„Ich durfte nicht“, beklagte sich Jan. „Schwester Joy hatte die Erzieher zwar dazu überredet, dass ich mich um das Plinfa kümmern kann, aber ansonsten ist damals alles beim Alten geblieben. Und als ich dann endlich volljährig war ...“
„Plinfa, pli?“, mischte sich das soeben erwähnte Pokémon an dieser Stelle in das Gespräch ein.
Jan stutzte einen Augenblick und sagte dann: „Du hast Recht Plinfa.“ Er atmete einmal tief durch und begann dann noch einmal von Vorne: „Also, ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Die anderen Kinder konnten mich nicht Leiden, und so habe ich mich eigentlich immer sehr einsam gefühlt. Irgendwie habe ich es dann aber vor acht Jahren auf einer ‚Urlaubsreise‘ geschafft, mich von der Gruppe zu trennen und auf einer Wiese ein verletztes Plinfa gefunden. Ich habe das zum nächsten Pokémoncenter gebracht. Natürlich haben die Erzieher mich später wieder gefunden, aber Schwester Joy hat dafür gesorgt, dass ich das Pokémon behalten durfte. Bis ich volljährig war, konnten wir nicht trainieren, weil ich gar nicht wusste, wie man das macht, und außerdem war Plinfa das einzige Pokémon im Heim, und nach draußen gehen und mit anderen Trainern spielen durften wir nicht. Aber dafür ist zwischen uns beiden ein sehr starkes Band der Freundschaft entstanden.“
An dieser Stelle unterbrach er seine Geschichte um zu sehen, ob diese für Siegfried, Mia und ihre Pokémon interessant war oder ob sie sich langweilten.
Siegfried wurde überrascht. Sein Gesprächspartner war ein einsamer Waise. Und laut seiner Erzählung war das Waisenhaus, in dem er aufgewachsen ist, nicht besonders pokémonfreundlich. Zwar war Siegfried nicht klar, warum das Waisenhaus keine Interaktion mit Pokémon zu lies, aber das brauchte er auch nicht zu wissen. Für ihn war eines klar: Sein Gegenüber hatte in seiner Vergangenheit überwiegend ein Pokémon als Spiel- und Gesprächspartner. Dies hatte wohl dazu geführt, dass er jenes Plinfa problemlos verstehen konnte.
„Oh, verstehe. Muss schlimm gewesen sein, ohne Eltern und menschlichen Freunden aufzuwachsen.“ Er pausierte kurz. „Andererseits muss ich zugeben, dass du dir meinen Respekt verdient hast. Du und dein Plinfa haben lange gewartet, bis ihr diesen Ort verlassen und auf Reisen gehen konntet. Auf mich machst du den Eindruck als ob du die Vorhölle mit Bravour überstanden hättest.“ Ein herzhaftes Lächeln ziert über Siegfrieds Gesicht.
Melisa hingegen langweilte sich. Die Informationen ihrer menschlichen Partner, abseits ihres Trainers, interessierten sie nicht. Sie hatte auch keine Lust mit den anderen anwesenden Pokémon zu interagieren. Sie brauchte eine Selbstbeschäftigung. Sie lehnte ihren Kopf an Siegfrieds kurzen, aber aufgelockerten Harren an und schloss ihre Augen in der Hoffnung mit einem Nickerchen Zeit zu überbrücken.
Aufgrund der Tageszeit konnte sie jedoch ihre Kräfte nicht zur Ruhe setzen. Instinktiv konzentrierte sie sich und scannte ihre Umgebung. Die anwesenden Menschen, oder eher gesagt Trainer, hatten für sie keine herausstehenden Eigenschaften. Auch die Pokémon, die sie besaßen, waren nichts Besonderes. Starterpoekmon, regulär auftauchende Pokémon und ... ein Trasla?
Ihre Augen schossen auf und sie drehte sich in Richtung des besagten Pokémon. Sie konnte mit dem anderen Trsasla keinen Augenkontakt aufnehmen. Die Menschen waren im Weg. Doch sie war sich sicher. Einer dieser Menschen hatte es. Doch wer? Und was sie noch viel mehr Interessierte: wie stark war dieses Trasla? Melisa konnte nicht anders als lächeln.
Als Siegfried jetzt schon einen Schlussstrich unter Jans Geschichte zog, hatte der Mentalist mit der Brandnarbe irgendwie das Gefühl, dass sein Gegenüber ihn irgendwie so verstanden hatte, dass er erst vor gut einer Woche aus dem Waisenhaus entlassen worden war. Aber bevor er darauf eingehen konnte, redete der junge Mann noch weiter und meinte, dass Jan die „Vorhölle mit Bravour überstanden“ hätte. „Ich denke mal, dass mir die Zeit auf dem Frachtschiff geholfen hat, die schlimmsten Auswirkungen zu überwinden“, fügte er deshalb noch hinzu. „Als ich nämlich endlich frei war, fehlten mir sowohl das Geld für eine Pokémonreise als auch das Wissen, wie man als reisender Pokémontrainer kostengünstig über die Runden kommt. Also habe ich mir für die nächsten Jahre einen Job gesucht. An Bord gab es eine Kollegin mit einem Feurigel, die mir viel über das Training von Pokémon und über Pokémonkämpfe erzählt hat. Aber das Meiste davon war nur Theorie, weil der Kapitän keine Pokémon an Bord duldete und wir daher zusehen mussten, dass niemand unsere kleinen Freunde entdecken konnte. Na ja, und um die Geschichte zu beenden, muss ich eigentlich nur noch erwähnen, dass er mich vor ein paar Wochen dabei beobachtet hat, wie ich ein verletztes Taubsi eingefangen habe und mich dann vor die Wahl gestellt hat, entweder meine drei Pokémon freizulassen oder im nächsten Hafen das Schiff zu verlassen.“
Mia hörte dem Trainer mit der Brandnarbe im Gesicht aufmerksam zu und runzelte leicht die Stirn. Im Gegensatz zu Jan war sie wirklich sehr behütet aufgewachsen ... Seine Kindheit musste wirklich nicht leicht für ihn gewesen sein. Sie verstand auch nicht, was diese Menschen alle gegen Pokémon hatten. Denn schließlich waren diese weder dumm noch bösartig, Entons mal nicht mitgezählt und vorausgesetzt, man verärgerte die Pokémon nicht.
Aber die meisten, auch viele Trainer, betrachteten Pokémon als minderwertig, worüber sich die junge Trainerin schon manchmal sehr aufgeregt hatte. Glücklicherweise war ihr das bei dieser Gruppe noch nicht aufgefallen.
Mia lächelte Jan zu. „Und wie es aussieht, hast du dich für deine Pokémon entschieden.“ Sie hätte diese Entscheidung auch für ihre Pokémon getroffen und ihr Reisebegleiter war ihr sofort noch ein Stück sympathischer.
‚Ein Frischling ... Nein, ich sollte das lieber nicht denken. Er kann ja nichts dafür, dass seine Reise so spät anfängt.‘ Siegfried stützte seinen Kopf, während er dem Rest der Geschichte zuhörte. ‚Ob er mit seiner Vergangenheit zufrieden ist?‘ Bisher hatte der Gedankenverfallene der Brandnarbe keine Beachtung geschenkt. Er ging davon aus, dass sie nicht erwähnenswert wäre, vor allem, da Jan sie nie erwähnt hatte. Wahrscheinlich ist es bei einem Unfall oder ähnlichem passiert. Nichts das irgendwie nennenswert wäre.
Am Ende der Geschichte saß Siegfried sprachlos da und starrte Löcher in die Luft. Ihm war eines klar: Sein Gegenüber würde seine Pokémon auf jeden Fall schützen. Auch die zukünftigen Hindernisse dürfte er gut überwinden können. „Und wie es aussieht, hast du dich für deine Pokémon entschieden.“ Der Mentalist sah zu ihr rüber. ‚Wie hieß sie noch? Mia?‘ Siegfried wartete auf Melisas Antwort, doch sie war mit ihren Gedanken bei anderen Dingen, sodass seine Frage nicht beantwortet wurde. Nachdem er nun einigermaßen die Vergangenheit seines Mitstreiters wusste, hätte er nun nach ihrer fragen können, entschied sich aber dagegen.
„Natürlich habe ich mich so entschieden“, antwortete Jan in seinen Gedanken auf Mias Bemerkung, „Für mich gab es da nichts zu überlegen.“ Aber er sprach diese Worte nicht aus, weil er der Meinung war, dass man ihre Aussage auch ganz gut so stehen lassen konnte. Der Rest seiner Reise - also die gute Woche, die er nach dem Verlassen des Frachtschiffs bis hier her gebraucht hatte schien im Vergleich zu seiner Vergangenheit unwichtig zu sein. Oder doch nicht? Irgendwie wollte er sich darüber im Moment keine Gedanken machen. Irgendwie war er neugierig darauf, noch etwas mehr über Siegfried zu erfahren. Aber weil er so kurz nach seiner doch etwas ernsthafteren Erzählung nicht einfach so belanglos nachfragen konnte, wartete er erst einmal ab, welche Themen seine Kameraden als nächstes ansprechen würden.
Off Topic:
Teil 2 von 3 von der Interaktion zwischen @Siegfried Wilder, @Glaziola 13 und @Feuerdrache. Der dritte Teil sollte auch bald kommen.