Wenn ich unterstelle, dass eure Auffassung richtig ist (also @Alice und @Shorino) dann drängt sich doch die Frage auf: wo ist denn die Grenze und wer legt die fest? Ab wann gilt man eurer Meinung nach als Vegetarier und mit welcher objektiven Grundlage? Kann ich mich selbst als Vegetarier zählen?
Was ich mit meinen Beiträgen auszudrücken versucht habe, war, dass es völlig unwichtig ist, ab wann jemand Vegetarier ist und ab wann nicht. Wenn 60kg pro Kopf pro Jahr Fleischkonsum der Durchschnitt ist, und jemand anders nimmt nur 30kg pro Jahr zu sich, dann ist das in meinen Augen ein Gewinn. Genauso, wie es ein Gewinn ist, wenn jemand nur 10kg oder nur 5kg zu sich nimmt oder wenn er gar kein Fleisch isst. Ich verstehe jetzt, dass es für dich offensichtlich ein großer Unterschied ist, ob eine Person 0,01kg Fleisch pro Jahr ist oder 0kg. Wenn du meine Beiträge anschaust, wirst du sehen, dass ich fast überall den Begriff Vegetarier in Anführungsstriche gesetzt habe. Es ging mir dabei eher darum, die Gruppe an Menschen zu bezeichnen, die eben zu überwältigendem Teil auf Fleischkonsum verzichtet haben, weil ich aus pragmatischer Sicht keinen Unterschied sehe. Beide leisten meiner Ansicht nach (fast) gleich viel. Wie man sie nennt ist doch irrelevant.
Meine Schwester ist Veganerin. Neulich hatten wir hier einen Geburtstag gefeiert, und es gab zwei Kuchen, einen veganen und einen nicht veganen. Nun hat mein Bruder, weil ihm sowas egal ist, dasselbe Messer für beide Kuchen benutzt, sodass der eine Kuchen quasi nicht mehr zu 100% vegan war, weil da Sahne des anderen Kuchens draufgekommen ist. Wenn meine Schwester den ehemals veganen Kuchen nun trotzdem isst, bedeutet das dann, dass sie keine Veganerin mehr ist? Wie viel Sahne darf von einem Kuchen zum anderen getragen werden, damit sie noch Veganerin ist?
Wenn man sein Leben lang Gummibärchen gegessen hat und eigentlich Vegetarier ist, und man erfährt dann, dass die nicht vegetarisch sind, sondern tierische Gelatine benutzen, heißt das dann, dass man vorher kein Vegetarier war? Man hätte sich ja besser informieren können! Was, wenn man Essen von jemandem annimmt, der einem versichert, dass es vegetarisch ist, obwohl es nicht vegetarisch ist? Ist man dann auch kein Vegetarier mehr? Wenn man als Vegetarier auf dem eigenen Essen Sauce duldet, die vom gebratenen Steak stammt (obwohl man das Steak nicht isst), ist man dann kein Vegetarier mehr, weil ein Teil der Sauce ja vom Fleisch stammt? Wenn man als Vegetarier einen Gürtel aus Leder trägt, ist man dann noch Vegetarier oder nicht? Wenn man nach 10 Jahren grundlegend vegetarischer Ernährungsweise ein Mal Parmesan (Parmesan ist nicht vegetarisch) zu sich nimmt und dann die nächsten 10 Jahre wieder nur noch vegetarisch isst, war man dann 20 Jahre Vegetarier oder wird das in zwei Teile aufgespalten? Oder war man nie Vegetarier? Übrigens war das Beispiel mit dem lavorgezüchteten Fleisch in einem vorigen Beitrag nicht aus der Luft gegriffen. Jemand, der solches - und nur solches - Fleisch isst, ist der Vegetarier oder nicht? Natürlich ist er streng genommen kein Vegetarier, aber er erfüllt trotzdem die von dir geforderte moralische Prinzipientreue. Und wenn ein Mensch beispielsweise Wild isst, weil er findet, dass Wildkonsum den moralischen Richtlinien entspricht, die er sich gesetzt hat, dann darf er sich wohl auch nicht mehr Vegetarier nennen? Wie sollen solche Menschen sich dann nennen? Müssen die jetzt einen neuen Begriff etablieren? Vielleicht »Moraletarier« - die, die nur essen, was sie für moralisch richtig halten?
Ich vertrete die Ansicht, dass es in der Praxis fast unmöglich ist, sich komplett vegetarisch zu ernähren. Was noch schwerer ist, ist rauszubekommen, ob man sich selbst wirklich vegetarisch ernährt oder nicht - es sei denn, man produziert alles was man isst komplett selbst, ohne sich auf andere Menschen zu verlassen und ohne jemals irgendetwas aus anderer Quelle zu verspeisen. Dann, und nur dann, kann man relativ sicher sein, dass man die Wahrheit sagt, wenn man behauptet, man würde sich selbst vegetarisch ernähren.
Ich zähle diese ganzen Beispiele auf, weil ich finde, dass nicht ich es bin, der den Begriff Vegetarismus ad absurdum führt. Der Begriff hat für sich genommen einfach kaum Aussagekraft. Wenn du behaupten willst, dass du Vegetarier bist, obwohl du jeden Tag Fleisch isst, ist das deine Sache. Es ist doch völlig überflüssig, darüber zu diskutieren, wann genau jemand nun noch Vegetarier ist und wann nicht mehr. Es lässt sich sowieso nicht so klar sagen, wie du es zu glauben scheinst. Du kannst nie wissen, ob sich jemand wirklich vegetarisch ernährt, weil die Person selber das nie so genau wissen kann. Man muss sich bei der Ernährung fast immer auf irgendwelche fremden Menschen verlassen, und sobald man das tut, kann es sein, dass jemand einen Fehler macht und man eben dann doch kein Vegetarier ist. Und es zieht auch nicht, wenn man behauptet, dass man nur dann Vegetarier ist, wenn man glaubt, sich vegetarisch zu ernähren. Denn dann könnte man einem Typen ja sagen, er bekommt nur vegetarisches Zeug, obwohl er in Wahrheit ja nur Fleisch bekommt. Die Person als Vegetarier zu bezeichnen wäre auch absolut absurd.
Ich habe doch schon selber in meinen Beiträgen gesagt, dass Shorino dann eben kein echter Vegetarier ist und er hat das (sarkastisch) in seinem eigenen Post ja auch schon bestätigt. Und was bringt das nun? Wo ist der Mehrwert? Jemand isst einmal in 10 Jahren Fleisch und ist deswegen kein Vegetarier mehr … wie würdest du so jemanden denn nennen? Außer einen Heuchler? Wenn er im Alltag nicht sagen darf, dass er sich vegetarisch ernährt, dann wird es für ihn doch nur noch schwieriger, sich vegetarisch zu ernähren. Letztendlich hat Shorino doch nur gesagt, dass er sich eigentlich vegetarisch ernährt, aber dann doch ein Mal Fleisch gegessen hat. Gut, er hätte sich nicht Vegetarier nennen dürfen, duh. Ist das jetzt das, was dabei rauskommt? Dass er sagen muss »bis gestern war ich Vegetarier, aber dann aß ich Fleisch. Nun setze ich meine vegetarische Ernährungsweise fort«, damit das politisch korrekt ist und niemand getriggert wird oder wie? Oder muss er sagen, dass er kein Vegetarier ist, sondern ein »Selten-Fleisch-Esser«?
Laut Duden ist ein Vegetarier jemand, der sich [vorwiegend] von pflanzlicher Kost ernährt. Ich sehe nicht, wieso ich den Begriff ad absurdum führe, nur weil ich finde, dass das »vorwiegend« in dem Satz eine Bedeutung hat. Aus der Etymologie des Begriffs geht für mich auch nicht hervor, dass da keine Ausnahmen vorkommen dürfen. Wenn du in der Praxis einem Typen begegnest, der sich Vegetarier nennt, dann gibst du dem halt kein Fleisch zu essen. Ob er vor zwei Jahren mal Fleisch gegessen hat, oder ob er in zwei Wochen ausnahmsweise Fleisch essen wird, das ist dabei doch egal. Wieso ist der Druck da so groß, dass da ein genaues Label entsteht? Vegetarismus ist in gewisser Weise auch ein Lifestyle. Hast du ne klare Definition davon, was einen Hipster ausmacht? Oder wann man ein Goth ist? Wann darf man sich Christ nennen? Wann darf man sagen, dass man auf Diät ist? Was ist ein Gamer? Wann ist man politisch links? Wie gut muss man Schach können, damit man sich Schachspieler nennen darf? Wann genau ist man Humanist? Wenn eine Frau einmal in ihrer Kindheit kurz in einen Kerl verknallt war und danach nur noch in Frauen, darf sie sich dann lesbisch nennen oder ist sie strikt bisexuell? Wie viele Animes muss man geschaut haben, um ein Weaboo zu sein? Welchen ökologischen Fußabdruck muss man haben, um sagen zu dürfen, dass man einen grünen Lebensstil führt?
Klar, ich würde es seltsam finden, wenn jemand, der den ganzen Tag Fleisch isst, sich Vegetarier nennt. Ich kenne auch viele Vegetarier, die mal in einer Notsituation Fleisch gegessen haben, siehe Realitys Beitrag. Es kann halt mal sein, dass man in eine soziale Situation kommt, wo es unsinnig wäre, am eigenen Fleischmeiden festzuhalten, und welche Situationen man als solche einschätzt muss jeder für sich entscheiden. Und es ist ja wohl ein Unterschied, ob eine Person in 5 Jahren ein Mal Fleisch isst, oder ob sie in 5 Jahren 5000 Mal Fleisch isst. Dann zu sagen »Ja super, dann kann ich mich ja auch Vegetarier nennen, sind ja nur 4999 Mal mehr!«, ist doch Quatsch. Letztendlich dienen diese Labels aber doch nicht dem Zweck, einen Menschen genau zu beschreiben, sondern sie dienen dazu, dass er sich identifizieren kann und sie sollen anderen dabei helfen, mit ihm umzugehen. Man muss doch jetzt nun wirklich nicht mit nem Klemmbrett hinter den Vegetariern herlaufen und darauf warten, dass sie dann doch etwas Unvegetarisches zu sich nehmen, damit man sich dann zurücklehnen und sie Heuchler nennen kann.