Die Dyrade wanderte missmutig unter den tief hängenden Ästen der Bäume hindurch. Immer noch. Das, was sie für die Dächer von Kafon gehalten hatte, hatte sich als nur ein kleines Dorf herausgestellt. Immerhin hatte sie dort Auskunft erhalten, wie weit es noch bis zur Stadt war und eine Karte erstehen können. Anschließend war ihr alles klar gewesen. Sie hatte sich eingestehen müssen, zuvor keinerlei Ahnung von der wahren Größe Kuusiams gehabt zu haben. Zwar gab es auch "zu Hause" Karten, diese zeigten aber nur eine verkleinerte Version der bekannten Welt ohne Maßstabsangabe. Nur die Umgebung war wesentlich genauer kartographiert worden, aber diese Karten waren ja auch von den Dyraden selbst hergestellt worden und nicht von fahrenden Händlern eingekauft.
Jedenfalls hatte sie die genaue Richtung, in der Kafon lag, erfahren, sowie eine ungefähre Entfernungsangabe.
Nun, man hätte den Weg in weniger als zehn Tagen bewältigen können, doch Diana hatte eine andere Route gewählt, die ihr sicherer erschienen war. Der kürzeste Weg hätte direkt durch eine weite, baumlose Graslandschaft geführt, was sich Diana kein drittes Mal antun wollte, hatten doch die beiden letzten waldfreien Gebiete, die sie durchquert hatte, ihr Wissen um die Gefahren Kuusiams auf unangenehme Weise erweitert.
Stattdessen war sie also dem kleinen Fluss gefolgt, der in einem See mündete. Von dort aus hatte sie den anderen Zufluss ausfindig gemacht, der direkt aus den Quellen von Kafon kam. Beide Flüsse waren dicht bewachsen, Weidenzweige hingen bis hinunter in die Strömung und auch andere Bäume boten ihr genügend Deckung und das Gefühl von Sicherheit. Natürlich konnte man die Flussvegetation nicht mit einem echten Wald vergleichen, aber ein Baum war schließlich besser als kein Baum. Oder wohl eher wenige Bäume, wenn man das Dyradensprichwort entsprechend der jetztigen Situation erweiterte.
Aus diesen Günden hatte sie jetzt so viel länger gebraucht, was der Grund für ihre schlechte Laune war. Es nervte sie, nur so langsam voran zu kommen. Was, wenn Mutter und die anderen schon viel weiter gekommen waren? Andererseits gab es aber auch keine Garantie, dass ihre Famile überhaupt schneller als sie selbst gewesen war. Diana war sich nicht sicher, ob sie nicht auch einfach warten könnte, und darauf hoffen, dass ihre Familie in ein paar Tagen den gleichen Weg entlang gehen würde. Dennoch erschien es ihr so unwahrscheinlich, dass sie sich dazu entschlossen hatte, immer so schnell wie möglich weiterzureisen, um die Wälder des Südens zu erreichen und dann dort ihre Familie zu treffen oder auf sie zu warten.
Vielleicht wirst du aber auch vergeblich warten, vielleicht kommen sie nie dort an, flüsterte eine unbarmherzige Stimme in Diana. Dann wäre deine ganze Reise umsonst gewesen, all die Gefahren umsonst durchgestanden... Sie hätten nur auch einem wilden Tier begegnen müssen, z.B. einem Riesenvogel... Bei dem Gedanken an ihren letzten Kampf begann ihr Bein zu schmerzen. Die Wunde war fast verheilt, wie viel man später davon noch sehen würde, war noch nicht ersichtlich. Im Moment sah sie jedenfalls nicht schlimmer aus, als wenn Diana an einem Rosenstrauch mit besonders fiesen Dornen hängen geblieben wäre. Niemand würde ihr glauben, dass ausgerechnet sie einem riesigen Vogel entkommen war. Geschweige denn, dass ich ihn zur Strecke gebracht habe. Diana lächelte zufrieden. Das war ein Geheimnis, das sie für sich behalten würde. Es war die typische Verhaltensweise einer Dyrade, gewonnene Kämpfe nicht an die große Glocke zu hängen. Je mehr du unterschätzt wirst, desto leichter fallen deine Feinde dir zum Opfer. Auch eine Dyradenweisheit. Und sie traf zu. Die zierlichen Dyraden galten nicht als starke Kämpfer, und ebenso wenig als kriegerisches Volk. Sie lebten zurückgezogen in ihren Wäldern, die Welt wusste, dass es sie gab, aber niemand kannte sich wirklich gut mit ihnen aus. Und so wussten nur wenige um ihr Talent, Hinterhalte zu legen oder um die wahre Stärke ihrer Waldmagie, die ihre körperlichen Schwächen mehr als ausglich.
Diana war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass der Weg unter ihr immer fester geworden war und schließlich gezielt vom Fluss weg führte. Vor ihr tauchte die Stadtmauer von Kafon auf.
Und diesmal wusste sie mit Bestimmtheit, dass sie die nächste Etappe ihrer Reise endlich erreicht hatte.