach mir ginge, konnten die Sommerferien bald mal beginnen.
Cora kicherte. "Du hast doch nur Angst, dass Herr Walter dich drannimmt! Hast du die Hausaufgaben nicht gemacht?"
Ich verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Geschichte war nun mal mein absolutes Hassfach. Außerdem konnte unser strenger Lehrer mich nicht leiden, ich wusste es genau. Aber es würde mir wohl auch nicht helfen, wenn wir zu spät kamen. Ich lief etwas schneller und bald schon hatten wir die Schule erreicht. Das alte Gebäude der kleinen Walhainer Hauptschule erinnerte mich mit seinem schmutzig-grauen Putz immer an ein tristes Gefängnis. Angeblich wurde die Schule in den nächsten Sommerferien endlich renoviert und dabei auch die zahlreichen, ständig wiederauftauchenden Graffitis entfernt, gegen die unsere Schulleiterin erfolglos kämpfe.
Cora war bereits die Stufen zum Haupteingang hinaufgesprungen und hielt mir die Tür auf. Kurz bevor ich eintrat, fiel mein Blick auf die heruntergekommene Holztür.
"Was ist denn, Liv?", fragte Cora ungehalten.
Ich deutete auf die Tür. "Ein neues Graffiti." Auf dem dunklen Holz prangte in leuchtend roter Farbe eine große Sieben.
Cora warf nur einen flüchtigen Blick darauf. "Ist doch egal jetzt, komm schon!", erwiderte sie und zerrte mich durch die Tür.
Natürlich hatte Herr Walter mich nicht verschont und mich nach den Hausaufgaben ausgefragt. Und natürlich hatte ich keine Ahnung gehabt, wann der Reichstagsbrand stattgefunden hatte. Als Strafe hatte er mir einen Aufsatz über alle wichtigen Ereignisse im Jahr 1933 aufgebrummt. Also verbrachte ich den heutigen Samstag im Gegensatz zu meinen Klassenkameraden nicht im Schwimmbad, sondern an meinem Schreibtisch. Mit Kopfschmerzen.
Ich hatte sogar meiner Mutter Hilfe angeboten, als Vorwand für eine kurze Pause. Auf dem Weg zum Gärtnereigeschäft, wo ich Pflanzendünger besorgen sollte, kam ich an der Schule vorbei und überlegte kurz, ob ich heimlich einen Erdklumpen gegen Herr Walters Bürofenster werfen sollte. Cora hätte das bestimmt gemacht, doch ich war natürlich viel zu feige dafür.
Von der Straße aus entdeckte ich aus den Augenwinkeln einen roten Fleck am Eingangstor. Verwundert stellte ich fest, dass die Sieben von gestern verschwunden war. Stattdessen zierte die Holztür nun ein Kringel, der als unordentlich hingeschmierte Sechs zu erkennen war. Ich näherte mich misstrauisch und strich mit der Hand über das splittrige Holz. Die rote Farbe war bereits getrocknet und leicht verschmutzt, als wäre sie schon länger da. Von den Strichen der Sieben war hingegen nichts mehr zu sehen. War das Graffiti von gestern so schnell entfernt worden?
Am Abend rief ich Cora an und erzählte ihr von meiner Entdeckung. Meine beste Freundin schien davon nicht besonders beeindruckt. "Vielleicht steigt nächsten Freitag eine Party und irgendwelche Chaoten wollen alle darauf aufmerksam machen", scherzte sie. Ich lachte, doch so ganz ließ mich die seltsame Beobachtung nicht los. Am Tag darauf wiederholte ich meinen kleinen Spaziergang und war diesmal schon weniger überrascht, auf dem Schultor eine rote Fünf zu erblicken. Wieder waren alle Spuren der letzten Zahlen verschwunden. Auch wenn es sich vermutlich nur um einen Scherz handelte, bekam ich ein unwohles Gefühl dabei.
Am Montagmorgen ging ich mit leichten Bauchschmerzen zur Schule. Ob sie nun von der Befürchtung kamen, heute eine Vier an der Schultür zu sehen oder eher davon, dass ich heute meinen Aufsatz für Herr Walter abgeben musste, konnte ich nicht sagen. Ich versuchte mir einzureden, dass am Sonntag wohl kaum irgendwelche Reinigungsfirmen Graffiti von einem Schulgebäude kratzen würden, doch damit täuschte ich mich leider: Schon von weitem leuchtete mir eine krakelige Vier entgegen. Langsam sprach sich der Graffiti-Countdown auch in den Klassenzimmern herum und überall wurden wilde Theorien zu seiner Bedeutung gesponnen. Einige hofften auf eine Vorverlegung der Sommerferien, andere munkelten, die Zahlen wären das Werk des schuleigenen Poltergeistes, der auch öfter für verschwundene Hausaufgaben und fußballförmige Löcher in Fensterscheiben verantwortlich gemacht wurde. Der verrückte Leon aus der zehnten Klasse prahlte überall herum, dass am berüchtigten Tag Null des Countdowns die Schule im Erdboden versinken würde und alle Schüler von den Höllenqualen der allgemeinen Schulbildung befreit wären.
Als ich am Dienstag die Schule verließ, hing ein kleiner Zettel mit der Aufschrift "Wer bist du?" am Eingangstor, mit einer Stecknadel an das Holz gepinnt. Am nächsten Morgen war der Zettel verschwunden. Nur die Stecknadel klemmte noch im Holz, in Gesellschaft einer hübsch geschwungenen Zwei. Nach der ersten Stunde ließ die Schulleiterin verkünden, dass die Schule ab morgen für den Rest der Woche geschlossen wurde – man fürchtete eine Bombendrohung. Auch wenn unter den Schülern die Theorie deutlich beliebter war, dass sich am Ende des Countdowns die unbeliebte Physiklehrerin Frau Wengel in einen Frosch verwandeln würde, beschwerte sich natürlich niemand über die schulfreien Tage.
Die Lehrer sorgten allerdings dafür, dass wir mehr als genug Aufgaben für diese Zeit haben würden. Also vergrub ich mich am Donnerstag in meinem Zimmer unter Schulbüchern und zerbrach mir den Kopf über Matheaufgaben und chemische Formeln. Eigentlich wollte ich gar nicht über das Graffiti nachdenken, doch durch Cora erfuhr ich über mehrere Ecken schließlich auch, dass sich einige Schüler aus unserem Jahrgang zur Schule geschlichen und den Countdown weiter dokumentiert hatten.
"Markus und Svenja wollen morgen wieder hin und schauen, was passiert", berichtete Cora aufgeregt am Telefon. "Kommst du auch mit?"
Ich rutschte unruhig auf meinem Schreibtischstuhl herum. "Lieber nicht. Hast du keine Angst vor der Bombendrohung?"
"Ach, sei doch kein Hasenfuß", meckerte Cora. "Als ob man eine Bombe mit einem Graffiti ankündigen würde, das macht doch gar keinen Sinn!"
"Hm, ja ... Aber ich hab trotzdem irgendwie kein gutes Gefühl dabei", murmelte ich.
Cora schnaubte trotzig. "Na schön, dann gehe ich eben allein."
Somit hatte ich am Freitag also keine andere Wahl, als mich am späten Nachmittag auf den Weg zur Schule zu machen. Meinen Eltern erzählte ich, dass ich mich mit Klassenkameraden zu einem Lernzirkel traf, was heute vermutlich eine beliebte Ausrede war. Meine Mutter protestierte zwar, weil starke Schauer angekündigt waren, aber ich schnappte mir nur schnell eine Regenjacke und verschwand nach draußen.
Vor der Schule traf ich Cora und einige andere Mitschüler, die sich beim Haupteingang gesammelt hatten und Krisensitzung hielten. Sie hatten bereits die berüchtigte Holztür inspiziert, doch überraschenderweise war sie heute leer. Eigentlich sah die Tür genauso aus wie vor dem Beginn der Schmierereien. Ich strich prüfend über die raue Oberfläche und spürte dabei nur die kleinen Holzsplitter, die in meine Haut piksten.
Während wir noch rätselten, warum das Graffiti einfach verschwunden war, gesellte sich eine Gruppe älterer Schüler zu uns. Einer erzählte triumphierend, dass die Tür am westlichen Nebeneingang wohl nicht abgeschlossen war. Natürlich fanden sich sofort Freiwillige, die sich ins Gebäude schleichen und dort weiter Detektiv spielen wollten. Als Cora sich meldete, zog ich sie zur Seite und zischte ihr ins Ohr.
"Bist du verrückt? Du kannst da doch nicht reingehen! Das ist viel zu gefährlich, und außerdem dürfen wir gar nicht ..."
"Unsinn, da wird schon nix passieren", widersprach sie sorglos. "Ich will ja nur kurz reinschauen. Außerdem zieht Regen auf und ich möchte ungern nass werden", fügte sie mit einem Blick nach oben hinzu. Am Himmel drängten sich bereits graue Wolken zu einem Unwetter zusammen.
"Dann gehen wir eben nach Hause. Ich werde jedenfalls sicher nicht in die Schule reingehen", erwiderte ich.
"Du kannst ja draußen bleiben und aufpassen." Schon wandte Cora sich ab und eilte in Richtung der älteren Schüler, die zum Westeingang aufbrachen. "Und wenn ein Lehrer kommt, pfeifst du laut!"
So ein Quatsch, ich konnte nicht mal pfeifen. Kopfschüttelnd folgte ich der Gruppe zum Nebeneingang und blieb dann unschlüssig vor der Tür stehen. So sehr ich mich auch um Cora sorgte, in die Schule würde ich ihr definitiv nicht folgen.
Während ich wartete, lief ich nervös vor der Tür auf und ab. Zwei meiner Klassenkameraden, die sich dem selbsternannten Expeditionsteam ebenfalls nicht angeschlossen hatten, hielten Wache an den anderen Ecken der Schule. Meine Augen huschten zwischen der Tür und dem Himmel hin und her, doch bisher lauerten die Regenwolken genauso untätig wie ich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, also vielleicht fünfzehn Minuten, kam ein älterer Schüler heraus und nickte mir wichtigtuerisch zu. "Alles ruhig bisher?"
Ich schnaubte leise. "Ich hab noch niemanden schreien gehört."
Der Junge zog eine Sprühdose aus der Tasche. "Die haben wir gefunden. Eine Graffitidose", erklärte er.
"Wo genau?", fragte ich und schüttelte das Fundstück vorsichtig.
"Im Geschichtszimmer im dritten Stock", erklärte der Möchtegern-Detektiv und deutete auf ein Fenster genau über uns.
"Und sonst?"
"Nix Auffälliges. Wir durchsuchen jetzt noch die anderen Stockwerke nach Hinweisen." Er gab mir nochmal so einen nervigen vielsagenden Blick, salutierte und verschwand wieder in der Schule. Ich verdrehte die Augen und setzte mich gelangweilt auf die Stufen vor dem Eingang. Während ich gedankenverloren die Graffitidose in meinen Händen drehte, fiel ein einzelner Regentropfen auf das Blech und in der Ferne ertönte dumpfes Donnergrollen. Wenige Minuten später tauchte der erste Blitz den Himmel kurz in gleißendes Licht. Ich sprang auf und suchte nach einem offenen Fenster, um nach dem lebensmüden Expeditionsteam zu rufen, doch leider war keins zu sehen. Mittlerweile ertönte der Donner im Abstand weniger Sekunden und schien dabei das ganze Schulhaus zu erschüttern. Nur der Regen hielt immer noch den Atem an.
Als ich ungefähr auf der Höhe des Haupteingangs war, schoss erneut ein greller Blitz vom Himmel. Mit einem ohrenbetäubenden Knall erwischte er die riesige Eiche direkt neben dem Schulgebäude. Ich stieß vor Schreck einen Schrei aus und beobachtete völlig gelähmt, wie der Baum Feuer fing. Das Laub wurde in weiß leuchtende Flammen getaucht und der Baum begann, mitsamt der entzündeten Krone langsam in Richtung des Schulgebäudes zu kippen. Die lodernden Äste schnitten durch das Dach wie durch eine Waffel und vergruben die Zimmer darunter unter brennendem Laub.
Ein Schrei hinter mir riss mich aus der Schreckstarre. Meine Mitschüler starrten ebenfalls auf das eingestürzte Gebäude, einer zückte immerhin bereits das Handy für den Notruf. Ich überlegte fieberhaft, wie die anderen wieder aus der Schule rauskommen sollten. Alle Türen waren verschlossen und die einzige offene war nun unter einem Funken speienden Baumstamm begraben. Ich rief verzweifelt nach Cora, doch ein weiterer Donner verschluckte meine Stimme. Warum war sie da nur reingegangen? Warum hatte sie diesen blöden Countdown nicht einfach ignorieren können? Unwillkürlich umklammerte ich die Graffitidose in meiner Hand, bis mein Blick darauf fiel. Während meine Klassenkameraden noch hektisch mit der Feuerwehr telefonierten, hatte ich eine verzweifelte Idee. Ich lief zum Haupteingang und kämpfte dabei gegen die Windböen, die das Feuer in Richtung der bisher unberührten Schulflügel trieben. Vor der blanken Holztür blieb ich stehen und schüttelte die Dose einmal kräftig. Dann drückte ich den oberen Knopf und malte eine leuchtend rote Eins auf das Holz. Ein weiterer Blitz ließ das Graffiti kurz unnatürlich grell erstrahlen. Im nächsten Moment öffnete der Himmel urplötzlich die Pforten und es begann zu schütten. Innerhalb weniger Sekunden fühlte ich mich, als wäre ich in ein Schwimmbecken gesprungen. Als ich zum rauchenden Dach der Schule hinaufblickte und der Regen mir dabei ins Gesicht prasselte, hörte ich von weitem eine Feuerwehrsirene.
"Ganz ehrlich, die hätten uns einfach schon Ferien geben können."
Cora stöhnte und räkelte sich auf meinem Bett. "Stattdessen haben wir gefühlt mehr Aufgaben als im ganzen Schuljahr zusammen!"
"Sei lieber froh, dass du nicht schon durch das Feuer ausgebrannt bist, sondern erst jetzt", erwiderte ich frech. Auch wenn die Feuerwehr es dank des einsetzenden Regens geschafft hatte, die restlichen Schüler aus dem Gebäude zu retten, war die Schule natürlich völlig zerstört gewesen. Am nächsten Tag war das Feuer in der evakuierten Schule überraschend noch einmal ausgebrochen, weshalb nun nicht mehr viel von dem alten Gebäude übrig war. Bis zu den nahenden Sommerferien hatte man daher Selbststudium angeordnet.
"Aber etwas Gutes hatte dieses Abenteuer auch!" Cora drehte sich auf den Bauch und grinste süffisant zu mir rüber. "Jetzt kannst du dir endlich mal ein historisches Datum merken!"
Ich kicherte ertappt. "Abwarten."
Ich lausche. Es stehen viele Menschen um mich herum. Doch sind sie nicht wegen mir hier. Es sind meine Nachbarn, welche mit gemischten Gefühlen meine Wand anstarren. In der vergangenen Nacht hatte jemand mein Haus mit einem Graffiti versehen. ich betrachte es und spüre ein starkes Gefühl in mir.
"Unerhört! Solch eine Verschandlung unserer schönen Nachbarschaft!" krächst einer meiner Nachbarn. Herr Schulz, ein alter Mann, der in seiner Rente nichts besseres zu tun hat, als Nachbarschaftswache zu spielen. Er schreit immer am lautesten über alles und jeden. Seine häufigsten Themen sind die "nicht korrekt gepflegten Gärten" und die "zu lauten Kinder". Er bemerkt gar nicht, dass er der einzige ist, der sich über diese Sachen aufregt.
"Was fällt ihnen ein? Das ist wahre Kunst! Sehen sie denn nicht das Talent des Künstlers und die intensiven Gefühle, welche er mit diesem Bild ausdrücken möchte?" Die hohe Stimme gehört Frau Streit. Man würde in dieser Situation vermuten, dass ihr Name Programm ist, doch das ist nur der Fall, wenn sie auf Herrn Schulz trifft. Frau Streit ist selber Künstlerin als auch Kunsthändlerin, was sie auch sehr gerne jedem erzählt, der das Thema auch nur anschneidet. Ich habe sie dabei als sehr warmherzige und offene Frau kennengelernt, welche ihr Herz auf der Zunge trägt.
"Was für Kunst? Das ist Vandalismus! Sowas sollte in unserer gepflegten Nachbarschaft nicht geduldet werden!" Natürlich schreit Herr Schulz so laut, dass mir fast die Ohren klingen.
"Sie sind ein Banause! Ein Crètin! Dieses Bild erzählt von Liebe und einem Versprechen. Die Farben spiegeln Freiheit und Rückkehr in Harmonie. Es gehört eher in eine Galerie, in der das Talent des Künstlers gewürdigt wird und nicht vor den Augen eines alten Griesgrams wie sie!" Nach Frau Streits Reaktion kann ich mir ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen.
Im Gegensatz zu Herrn Schulz, welcher schon rot vor Wut war. "Das war kein Künstler, sondern ein Verbrecher! Ich werde jetzt die Polizei rufen." Während er sein altes Klapptelefon aus der Tasche kramte, seufzte Frau Streit. Die restlichen Nachbarn tuschelten unter sich. Sie waren ebenso unterschiedlicher Meinungen, doch bei weitem nicht so laut, wie die beiden Streithähne. Ich habe damit gerechnet, dass das Bild ein großes Gesprächsthema werden würde, doch die Polizei zu involvieren wäre eindeutig zu viel des Guten. "Herr Schulz, bitte legen sie das Handy weg. Das Bild befindet sich auf meiner Hauswand. Wie damit umgegangen wird, obliegt somit alleine meiner Familie." Nach diesem Satz bemerkten die beiden dann auch, dass ich anwesend war.
"Aber Herr Fink, wie können sie so eine Schandtat nur dulden! Das Bild der Nachbarschaft leidet darunter! ich will mir nicht ausmalen, wie viel Wert ihr Haus dadurch verloren hat." Ich lebe schon lange genug in dem Haus, um alle "Argumente" von Herrn Schulz zu kennen. "Wir müssen verhindert, dass der Verbrecher noch mehr Wände beschmiert."
"Das wird nicht passieren", antwortete ich selbstbewusst und hörte wie Frau Streit plötzlich laut einatmete. Anscheinend hatte sie eine Erkenntnis.
"Ich wusste gar nicht, dass sie solch ein Talent besitzen, Herr Fink. Wenn sie möchten, kann ich ihre Kunstwerke verkaufen. Ich versichere ihnen, sie werden reich und berühmt werden." Frau Streits Augen strahlten förmlich vor Begeisterung.
Ich lachte etwas verlegen: "Das ist ein sehr freundliches Angebot, doch ich bin nicht der Künstler."
"Ha, ich wusste, dass Herr Fink genug Anstand besitzt. Er würde niemals seine eigene Hauswand so beschmieren. Sie haben wohl an zu viel Farbe geschnüffelt." Natürlich musste Herr Schulz seinen Senf dazu geben.
Ohne ihn weiter zu beachten fuhr ich fort: "Mein Sohn war es." Die anschließende Stille und der Blick aller beteiligten (besonders der von Herrn Schulz) war unbezahlbar.
Es dauerte einige Sekunden, doch leider war Herr Schulz der erste, der wieder Worte finden konnte: "Aber warum?"
Meine Antwort war einfach: "Warum nicht?"
"Aber, aber, aber", offensichtlich hat meine Reaktion zu einem Sprung in seiner Platte geführt. Der Plan hat wunderbar funktioniert.
Ich hob meine Hand. Das war das Signal für meinen Sohn die Bühne zu betreten. Naja, er stellte sich einfach zu mir und begann seine Geschichte zu erzählen: "Guten Morgen meine lieben Nachbarn und Herr Schulz. Ihr habt sicherlich einige Fragen. Zu aller erst, ich habe selbstverständlich im Voraus mit meinen Eltern gesprochen, ob ich die Wand neu streichen darf und glücklicherweise ihre Erlaubnis bekommen. Vielen Dank dafür Papa und Mama. ich werde ab nächster Woche einen längeren Auslandaufenthalt beginnen. Als Abschiedsgeschenk und als Versprechen für meine Rückkehr wollte ich etwas hinterlassen, was meine Eltern und ihr jeden Tag betrachten könnt. Frau Streit, vielen Dank für die netten Worte und das verlockende Angebot, doch die Kunst ist für mich nur ein Hobby. Im Ausland werde ich meiner Leidenschaft folgen. Doch bevor ich gehe, habe ich eine Bitte an alle hier. Bitte denkt daran, dass nichts in dieser Welt automatisch schlecht oder gut ist. Die Welt ist nicht nur schwarz oder weiß. Bitte schaut hinter die Kulisse und findet die Intention hinter den Aktionen heraus, bevor ihr euer Urteilt fällt. Ich habe euch alle sehr lieb und werde euch sehr vermissen. Ja, sogar sie Herr Schulz. Ach komm her du alter Miesepeter." Mein Sohn gab dem sehr verwirrt dreinschauenden Herrn Schulz eine feste Umarmung. Dieser nuschelte etwas vor sich hin und lief so schnell weg, wie ihn seine alten Knochen tragen konnten. Doch sein lächeln konnte er nicht verstecken.
Ich klopfte meinen Sohn auf die Schulter. "Gut gemacht, Ich bin stolz auf dich mein Sohn." Als Dank erhielt ich ein strahlendes Lächeln.
Es dauerte etwas, bis alle Nachbarn meinen Sohn gratuliert und verabschiedet hatten. Frau Streit war die letzte die ging. Bis zum Schluss versuchte sie meinen Sohn zu überzeugen, doch noch Künstler zu werden. Sie gab erst auf, als er versprach, dass er der Kunst eine Chance geben würde, wenn seine Leidenschaft doch nicht genug Geld einbringen würde.
Erschöpft standen wir nun alleine vor unserer Fassade und betrachteten sein Graffiti. Das Bild zeigte einen jungen Fink im Flug. Der Hintergrund war ein abstraktes Mandala in den verschiedensten Farben. Obwohl das Bild auf den ersten Blick eher chaotisch erschien, bewies es bei genauerer Betrachtung doch eine einnehmende Harmonie. Ich hörte meinem Sohn gespannt zu, während er mir erzählte, welche Gedanken er bei der Gestaltung hatte. Die Hintergründe und Inspirationen bei der Farb- und Motivwahl. "Ach ja und ich habe eine kleine Nachricht nur für euch versteckt. Ich würde mich freuen, wenn du mir bescheid gibst, wenn ihr sie gefunden habt." Er lächelte, als würde er wissen, dass es eine Ewigkeit dauern wird, bis wir seine Nachricht finden würden und dass er es genauso geplant hatte.
Ich lachte. Natürlich würde er sich noch einen letzten Spaß mit uns erlauben. Er ist so geworden, wie wir es uns gewünscht hatten. Ein Freigeist, offen und freundlich, respektvoll und selbstbewusst, sein Ziel fest im Blick, aber auch seiner eigenen Grenzen bewusst. "Ich liebe dich auch", antwortete ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge, während wir gemeinsam ins Haus gingen.
Ich öffne meine Augen; sehe nichts. Die Dunkelheit der Nacht bedeckt die Leere der Leinwand vor meinem Körper. Sanfter Klang raschelnder Birkenzweige wird heimlich vom harschen Septemberwind in meine kühlen Ohren getragen. Ich seufze. Unterstütze den Wind, der ganz allmählich die ersten Wolken hinfortschiebt, die sich zuvor beschützend vor dem schüchternen Mond versammelten. Tristes Grau taucht auf. Ich taste vorsichtig über die matte Fläche, greife dann zurück an meinen Gürtel; suche nach der blechernen Dose von damals.
„Komm mit!“, hattest du mir lächelnd zugerufen. Die Trauer, die uns an jenem Tag so sehr eingenommen hatte, war dir kaum noch anzusehen.
Eilig griff ich nach meiner Tasche, sprang auf von der Parkbank und versuchte, deiner schattigen Silhouette am Horizont zu folgen.
„Wo bleibst du denn? Nun komm schon!“, haktest du erneut nach.
„Ich bin ja schon da“, entgegnete ich, etwas aus der Puste. „Wo gehen wir denn überhaupt hin?“
Deine Augen begannen zu leuchten. „Die alte Fabrik bei den Feldern. Erinnerst du dich?“
Ich musste nicht lange nachdenken. Natürlich erinnerte ich mich. Als Kinder hatten wir oft in der Ruine gespielt; waren zwischen den bemoosten Fließbandresten umhergelaufen, sprangen von Podest zu Podest. Ein Brand hatte Teile des Gebäudes lange vor unserer Geburt zerstört; ein Abriss aber war für den kleinen Ort, in dem wir so lange gemeinsam lebten, zu teuer. So blieb die Fabrik bestehen, wurde zu unserem persönlichen Spielplatz der Kindheit.
„Natürlich“, sagte ich schließlich mit selbstbewusster Stimme, „aber wieso gehen wir dorthin?“
Du schautest mich mit großen Augen an, noch immer war ein seichtes Funkeln darin zu erkennen. „Ich muss dir etwas zeigen.“
Minuten vergingen und fast schon hüpfend liefst du leise summend vor mir her. Mein Blick klebte an dir; an dir und der Vergangenheit, wich nach einigen Schritten aber immer wieder auch aus auf die Felder. Wir hatten uns verändert, waren nicht mehr die Kinder von damals. Die Felder aber sahen aus wie eh und je.
Nach einiger Zeit öffnete sich vor uns ein rostiger Zaun aus Draht, in dessen Mitte ein großes Loch hineingeschnitten war. Wir schlüpften hindurch; folgten dem Weg, den wir schon so oft gegangen waren. Langsam fuhr ich mit meiner Hand über den trockenen Beton der ersten Fabrikwand, an der wir vorbeikamen. Der Abschnitt war nicht vom Brand betroffen, doch die Zeit hatte dem Material sichtlich zugesetzt.
Abrupt bliebst du stehen, drehtest dich um zu mir. Dein Gesicht war ernster geworden. „Juin, schließ deine Augen.“
Für einen Moment war ich irritiert, öffnete meinen Mund ein kleines bisschen, ehe ich ein Lächeln bei dir erkannte und deiner Anweisung folgte. „Avril?“, fragte ich still.
Du sagtest nichts, nahmst stattdessen meine Hand und führtest sie langsam über den Beton. Wir gingen einen kurzen Abschnitt und meine Augen blieben geschlossen.
Schließlich führtest du die Hand nach unten, wir gingen gemeinsam in die Knie. „Spürst du einen Unterschied an der Wand?“, fragtest du mit ehrlicher Neugier.
„Sie ist … ich glaube, sie ist glatter. Etwas kühler vielleicht?“
„Erkennst du eine Form? Ein Motiv?“
Vorsichtig tastete ich die Stelle ab, strich wieder und wieder von oben nach unten; von rechts nach links und zurück. „Vielleicht ein Kreuz? Eine Schleife?“
Dein Kichern durchbrach meine Rateversuche und gab mir zu verstehen, dass ich falsch lag. „Mach die Augen auf, Juin“, sagtest du schließlich mit ruhiger Stimme.
Kurz betrachtete ich das kleine Bild, das sich vor mir auftat, ehe ich erneut vorsichtig mit meiner Hand darüber strich. Die Farbe blätterte ein wenig ab, also zog ich zurück.
„Ein Kleeblatt“, sagtest du nach einiger Zeit. „Drei Blätter.“
Ich nickte.
„Eines für jeden von uns. Mai hatte es –“, begannst du deinen Satz, doch brachst ihn schnell wieder ab.
„Mai“, wiederholte ich fast stumm und blickte zum Boden.
Eisige Stille lag in der ansonsten so warmen Frühlingsluft. Früher hatten wir zu dritt an diesem Ort gespielt – Avril, Mai und ich. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen, doch das Wissen, dass wir Mai nun nie mehr wiedersehen würden, war ein bedrückendes Gefühl.
„Sie konnte gut mit Farben umgehen“, sagte ich schließlich, ringend um Worte, welche der erdrückenden Stille etwas entgegensetzen sollten.
Du ignoriertest meinen kläglichen Versuch der Konversation, bliebst still. Schließlich aber blicktest du wieder zu dem kleinen Kleeblatt, fragtest leise: „Was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr sind?“
Ich dachte nach, schaute ebenfalls zu dem Bild an der Wand, das nicht größer war als eine CD. „Erinnerungen, würde ich sagen.“
Dein Blick fixierte das Bild der Pflanze, als hätte Mai selbst an der Wand gesessen. „Wieso haben wir uns dann so lange nicht gesehen? Keine weiteren Erinnerungen gesammelt?“
Ich schwieg.
„Und wenn die Erinnerungen verblassen? Wie die Farbe?“, fügtest du mit gebrochener Stimme leise hinzu.
Für eine Zeit, die sich anfühlte wie eine halbe Ewigkeit, saßen wir einfach nur da, betrachteten mal das Kleeblatt an der Wand, mal eine Wolke, die vorbeizog. Ab und zu sprachen wir ein paar Worte, redeten über früher und schwiegen wieder. Irgendwann aber standest du auf, nahmst deine Tasche in die Hand und holtest eine große Dose heraus, die du mir zuwarfst, ehe du für dich selbst noch eine zweite Dose herausholtest. „Ich möchte das auch. Etwas hinterlassen. Erinnerungen festhalten“, sagtest du mit neuer Zuversicht.
Ich stellte meine Dose zur Seite und legte meine Hand auf deine, welche die Dose umschloss: „Dieselbe Dose, dieselbe Erinnerung.“
Du nicktest zustimmend.
„Was malen wir?“, fragte ich dann.
Dein Blick fixierte ein letztes Mal das Kleeblatt und seine drei Blätter. „Eines mit vier Blättern“, sagtest du schließlich selbstbewusst. „Ich möchte Mai viel Glück wünschen, wo auch immer sie jetzt ist.“
Ich musste lächeln bei deinen Worten. Und so begannen wir, ein vierblättriges Kleeblatt an die Wand zu sprühen. Etwas größer als jenes, das von Mai stammte, und auch deutlich unförmiger. Aber wir waren zufrieden. Es war, als wäre eine große Last von uns abgefallen, die sich schon zu lange angestaut hatte. Wir redeten noch eine Zeit lang, nahmen dann unsere Dosen und gingen im roten Dämmerlicht zurück in den Ort.
Noch immer fahre ich mit meiner Hand über die matte Fläche vor mir, die ich im Dunkel der kühlen Septembernacht kaum sehe. Es dauert einen Moment, bis meine Finger die glatten Rinnen finden, welche in den Stein eingraviert sind. Langsam ziehe ich mit meinem Zeigefinger die einzelnen Rillen entlang.
„Avril“, hauche ich stumm in die Nacht. Ich verharre einen kurzen Moment in der Stille, ehe ich die Dose von meinem Gürtel in die Hand nehme. „Du Dummerchen hast mir damals blaue Farbe mitgegeben. So kann ich dir doch kein Kleeblatt mit vier Blättern sprayen.“ Ich will lächeln bei der Vorstellung, dass du meine Worte nicht vielleicht doch hören kannst; doch die Träne in meinem Gesicht lässt das Lächeln nicht zu. Noch einmal warte ich einen kurzen Moment, baue dann ein Stück Metall von der Fabrik hinter deinem Grabstein auf und beginne ein kleines Motiv darauf zu sprühen. „Nicht so gut wie von Mai“, sage ich leise, „aber ich hoffe, es gefällt dir. Wo auch immer du jetzt bist.“
Ich bleibe noch einen Moment, denke an dich und lasse nichts zurück als verbliebene Erinnerungen und ein mondbeschienenes Vergissmeinnicht.
Abertausende Farben begleiten uns im Leben. Abseits des Offensichtlichen existiert Farbe auch dort, wo man sie vermeintlich nicht sieht. Doch jedes Wort und jede Erinnerung besitzen einen Farbton. Farbe, mal ordentlich, mal wild platziert. Mal hell und freundlich, mal dunkel und trübe. Manchmal auch pechschwarz und hoffnungslos. Nur das leise Geräusch der Sprühfarbe ertönt, während ich sie auf das alte Gemäuer ansetze. Das fahle Licht des Mondes reicht geradeso dafür aus. Mein Arm bewegt sich langsam, mein Blick ist konzentriert. Langsam setzt sich das Bild zusammen. Ein ansehnlicher Park mit blühenden Blumen. Menschen, die ihre Hunde ausführen, Eis schlecken und spielende Kinder. Beinahe kann ich sie hören, obgleich es totenstill ist. Summende Wespen, ein postkartengleicher Himmel wie aus dem Bilderbuch, zwitschernde Vögelchen.
Mein Arm beginnt zu zucken, als wüsste er, dass dies nur eine Illusion ist. Eine Illusion aus dem Wunsch entstanden, dass alles wieder wie früher ist. Doch dies wird nie geschehen. Die Farbdose fällt zu Boden. Ein scheppernder Ton in dieser Stille. Ich sinke zu Boden, meinen Blick auf die Szene gerichtet, die ich soeben gemalt habe. Es wird nie wieder wie früher sein. Den Park gibt es nicht mehr; die Menschen von damals sind längst fort. Ein Unglück eilte voraus und mit einem Mal war unsere farbenfrohe Welt nur noch trist und grau. Und rot, wie das Blut, das sich über alles ergoss. Die Mohnblumen auf dem Bild sind schneeweiß. Jene Farbe habe ich nicht dabei. Mir graust es davor, Rot zu verwenden. Hastig versuche ich an etwas Anderes zu denken. Damals gab es im besagten Park einen prachtvollen Zierbrunnen, dessen Wasser stetig in Bewegung war und für Abkühlung an warmen Tagen sorgte. Doch schon lange floss dort kein einziger Tropfen mehr.
Zitternd erhebe ich mich und greife nach einer weiteren Sprühdose. Schon morgen würde auch dieses Gebäude nur noch eine Erinnerung sein. Deshalb fürchte ich keine Konsequenzen, denn eigentlich mache ich gerade etwas Illegales. Doch den Arbeitern, die diese Zeichnungen sehen könnten, wird es gleichgültig sein. Sie werden dennoch dafür sorgen, dass nur noch Schutt Asche zurückbleibt. Und so wie mir eine weitere Erinnerung geschenkt und etwas Anderes genommen wird, nehme ich diesen Wänden nun ihre Farbe.
Das kräftige Schwarz schießt zischend heraus und Zentimeter für Zentimeter bedeckt es die Zeichnung. Stück für Stück verschwindet der liebliche Park, in welchem ich einst viel Zeit verbrachte, bis sich alles änderte. Nach und nach wird die Wand vor mir dunkel und die Szene ausgelöscht. Lediglich in meinem Kopf wird sie immer bestehen. Die Sprühdosen aufsammelnd und einpackend betrachte ich mein Werk. Niemand wird je erfahren, was sich hinter der großen schwarzen Fläche verbirgt. Das entfernte Kunstwerk und meine Anwesenheit in dieser Nacht. Langsam hellt der Himmel auf, es wird Tag. Bald kommen die Bagger und Abrissbirnen. Ich eile davon, voller schmerzhaften Gedanken und dennoch zufrieden mit meinem Tun. Meine Erinnerungen sind keine Lügen.
„Irgendwer zu sehen?“, fragte Abby, als Smokey wieder zu ihr in die Gasse herabschwebte.
Smokey bewegte ihren doppelköpfigen Körper mehrmals von links nach rechts und wieder zurück, wobei sie ein paar Rauchwölkchen ausstieß. Es war das Smogmog-Äquivalent zu einem Kopfschütteln.
„Cool“, erwiderte Abby. „Sag mir Bescheid, wenn sich das ändert, okay?“
Diesmal wippte Smokey mit ihrem Körper von hinten nach vorne – ein Nicken – und flog wieder hinauf.
Abby stellte ihre Tasche auf den Boden, holte Skizzenbuch und Farbdosen hervor.
Sie nahm sich ein wenig Zeit, noch einmal über ihren Entwurf drüberzusehen. Apex saß auf ihrer Schulter und lugte ebenfalls auf das Papier.
„Alles klar?“, fragte Abby.
Apex fiepte zustimmend und sprang dann auf die Wand zu, um mit ihren Klauenfingern die Umrisse auf die Wand zu malen. Abby schüttelte währenddessen ihre erste Sprühdose.
Abbys Herz klopfte wild. Jeden Moment konnte jemand zufällig vorbeikommen oder in einem der Häuser wach werden. Sie war schon ein paar Male fast erwischt worden.
Sie grinste. Genau das war aber ja eigentlich auch der Spaß daran.
Vor allem, wenn sie Dienst hatte.
„Komm schon, Raffa! Du musst sie auch mal streicheln!“
„Ich weiß nicht … Sproxi soll giftig sein, hat mein Papa gesagt …“
„Nur wenn sie beißt. Und beißen tut sie nur, wenn du sie ärgerst.“
„Ich … Okay, ich mache es.“
„Du hast sie kaum angefasst!“
„Ich habe Angst, Abigaíl.“
„Du darfst nicht immer vor allem Angst haben! Vor allem nicht vor meiner kleinen Sproxi. Sie ist doch total niedlich!“
„Sie ist niedlich … Aber …“
„Nix aber! Streichel sie jetzt. Und zwar richtig!“
Abby wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und schüttelte mit der anderen die nächste Dose. Sie kamen gut voran. Apex hüpfte vergnügt vor der Wand hin und her und fügte ihre eigene Farbe an genau den richtigen Stellen hinzu. Langsam nahm alles Gestalt an, auch wenn sie noch lange nicht fertig waren. Das hier war schließlich ihr Masterpiece.
„Abby! Guck mal, guck mal!“
„Was hast du da? Ist das … ein Pokéball? Du hast auch ein Pokémon jetzt!?“
„Ja! Und weißt du, was es ist?“
„Was?“
„Rate!“
„Ich weiß nicht.“
„Komm schon! Du musst es erraten!“
„Warte, ist es … Du hast jetzt auch …“
„Ja. Schau!“
„Ein Sproxi! Warte, ich lasse meins raus, dann können sie Freundschaft schließen!“
„Freundschaft fürs Leben! So wie wir!“
Abby trat zurück und leichtete noch einmal mit ihrer Taschenlampe über ihr Werk. Sie musste unwillkürlich lächeln. Es würde sie tierisch aufregen. Und doch würde es ihr gefallen.
Gleichzeitig machte es Abby traurig. Das war die einzige Art, auf die sie noch miteinander kommunizierten. Aber was blieb ihnen auch übrig? Sie hatten sich einfach zu sehr voneinander entfernt.
„Abby? Wir müssen mal reden.“
„Was ist, Raffa?“
„Es ist wegen Apex.“
„Oh mein Gott, schon wieder? Raffa, es nervt langsam.“
„Mich nervt es auch. Sie hört einfach nicht auf, meine Sachen anzuschmieren.“
„So drückt sie aus, dass sie dich mag!“
„Renaldo macht so etwas nicht.“
„Was ich einfach nicht verstehe. Ein Affiti, das nicht gerne Sachen anmalt? Was hast du mit ihm gemacht, dass er so ist?“
„Ich habe gar nichts mit ihm gemacht! Er ist einfach so! Er ist eben normal.“
„Das ist für ein Affiti nicht normal, Abby.“
„Willst du damit sagen, ich sei eine schlechte Trainerin?“
„Nein, ich … Okay, es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Aber ich kann von Apex nicht verlangen, dass sie mit etwas aufhört, was für sie völlig natürlich ist.“
„Das weiß ich. Daher …“
„Was?“
„Die Akademie hat genug freie Zimmer. Wir müssen nicht zusammenwohnen, wenn es nicht hinhaut.“
„Warte … Du willst ausziehen?“
„Das ist doch die beste Lösung, oder?“
„Ich … Ja, vielleicht, aber … Raffa, ich … Ich lie… Ich meine, wir sind doch noch Freundinnen, oder?“
„Natürlich. Freundinnen für immer. Ich gehe doch nicht ans andere Ende der Welt. Nur in ein anderes Zimmer.“
Mit einem dumpfen Aufschlag landete etwas neben Abby in der Gasse. Abby zuckte zusammen und starrte schockiert auf Smokey, das sich noch schwach regte, aber offenbar kampfunfähig war.
„Fuck!“, entfuhr es Abby. Sie sah hoch zum Himmel. In der Ferne funkelten ein paar Sterne, und dazwischen flatterte eine dunkle Gestalt auf der Stelle. Eine Gestalt mit zwei im Dunkel der Nacht deutlich erkennbaren glühend roten Augen. Ein Noctuh.
„Abigaíl“, sagte eine ruhige Stimme rechts vom Ende der Gasse.
Abbys Herz machte einen Hüpfer. Sie drehte sich bewusst lässig um. „Oh, hi, Raffa. Schöner Abend, nicht?“
„Du warst das mit der Toilette, oder?“
„Weiß gar nicht, was du meinst.“
„Abby. Ich kenne deinen Stil.“
„Ach, echt? Du kennst meinen Stil? Ich dachte, du wolltest gar nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich sehe dich kaum noch. Meine Kunst interessiert dich doch gar nicht.“
„Das ist nicht wahr, und das weißt du auch.“
„Weiß ich das?“
„Darum geht es jetzt nicht. Du hast die Unisextoilette im ersten Stock der Bibliothek komplett zugetaggt. Mit wasserfestem Stift und der Farbe von Apex. Ist dir klar, was das bedeutet?“
„Du wirst es mir sicher gleich sagen.“
„Du könntest für so etwas von der Akademie fliegen.“
„Nur wenn du ihnen sagst, dass ich es war.“
„Abby, ich bin Fluraufseherin. Ich muss es der Schulleitung mitteilen. Das ist meine Pflicht.“
„Na, dann ist ja alles geklärt, oder?“
„Abby, wenn du das vielleicht selbst wieder in Ordnung bringst und dich entschuldigst, dann könnte ich ein gutes Wort für dich einlegen und du kommst vielleicht noch einmal mit einer offiziellen Ermahnung davon.“
„Hm, mal überlegen. Will ich meine eigenen Kunstwerke zerstören und mich wie ein Schlurm im Staub vor der Schulleitung winden? Ich denke nicht.“
„Abby, dann fliegst du von der Schule!“
„Dann fliege ich eben von der scheiß Schule! Was soll ich hier überhaupt noch? Meine beste Freundin will ja ohnehin nichts mehr mit mir zu tun haben. Und der Unterricht ist einfach nur langweilig. Ich kann den Mist sowieso.“
„Das ist also dein letztes Wort? Du willst meine Hilfe nicht?“
„Richtig. Ich will sie nicht.“
„Schön. Dann ist ja alles geklärt.“
„Weißt du eigentlich, dass ich in dich verknallt bin?“
„Was?“
„Es ist wahr. Seit wir Kinder waren. Scheiße. Weißt du noch, wie viel Angst du vor Apex hattest, als sie noch ein Sproxi war und ich dir gesagt habe, du sollst nicht immer Angst haben? Jetzt schau mich an. All die Jahre nie den Mumm gehabt, es dir zu sagen, und jetzt ist es zu spät. Aber vielleicht kann ich’s deswegen jetzt sagen. Jetzt ist halt auch alles egal.“
„Abby, ich …“
„Geh einfach. Lass mich allein. Renn zur Schulleitung und verpetz mich.“
„Nein, Abby, ich will nicht, dass …“
„Ich hab gesagt, du sollst dich verpissen! Raus aus meinem Zimmer oder ich … ich melde dich wegen unerlaubten Eindringens oder so, solange ich das noch kann.“
„Okay. Ich gehe, wenn du das willst. Aber … Es tut mir leid, Abby.“
„Kommst du freiwillig mit?“, fragte Raffa. Sie trug ihre Polizeiuniform.
„Ich denke, du kennst die Antwort“, erwiderte Abby.
„Smokey ist ausgeschaltet, also scheidet eine Flucht durch die Luft für dich aus“, sagte Raffa nüchtern. Renaldo drängte sich drängte sich um ihre Beine, eine kleine Polizeikappe auf dem Kopf. „Und das andere Ende der Gasse ist auch umstellt. Kein Ausweg für dich.“
„Nicht ganz“, grinste Abby. „Hab noch ein Ass im Ärmel.“
Sie warf einen Pokéball, der türkisgrün gefärbt war, und holte Snibbles hervor.
Raffa zückte selbst einen Pokéball und runzelte die Stirn. „Was ist das für ein Pokémon? Ich kenne es nicht.“
„Ist auch ziemlich selten heutzutage. Ein Snieboss.“
Snibbles fauchte einmal.
Raffa schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei, Abigaíl, ich glaube nicht, dass du dich hier rauskämpfen kannst, auch damit nicht.“
„Wer redet von Rauskämpfen?“ Apex sprang auf Abbys Schulter, und Abby wiederum sprang auf Snibbles Rücken und klammerte sich an ihr fest. „Weißt du noch, wie du gesagt hast, auf dem Luftweg komme ich hier nicht raus? Tja. Los, Snibbles!“
Snibbles verlor keine Zeit, sondern sprang die Wand an und kraxelte sie flink hoch, indem sie ihre scharfen Krallen an Händen und Füßen in den Hausbeton rammte.
Abby hörte mit Genugtuung, wie Raffa einen Fluch ausstieß, während Snibbles die Wand hochsauste. Abby sah einmal zurück und stellte fest, dass Raffa ihr folgte: Sie saß auf dem Rücken ihres Grebbit, das sich mit seinen großen mächtigen Ohren an Fenstervorsprüngen Halt suchte und sich so emporzog. Nicht ganz so schnell wie Snibbles. Aber schnell genug, um nicht zu weit zurückzufallen.
Als Snibbles das Dach erreicht hatte, sprang Abby von ihrem Rücken herunter, rief sie zurück und rannte los, zur Dachkante. Sie sprang, landete auf dem Dach des nächsten Gebäudes, rollte sich ab, kam wieder auf die Füße und rannte weiter. Hinter sich hörte sie, wie Raffa es ihr gleichtat.
Im nächsten Moment schlug etwas vor Abby im Boden ein. Sie sah hoch und entdeckte, dass Raffas Noctuh versuchte, ihr mit Luftschnitt den Weg abzuschneiden.
Abby griff nach einen ihrer Pokébälle. „Los, Slimey, Schockwelle!“, rief sie.
Eine große Menge wunderschön bunten Schleims klatschte auf den Boden, bäumte sich auf und schoss einen wellenförmigen Blitz auf das Noctuh ab, das getroffen wurde und ins Taumeln geriet.
Der Weg war wieder frei. Abby rannte los zur nächsten Dachkante und holte Slimey dabei wieder zurück in ihren Pokéball. Die Entfernung zum nächsten Dach war deutlich zu weit zum Springen, aber ein sehr langes Brett zwischen ihnen bildete eine improvisierte Brücke.
Schnell, aber vorsichtig balancierte Abby darüber, bedacht, nicht runterzusehen.
„Bleib stehen!“, rief Raffa hinter ihr.
„Kannst du vergessen!“, gab Abby zurück und schaute, wie Raffa und Renaldo selbst das Brett betraten.
Als Abby das nächste Dach erreicht hatte, schoss ein Pokéball an ihr vorbei und das Pokémon, das daraus hervorkam, landete vor ihr im Weg.
„Oh, hi, Zaggy“, sagte Abby atemlos, als sie das weiße Pokémon mit dem blitzförmigen roten Muster auf dem Bauch sah. „Vipey hat dich schon vermisst.“
Sie rief Vipey hervor, und diese brauchte genauso wenig wie Zaggy einen Befehl zum Angriff: Beide stürzten sich ohne zu zögern aufeinander.
Abby nutzte die Ablenkung, rannte an beiden vorbei und sprang mit Anlauf auf das nächste Dach. Sie erreichte es, auch wenn es knapp war.
„Sorry, Vipey, ihr müsst das ein anderes Mal austragen“, flüsterte Abby und rief das Vipitis zurück.
Raffa hatte das Ende des anderen Daches erreicht und sprang nun selbst.
Nicht weit genug. Raffa schaffte es nicht ganz – sie erreichte zwar den Rand des Daches, aber nur mit den Händen. Sie hing über dem Abgrund, unfähig, sich hochzuziehen. Unfähig, ihre Pokémon zu Hilfe zu rufen, ohne zumindest mit einer Hand loszulassen, was den Absturz bedeuten konnte. Und Renaldo war zu klein, um ihr zu helfen
„Fuck!“, machte Abby. Sie rannte los, doch bevor sie Raffa erreichte, rutschte diese ab.
„Nein!“, schrie Abby, und ihr Schrei vermischte sich mit Raffas. Sie griff nach Slimeys Pokéball und warf ihn. Slimey materialisierte sich auf dem Boden unter Raffa, die mit einem lauten Klatschen in ihr landete.
Raffa rannte zur Dachecke und rutschte an der Regenrinne des Hauses hinunter.
„Scheiße, Raffa. Alles in Ordnung?“
„Ich glaube … schon“, sagte Raffa mit erstickter Stimme. „Bin an keinen der Giftkristalle gekommen.“
Abby rief Slimey zurück, und Raffa rappelte sich auf. Eine unangenehme Stille trat ein.
„Tja ich, äh“, machte Abby, „ich werd dann mal. Immerhin hab ich dir gerade das Leben gerettet, du kannst mich jetzt nicht verhaften.“
Raffa schaute sie ernst an. „Ich lasse dich heute laufen“, sagte sie. „Aber irgendwann kriege ich dich.“
„Bezweifle ich!“, gab Abby zwinkernd zurück. Sie gab Raffa eine flüchtige Umarmung und rannte dann wieder los, hinaus in die Nacht.
„Die Person da links sieht aus wie die Tatverdächtige, wenn ich nicht irre … Und die dargestellten Pokémon sind auch ihre. Sie hat sich selbst gemalt?“
„Ja.“
„Und die andere Person … Moment, das sind doch … Und die Pokémon …“
„Ich weiß.“
„Sie sehen aus, als würden Sie gegeneinander kämpfen. Nur die beiden Affiti nicht.“
„Ja. Wir haben die nie gegeneinander kämpfen lassen.“
„Sie … kennen die Verdächtige?“
„Ja.“
„Sieht auf dem Bild so aus, als seien Sie Erzfeindinnen.“
„Das trifft es nicht ganz.“
„Wie meinen?“
„Das würden Sie nicht verstehen.“
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