Und so wird es auch mit einem Personalpronomen für nicht-binäre Geschlechter sein. Im Englischen konnte man dafür ein bereits existierendes Wort verwenden, im Deutschen muss man halt ein Wort "erfinden"/kombinieren, um den Anspruch gerecht zu werden. So wie es auch andere Sprachen bei anderen Dingen tun mussten.
Ich habe zwar behauptet, dass ich meine Gedankengänge zur „Lösung“ des Problems nicht ausführen will, aber wenn das die erste Reaktion ist, dann sollte ich das vielleicht der Anschaulichkeit halber lieber trotzdem tun. Alaiya und ELIMinator haben aber auch gut zusammengefasst, was ich meine.
Was folgt ist als Gedankenspiel gedacht, um zu zeigen, wie viel sich am Deutschen ändern müsste, um es gendergerecht zu machen, und es gibt sicher reihenweise ganz eigene Probleme in diesem Ansatz, die ich nicht bedacht habe, also bitte nicht davon ausgehen, dass das anhand irgendeiner Metrik eine annehmbare Lösung wäre. Der Ansatz ist ähnlich zu denen, die ein neues Pronomen einführen, beispielsweise zu dem Pronomen „A“, das in der von Alaiya verlinkten Liste ganz oben steht, also gehe ich mal davon aus, dass es viele weitere solcher Ansätze gibt.
Vielleicht verstehst du dann etwas besser, warum ich die heutige Version der Sprache problematisch finde und warum es eben nicht reicht, einfach nur ein genderneutrales Pronomen zu finden. Die Probleme sind sprachlich tief verwurzelt. Die Ausarbeitung ist relativ ausführlich, also nicht erschrecken.
„Wie könnte eine gendergerechte Fassung der deutschen Sprache aussehen?“
Zunächst zeige ich Probleme auf, die in der Sprache bestehen, und dann einen möglichen Lösungsansatz, der diese Probleme beseitigen könnte. Wer die Probleme schon kennt, kann den Teil auch überspringen.
Bestehende Probleme
- „Jeder hat das schon einmal gesehen.“
- „Man hat es nicht leicht in seinem Leben.“
- „Diese Person ist von Beruf Lehrer.“
Hier sind ein paar Beispiele dafür, wie das generische Maskulinum zu Problemen führt. Auch wenn die Aussagen generell gemeint sind, und selbst dann wenn sie die Existenz weiblicher oder nichtbinärer Menschen implizieren sollen, so wecken sie doch zunächst die Konnotation von Männlichkeit. Das geschieht sogar dann, wenn man versucht, über einen nichtmännlichen Bezeichner wie das Wort „Person“ auszuweichen. Wenn wir versuchen, diese Aussagen im Rahmen der deutschen Standardsprache auf männliche und weibliche Personen auszuweiten, kommen wir auf solche Konstrukte:
- „Jeder und jede hat das schon einmal gesehen.“
- „Man hat es nicht leicht in seinem oder ihrem Leben.“ [grammatisch inkorrekt]
- „Diese Person ist von Beruf Lehrer oder Lehrerin.“
Diese Lösungen haben natürlich Probleme. Zunächst sind sie für den alltäglichen Sprachgebrauch zu lang, des Weiteren geben sie eine Hierarchie vor, weil immer entweder die weibliche oder männliche Variante zuerst genannt wird, und schließlich wird die Existenz von nichtbinären Menschen einfach verschwiegen.
Nun kann man durch Anwendung von sprachlichen Konstrukten einige der Probleme umgehen:
- „Jede Person hat das schon einmal gesehen.“
- „Keine Person hat es leicht in ihrem Leben.“
Allerdings merkt man, dass hier getrickst werden muss, indem ganze Sätze umgestellt werden. Zudem sind diese Formen weiterhin länger als das generische Maskulinum und daher im täglichen Sprachgebrauch nicht praktikabel. Aber einige Aussagen lassen sich selbst über die Verwendung des Wortes „Person“ nicht sinnvoll verbessern, wie das obige Beispiel zeigt: „Diese Person ist von Beruf Lehrer.“
Gerade bei Berufsbezeichnungen wird also letztendlich klar, dass wir in der Standardsprache vor einem unlösbaren Problem stehen. Nehmen wir folgenden Satz:
- „Alice ist jetzt fertig mit ihrer Ausbildung zum Tischler.“
- „Alice ist jetzt fertig mit ihrer Ausbildung zur Tischlerin.“
Beide Sätze spiegeln nicht die Realität wider. Im ersten Satz stimmt das Geschlecht von Alice nicht mit dem Geschlecht ihrer Berufsbezeichnung überein, und der zweite Satz impliziert ungewollterweise, dass es eine Ausbildung speziell zur Tischlerin gibt, was nicht der Fall ist: Die Ausbildung zu einem Tischler ist dieselbe wie die Ausbildung zu einer Tischlerin. Das Geschlecht von Alice hat für ihre Ausbildung keine Relevanz, muss aber trotzdem im Ergebnis der Ausbildung angegeben werden. Wenn wir des weiteren nichtbinäre Personen einbeziehen oder die Aussage geschlechtsblind machen wollen, geht das nur unter Anwendung aufwändiger Konstruktionen:
- „Alice ist jetzt fertig mit der Ausbildung zu einer Person, die beruflich Tischlerei ausübt.“
Dieses Satz ist allerdings nicht praktikabel, da er vor Vernebelung an Verständlichkeit einbüßt.
Das andere Problem der deutschen Sprache ist die schlichte Abwesenheit einer natürlichen Möglichkeit, eine Person zu bezeichnen ohne ein Geschlecht oder zumindest die Anwesenheit eines Geschlechts zu implizieren. Beispiel:
- Lou hat heute Geburtstag. Es ist sein zweiter Geburtstag. Er freut sich sehr.
- Lou hat heute Geburtstag. Es ist ihr zweiter Geburtstag. Sie freut sich sehr.
- Lou hat heute Geburtstag. Es ist sein oder ihr zweiter Geburtstag. Er oder sie freut sich sehr. [impliziert, dass Lou ein binäres Geschlecht hat, sagt aber nicht, welches]
- Lou hat heute Geburtstag. Es ist Lous zweiter Geburtstag. Lou freut sich sehr. [Einzige Möglichkeit, kein Geschlecht zu implizieren, ist, immer den Namen anstelle eines Pronomens zu verwenden]
Formulierungen drei und vier sind theoretische Möglichkeiten, das Problem zu lösen, doch sie sind nicht praktikabel, da sie entweder wieder zu lang sind und eine Hierarchie bilden oder durch Wortwiederholung Stolperstellen im Lesefluss verursachen. Relativsätze wie „Lou, der oder die heute Geburtstag hat, freut sich sehr.“ lassen sich schlicht und ergreifend nicht inklusiv ausbessern und müssen vollkommen umgestellt werden: „Lou hat heute Geburtstag und freut sich sehr.“
Es gibt viele Ansätze, wie man Genderneutralität durch neue Grammatiken und Formen in der deutschen Sprache einführen könnte. Keiner der Ansätze, die mir bisher bekannt sind und allgemein Verwendung finden wirkt auf mich wie eine gute langfristige Lösung.
Vorweg ist mein größtes Problem mit den meisten existierenden Lösungsansätzen, dass sie nicht genderblind sind. Die meisten implizieren die Existenz von Geschlechtern und verankern männliche und weibliche Geschlechtsidentität in die Norm. An und für sich ist das kein Problem – das Problem entsteht erst dadurch, dass die Implikation eines Geschlechts in einer auf deutsch formulierten Aussage nicht optional ist sondern unvermeidbar.
Sätze wie „Die Student*In schlich sich in den Raum“ erwecken eher die Konnotation einer weiblichen Person, während das generische Maskulinum eine männliche Person in den Kopf lockt. Nichtbinäre Personen kommen kaum ins Bewusstsein, selbst wenn sie ein eigenes Symbol bekommen.
Was eine gendergerechte Sprache neben der Einführung von Gleichstellung zwischen weiblichen und männlichen und nichtbinären Identitäten meiner Ansicht nach braucht ist ein Ausdruck für die Abwesenheit von Geschlechtsidentität. Das englische they/them ist ein gutes Beispiel dafür. Der Satz „After Sam entered the room, they sat down at their desk“ drückt nicht zwangsläufig aus, dass Sam nonbinary ist, sondern kann außerdem ausdrücken, dass das Geschlecht von Sam der Person, die den Satz sagt, einfach nicht bekannt ist. Zudem erfolgt keine Konnotation mit einem bestimmten Geschlecht.
Die meisten Lösungsansätze beziehen sich überhaupt nur auf die geschriebene Sprache und nehmen an der Alltagssprache gar keine Änderungen vor. Das führt dazu, dass solche Regelungen oft nur in höheren Bildungsschichten oder in Amtssprache sowie in linken Kreisen Anwendung finden. Wenn gendergerechte Sprache nur in akademischen oder linken Kreisen benutzt wird, dann trägt sie kaum zur Gleichstellung der Geschlechter bei sondern dient eher als Erkennungsmerkmal der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen.
Das bedeutet auch, dass ein generelles Pronomen leicht zu sprechen sein muss. Es muss auch dann in einem Satz noch erkennbar sein, wenn es vereinfacht oder die Endung verschluckt wird, und es darf den Satz nicht zu einem Zungenbrecher machen. Zudem sollte das Pronomen nicht auf ein bestimmtes Geschlecht hinweisen. Es sollte keine Mischform aus bestehenden Geschlechtern sein, sondern die Abwesenheit von Geschlecht ausdrücken.
Lösungsansatz: Die „Identitätslose Person“
Stellt euch eine Person vor, die nicht existiert. Eine Person ohne Geschlecht und ohne Eigenschaften. Die einzige Eigenschaft, die diese Person hat, ist ihr Name. Den Namen suchen wir uns aus – ich habe eine Weile überlegt und einen Namen gewählt, der gut auszusprechen sein sollte und das Sprachbild nicht mehr ruiniert als notwendig. Wir nennen diese Person also beispielhaft Ja – gesprochen wie das bekannte Zustimmungswort „Ja“. Das Wort kommt bereits häufig im Deutschen vor und hinterlässt daher kein allzu großes Abbild im allgemeinen Sprachklang. Zudem ist es sehr kurz, was die Handlichkeit verbessert. Diese Identitätslose Person dient als gedankliches Hilfsmittel, um genderneutrale Formen zu bilden.
Immer wenn wir eine Bezeichnung für eine Person oder eine Personengruppe suchen, deren Geschlecht wir nicht kennen, können wir als Ersatz den Namen unserer Identitätslosen Person Ja verwenden.
Beispiele:
- „Sie hat sich heute nicht gemeldet“ → „Ja hat sich heute nicht gemeldet.“
- „Ich habe seine Nummer aus dem Telefonbuch.“ → „Ich habe jas Nummer aus dem Telefonbuch.“
- „Emma nahm einen Schluck aus ihrem Tee. Dann stand sie auf.“ → „Emma nahm einen Schluck aus jas Tee. Dann stand ja auf.“
Es ist auch möglich, andere Formulierungen durch die Identitätslose Person auszudrücken:
- „Jeder hat das schon einmal gesehen.“ → „Ja hat das schon einmal gesehen.“
- „Man kann sich das Leben auch schwer machen.“ → „Ja kann sich das Leben auch schwer machen.“
Dabei fällt auf, dass die Sätze „Sie hat ein Problem“ und „Jeder hat ein Problem“ beide mit „Ja hat ein Problem“ transkribiert werden. Die Bedeutung lässt sich in diesen Fällen aber anhand des Kontextes ermitteln.
Des Weiteren kann die Identitätslose Person als Suffix für Gruppenbezeichnungen verwendet werden (Wortstamm + „ja“):
- „Alice ist Lehrja.“
- „Tom ist Designja.“
- „Es handelt sich um eine Gewerkschaft von Arbeitjas.“
Das dürfte wohl die gewöhnungsbedürftigste Änderung sein, da sie vom eigentlichen Konzept von Ja als Person abstrahiert, doch um eine größere Anpassungen kommt man bei Berufsbezeichnungen leider nicht herum. Stellt es euch so vor: Der Identitätslosen Person wird hier eine ganz bestimmte Eigenschaft, nämlich ihr Beruf, zugeordnet. Aus unserer Person Ja ist Arbeit-Ja geworden. Wörter mit einem Stamm, der auf einen Laut endet, der mit J schlecht verbunden werden kann, können mit einem zusätzlichen Bindevokal verknüpft werden: Tischlaja. Da sich das Wort „Tischler“ aus Tisch und -ler zusammensetzt, könnte man auch das ganze Suffix durch die Identitätslose Person ersetzen: Tischja,wobei es hier zu Verständnisproblemen kommen kann.
Um die Abstraktion vollständig zu machen: Artikel und Relativpronomen können nun auch mit ja übertragen werden:
- „Erinnerst du dich an ja Bibliothekarja, mit ja ich letztens ausgegangen bin?“
Alternativ kann man den Artikel weglassen, wie man es auch sonst tun würde, wenn man von einer Person spricht und fürs einfachere Sprechen kann man Worte zusammenziehen:
- „Erinnerst du dich an Bibliothekarja, mit’ja ich letztens ausgegangen bin?“
Manchmal erfordert das Metrum eines Satzes, dass ein Artikel vorhanden ist, aber die Nutzung von „ja“ wäre unhandlich. In dem Fall lässt sich „ja“ zu „a“ verkürzen:
- „Ann sucht eine Lehrerin.“ → „Ann sucht ja Lehrja“ oder „Ann sucht a Lehrja.“ → „Ann sucht’a Lehrja.“
Mithilfe der Identitätslosen Person lässt sich auch biologisches und selbstbestimmtes Geschlecht trennen:
-
„Hast du den Jungen gesehen, der hier gerade durchgelaufen ist?“ → „Hast du ja Jungja gesehen, ja hier gerade durchgelaufen ist?“ (→ „Hast du je Jungja gesehen, da hier gerade durchgelaufen ist?“, siehe unten)
-
„Mein Baby wird ein Mädchen.“ → „Mein Baby wird ja Mädja.“ (→ „Mein Baby wird’a Mädja.“)
Das ist nützlich in Kontexten, wo das biologische Geschlecht einer Person relevant ist (zum Beispiel medizinische Untersuchungen), aber man keine Annahme über das selbstempfundene Geschlecht der Person machen möchte, oder wenn man eine unbestätigte Annahme über eine das Geschlecht einer Person machen muss.
Diese Formen sind dazu gedacht, einen Ersatz zu bilden, wenn man generische Formen braucht oder das Geschlecht einer bestimmten Person unbekannt oder für den Kontext irrelevant ist. In den meisten Fällen wird das Geschlecht einer Person jedoch bekannt sein, und dann kann man einfach die Pronomen nutzen, die diese Person für sich selbst ausgewählt hat.
Bei all diesen Sätzen fällt halt schnell auf, dass es zu häufiger Wiederholung des Lautes „Ja“ kommt – logischerweise, weil „Ja“ als Ersatzwort für alles mögliche benutzt wird. Abhilfe schaffen hier wohl nur Deklinationen oder die Einführung einer weiteren Identitätslosen Person zum Beispiel für die Verwendung als Suffix bei Berufen. Beides würde allerdings wieder die Komplexität der Sprache erhöhen, was die Integration in die Alltagssprache erschwert.
Durch Verkürzungen oder kleine Abwandlungen in bestimmten Kontexten („ja → ’a“ oder „ja → je“ für Artikel oder Possessivpronomen „ja → da“ für Relativpronomen) könnte eine gewisse Abhilfe geschaffen werden. Außerdem könnte man „ja“ nur einmal pro Satz voll aussprechen/ausschreiben und ansonsten zu „’a“ verkürzen. Ist allerdings fraglich, inwiefern das ausreichen würde oder praktikabel wäre.
- „Abenteurerin Molly, der es schon seit längerem nicht gut ging, betrat den Raum, doch ihr war nicht klar, was sie erwarten würde. Ihre Füße waren kalt und sie stolperte über ihre tauben Zehen.“
- → „Abenteuraja Molly, ja’s schon seit längerem nicht gut ging, betrat den Raum, doch ja war nicht klar, was ja erwarten würde. Jas Füße waren kalt und ja stolperte über jas taube Zehen.“
- (→„Abenteuraja Molly, da’s schon seit längerem nicht gut ging, betrat den Raum, doch ja war nicht klar, was’a erwarten würde. Jas Füße
waren kalt und’a stolperte über’as taube Zehen.“)