S A I S O N F I N A L E
- 2016 -
Runde Drei
Informationen / Vote
(„Ocean, Stars, Skys, and You“ von muddymelly)[/font]
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist es aufgrund der Berechnung der Gesamtpunkte mit der Formel wichtig, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Dazu findet ihr weiter unten eine Schablone, die ihr zum Voten nutzen könnt. Des Weiteren sind Sympathievotes sowie Votes für die eigene Abgabe unerlaubt. Begründungen sind keine Pflicht (für die Vote-Medaillen des Bereichs sind Begründungen allerdings notwendig), aber können geschrieben werden, sofern man möchte (ihr könnt euch als Hilfe unser "How-to-vote-Topic" anschauen). Informiert euch ebenfalls in unserem Informations- und Regeltopic der Saison 2016.
ZitatEure Aufgabe in dieser Runde besteht darin, eine kurze Geschichte zu verfassen, in der das Thema Grenzenlose Welten verarbeitet werden soll. Unter Wasser, über den Wolken oder eine andere räumliche Interpretation des Themas - eure Kreativität ist gefragt!
Euch ist freigestellt, ob ihr in eurer Abgabe einen Pokémonbezug habt; beachtet jedoch, dass in einer der drei Runden eine Abgabe mit dem Thema Pokémon vorkommen muss.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 11.12.2016, um 23:59 Uhr.
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Achtet dabei darauf, bei der Schablone zwischen Doppelpunkt und ID/Punktzahl ein Leerzeichen zu machen, damit die Auswertung über den Voterechner ohne Probleme erfolgen kann. Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Ihr dürft 7 Punkte verteilen. Maximal 4 an eine Abgabe. Bitte achtet darauf, dass ihr alle eure Punkte verteilt. Ihr müsst des Weiteren diese Punkte auf mindestens drei Abgaben verteilen.
Mein Kopf … Mein Körper … Warum bin ich so erschöpft? Wo bin ich überhaupt? Am liebsten würde ich schlafen, und doch … Ich habe das Gefühl, irgendetwas stimmt hier nicht.
Vorsichtig öffne ich meine Augen. Das Licht blendet mich, als hätte ich seit Jahren keinen Tag gesehen. Erst langsam gewöhne ich mich daran und erkenne die Details meiner Umgebung. Das Haus eines … Menschen? Warum bin ich hier? Und wie lange schon? Ich sehe, wie sich ein junger Mensch über mich beugt. Ich kenne ihn nicht, aber … Verdammt, ich muss hier weg! Instinktiv greife ich nach der Blume, die neben mir liegt, und fliege so schnell ich nur kann aus dem Fenster, dem einzigen Fluchtweg aus diesem Gefängnis, hinaus. Der Mensch ruft mir etwas hinterher, aber das ist mir egal. Ich muss hier weg. Ich muss hier ganz schnell weg.
Draußen ist es kalt, sehr kalt. Aber ich fühle mich wieder ruhiger. Dieser Mensch … Wer war das? Warum hatte ich solche Panik, als ich ihn sah? Kenne ich ihn?
Ziellos lasse ich mich vom Wind in den Wald tragen, der vor mir liegt. Wie ein Blitz schießt mir eine Frage in den Kopf: Wer bin ich eigentlich? Ich erinnere mich nicht. Habe ich einen Namen? Habe ich eine Vergangenheit? Gibt es irgendjemanden, der sich an mich erinnert? Gehöre ich überhaupt in diese Welt? Ich wünschte, ich wüsste die Antwort auf wenigstens eine dieser Fragen.
Immer weiter gelange ich in den dichten Wald hinein. Schneebedeckte Tannen sind alles, was ich sehe. Hier und da sehe ich ein Paar Pokémonaugen aus dem Dickicht hervorblitzen, doch kaum, dass sie mich erblicken, verstecken sich die Waldbewohner auch schon wieder. Liegt es an mir? Oder sind sie bei jedem Fremden so scheu? Aber es kann doch nicht sein, dass jedes einzelne dieser Pokémon Besuch derart hasst. Ich spüre förmlich, wie ihre angst- und hasserfüllten Blicke an mir haften, als wäre ich ein Monster.
Plötzlich erfasst mich ein Windstoß und ich werde in einen Baum geweht. Ich spüre, wie die Zweige meine Haut zerkratzen. Verzweifelt klammere ich mich an meiner Blume fest, die sich im Geäst verfangen hat, da höre ich das laute Geschrei eines Hoothoot, das genau hinter mir auf einem Ast sitzt. Es fängt an, mit seinem Schnabel auf mich einzuhacken. Jeder einzelne Angriff fühlt sich an wie ein Stich, der meine ohnehin schon verletzte Haut komplett zerstören will. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Was habe ich getan, um diesen Hass zu verdienen?
Mit einem Mal bricht ein Ast und ich falle mitsamt meiner Blume zu Boden. Der weiße Schnee trägt nun einige rote Flecken. Ich befinde mich hier zwischen ein paar niedrigen Büschen. Neben mir befindet sich ein Abdruck im Schnee, der fast exakt zu mir passt. Außerdem Fußspuren eines jungen Menschen. Dieser Ort kommt mir auf einmal so unglaublich bekannt vor. Ein bedrückendes Gefühl überkommt mich. War ich hier schon einmal? Oder spielt mir mein Verstand etwas vor? Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.
Ich wische den Schnee von meiner Blüte und schwebe weiter. Irgendetwas sagt mir, dass ich die Richtung entgegengesetzt der Fußspuren nehmen muss. Ich weiß nicht, wo ich bin. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, diesen Ort zu kennen. Der Wald um mich herum wird immer lichter, je weiter ich mich vorwärts tragen lasse. Ich kann zwischen den Bäumen schon ein weites, schneebedecktes Feld erkennen.
Floette … Ich schrecke zusammen. Was war das eben? Es war wie eine Eingebung, und nun hallt dieser Name in meinem Kopf wider und lässt mich nicht mehr alleine. Floette … Wer ist Floette? Ist das … mein Name?
Ich werde vom Wind aus dem Wald hinaus getragen. Das grelle Weiß meiner Umgebung blendet meine Augen, doch erneut habe ich dieses Gefühl, dieses unerklärliche Gefühl, als würde ich diesen Ort kennen. Und doch weiß ich, dass ich nicht hierher gehöre. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß es. Und die Pokémon um mich beweisen es. Doch wo … Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Zuhause?
Ich schwebe weiter in die weite Welt hinaus. Hinter mir liegt der Wald. Vor mir unendliches Weiß. In weiter Entfernung kann ich Hügel und Berge sehen, doch das ist alles. Hier befindet sich nichts. Das Gefühl der Vertrautheit verlässt mich langsam, und doch zieht es mich in eine bestimmte Richtung. Ich weiß nicht, woher dieses Gefühl kommt, was es zu bedeuten hat oder was ich dort finden werde, aber ich lasse mich davon leiten. Eine Idee, wo ich sonst hingehen könnte, habe ich sowieso nicht.
Immer weiter ziehe ich ins Nichts hinaus, bis auch der Wald hinter mir nichts mehr als ein entfernter Umriss, eine Ahnung eines Unterschieds zum Weiß ist. Die Welt scheint keine Grenzen mehr zu haben, es gibt nur noch Schnee, kalten, toten Schnee.
Inzwischen spüre ich, dass die Kälte meinen Körper komplett umfasst hat. Ich fühle mich schwer, schwach, nicht in der Lage, das noch lange durchzustehen. Zitternd halte ich mich an meiner Blume fest. Ich darf nicht aufgeben. Die Kälte darf nicht siegen. Nicht schon wieder …
Schon wieder? … Ja, schon wieder. Ich erinnere mich. Da war etwas. Alles umgreifende, bittere Eiseskälte. Die Erinnerung fühlt sich frisch an, doch ich kann sie nicht genau einordnen. Was ist mir nur passiert? Diese Erinnerung macht mir Angst.
Ich halte meine Blume noch fester und hoffe, dass der Wind mich irgendwo hin trägt, wo ich willkommen bin, wo ich nicht so frieren muss.
Floette … Dieser Name schießt mir immer öfter durch den Kopf, als wäre es nicht nur irgendeine Eingebung, als wäre es vielmehr ein Ruf, ein Ruf nach mir. Je weiter ich vorwärts schwebe, desto deutlicher wird die Stimme in meinem Kopf. Komme ich meinem Ziel näher? Doch wo soll inmitten all dieses Schnees mein Ziel sein? Hier ist doch nichts. Nichts als Unendlichkeit.
Floette … Ja, ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass das mein Name ist. Doch wer könnte mich rufen? Wer vermisst mich? Floette … Wo ist der Ursprung dieses Rufs? Hier ist nur Schnee, Kälte, nichts. Floette …
Langsam zeichnet sich in der Entfernung ein Unterschied zur ewig weißen Landschaft ab. Ich sehe einige Bäume und Büsche, die anscheinend ein Gebiet begrenzen. Vermutlich wurden sie von Menschen gepflanzt. Neugierig nähere ich mich. Im Sommer ist dieser Ort bestimmt ein wundervoll blühender Garten voll mit Blumen und Leben.
Als ich näher komme, sehe ich, dass auf der großen Fläche zwischen den Bäumen etwas ist. Es sieht aus wie eine Gruppe Pokémon. Vorsichtig versuche ich, nahe genug zu kommen, um sie genau erkennen zu können. Es sind kleine Wesen, die sich an Blumen festhalten und in einem Kreis sitzen, um sich gegenseitig zu wärmen. Floette! Ich erkenne diese Wesen. Sie sind meine Geschwister. Sie sind Floette. Ich bin Floette.
Erst jetzt sehe ich, dass hinter den Floette noch ein weiteres Pokémon schwebt. Sein Kopf ist so weiß wie der Schnee, der alles umgibt. Das große Pokémon, Florges, lächelt die Gruppe an.
Dieser Gesichtsausdruck … Mutter! Das ist meine Mutter! Ich verlasse mein Versteck zwischen den Büschen und fliege geradewegs auf die Pokémon zu. Habe ich endlich einen Ort gefunden, wo ich bleiben kann?
Die Floette bemerken mich und verstecken sich instinktiv hinter ihr. Warum fürchten auch sie mich? Ich bin doch eine von ihnen! Hoffentlich erkennt wenigstens Mutter mich wieder. Sie muss mich doch kennen. Sie muss einfach. Doch mein Hoffen hilft nichts. Sie nimmt eine defensive Haltung ein und ihr Blick wird böse, als wolle sie mir sagen, dass ich hier nicht erwünscht bin. Warum? Was habe ich verbrochen?
Tränen rinnen aus meinen Augen, als ich mich umdrehe und schnell verschwinde. Habe ich denn keinen Platz mehr in dieser Welt? Und wo soll ich jetzt hin? Hinter mir liegt der Garten meiner Heimat, in dem ich nicht mehr willkommen bin. Vor mir liegt eine endlose Welt aus Kälte. Zitternd schwebe ich um die Begrenzung des Gartens herum. Ich kann nicht zurück. Ich kann nirgendwo hin. Ich bin verdammt, von nun an in Einsamkeit zu leben.
Der Wind erfasst wieder meine Blüte. Ich lasse mich davontragen. Irgendwohin. Egal, wohin. Von mir aus auch wieder ins weiße Nichts.
In der Ferne kann ich etwas erkennen, vermutlich eine Menschensiedlung. Dort gehöre ich nicht hin. Dort will ich nicht hin. Aber vielleicht ist es dort warm. Bei den Menschen ist es oft warm. Zögerlich und zitternd schwebe ich auf den Ort zu. Hoffentlich kann ich hier bleiben. Wenigstens für kurze Zeit.
Hohe Mauern begrenzen die Menschensiedlung. Ich betrete sie durch ein großes Tor, das zu meiner Überraschung unbewacht ist. Ich sehe ein großes Gebäude vor mir, ich glaube, die Menschen nennen das ein Schloss. Dort dürfen nur die Mächtigsten von ihnen leben. Um das Schloss herum scheint ebenfalls ein Garten zu sein, doch er sieht nicht verschneit aus. Ob ich dort bleiben kann, wenigstens über den Winter? Ich schleiche mich langsam dorthin, stets bedacht, kein Geräusch zu machen und so unsichtbar wie möglich zu sein. Hinter einem Busch verstecke ich mich. Im Gras sehe ich ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid sitzen. Sie weint und streichelt dabei ein kleines Folikon, das sich liebevoll an sie schmiegt. Ich frage mich, warum sie traurig ist. Ist ihr auch etwas Tragisches widerfahren?
Plötzlich höre ich ein Rascheln hinter mir.
"Buh!"
Erschrocken drehe ich mich um und kauere mich zusammen. Hoffentlich greift mich dieses Pokémon nicht an. Es ist ein grün leuchtendes Wesen, das aussieht wie ein Gegenstand, den Menschen erschaffen haben. Außerdem hat es riesige Zähne.
"Ach komm schon, so gruselig war das nun auch wieder nicht. Jedenfalls. Hast du die Königin gesehen?", fragt das Pokémon und lächelt. Ich zittere und schüttle langsam den Kopf.
"Schade", sagt es dann, "sie ist seit Tagen verschwunden. Die Prinzessin ist auch schon ganz aufgelöst, weil sie nicht glauben will, dass ihre Mutter sie im Stich gelassen haben soll."
"Ja, das verstehe ich", sage ich flüsternd.
"Ich bin übrigens Rotom", sagt das Pokémon und grinst. "Und wer bist du? Und wo kommst du eigentlich her? Und was machst du hier?"
"I-ch bin Floette", sage ich. "Ich habe kein Zuhause mehr. Und mir ist kalt."
"Dann bleib doch hier, Floette. Hier ist jeder willkommen. Und deine Blume da passt ganz gut zu denen, die die Königin hinten im Garten gepflanzt hat." Rotom grinst immer noch. Ich frage mich, ob das sein normaler Gesichtsausdruck ist. "Übrigens, das bei der Prinzessin ist Folikon. Und irgendwo müsste auch noch Ultrigaria sein. Sie leben auch hier. Und sie sind alle ganz nett. Die Prinzessin übrigens auch."
"Danke", flüstere ich, "aber ich bin müde. Ich möchte mich erst einmal hinlegen und erholen."
Rotom nickt. "Ich führe dich nach hinten."
Ich folge dem grün leuchtenden Wesen hinter das Schloss. Dort befindet sich ein regelrechtes Meer von Blumen. Rote, blaue, gelbe, orangene, weiße … Und es ist warm, herrlich warm. Ich husche schnell in das Blumenmeer hinein. Hier fühle ich mich wohl. Meine schwarz und rot leuchtende Blüte sticht zwar immer noch aus der Masse der Blumen heraus, aber das macht weder mir noch Rotom etwas aus.
Erschöpft lege ich mich hin. Der heutige Tag war anstrengend. Doch ich glaube, ich habe endlich einen Ort gefunden, den ich mein Zuhause nennen kann.
Ich denke noch einmal an das kleine Mädchen. Auch sie wurde von ihrer Mutter verstoßen. Wer weiß, vielleicht sind gar nicht alle Menschen schlecht. Vielleicht geht es manchen von ihnen gleich wie uns Pokémon. Und vielleicht … Nein, bestimmt braucht dieses Mädchen einen Beschützer. Jemanden, der sie versteht.
Eine bunt bemalte Vase zerspringt auf dem Boden hinter mir, als ich im Rennen unsanft gegen einen hüfthohen Tisch remple und ich spüre die Nässe durch den Leinenstoff meiner Hose. Nur wenige Meter hinter mir höre ich die dumpfen Schritte der Wachen, die mich fluchend durch das Anwesen verfolgen. Aus dem Haus herauskommen werde ich wohl nicht mehr, dafür sind sie zu dicht hinter mir – wirklich schade eigentlich, ich scheine in einer äußerst schönen Welt gelandet zu sein, auch wenn es noch nicht die richtige ist. Also bleibt mir nur noch die Flucht in die nächste, hier in einem Gefängnis zu verrotten gehört nicht zu meinem Plan. Ziellos sprinte ich durch die langen Flure des luxuriösen Gebäudes, vorbei an rot-goldenen Wandteppichen und massiven Kerzenständern, immer auf der Suche nach einem Raum, der mir zur Flucht verhelfen könnte. Es ist ein Glücksspiel – finde ich das richtige Zimmer, dann geht meine Reise weiter; ende ich in einer Sackgasse, dann habe ich ein ernsthaftes Problem. Hinter einer Kurve öffnet sich vor mir ein weitläufiger Raum. An der Decke blitzt ein gewaltiger Kronleuchter, der warmes Licht auf die ausladenden Sofas wirft, die mit riesigen, weichen Kissen übersät sind. Auf einem runden Tisch in der Mitte des Raumes ist ein beeindruckendes Bankett angerichtet. Dampfendes Fleisch und saftiges Obst stapeln sich auf silbrigen Platten, hohe Gläser sind gefüllt mit prickelnden Getränken. Den Bruchteil einer Sekunde halte ich inne und überlege ernsthaft, es mit einer der Platten zu versuchen, besinne mich dann jedoch eines Besseren und greife im Vorbeilaufen nur nach einem tiefroten Apfel. Da sehe ich die geschwungene Doppeltür an der Wand gegenüber und treffe meine Entscheidung. Während die Wachen hinter mir in den großen Saal stolpern, bin ich bereits über den Tisch gesprungen und reiße die Holztür auf. Wasserdampf und ein fruchtiger Geruch werfen sich mir entgegen und es fühlt sich an, als sei ich in eine warme, nasse, wohlduftende Wand gelaufen – ein Badezimmer, mein Glück!
Ein erschrockener Schrei zwingt meine Augen dazu, sich im Dampf des Badewassers zu orientieren. Nicht weit von mir erhebt sich eine formschöne Porzellanwanne freistehend in der Mitte des Raumes. Darin ragt der unbekleidete Oberkörper eines jungen Mannes aus dem Wasser, ein irritierter Gesichtsausdruck ziert seine feinen Züge. Stapelweise Handtücher, zweifellos weich wie Samt, ein Tisch voller Fläschchen und Seifen, sowie ein mannshoher Spiegel an der gegenüberliegenden Wand machen die Ästhetik des Raumes perfekt. Während ich – bereits deutlich entspannter – meinen Weg an der Wanne vorbei antrete und einen Bissen von dem Apfel nehme, deute ich eine gespielte Verbeugung an.
„Wer sind Sie und wie kommen Sie in mein Bad?“ Kommt die offensichtliche Frage aus dem Mund des jungen Mannes, seine Stimme bahnt sich ihren Weg an mein Ohr und wird dort angenehm und sanft aufgenommen. Es tut mir fast ein wenig Leid, ihn schon direkt wieder verlassen zu müssen und vor meinem inneren Auge ziehen kurz all die Männer und Frauen vorbei, mit denen ich in vergangenen Welten bereits das Vergnügen hatte.
„Schreckliches Missverständnis“, erwidere ich und hebe entschuldigend die Arme, als hinter mir die Wachen zur Tür hineinplatzen. Zwinkernd überreiche ich dem Badenden den halb gegessenen Apfel und verbeuge mich noch einmal, dieses Mal in Richtung der Wachen.
„Meine Herren, es war mir eine außerordentliche Freude von Ihnen gejagt zu werden!“ Mit diesen Worten trete ich drei Schritte zurück und lasse mich rückwärts in den großen Wandspiegel fallen.
„Eure Majestät, hat er…“, die besorgte Frage eines der Wachposten und diverse verdutzte Ausrufe verlieren sich, als ich die Welt, in der ich gerade erst angekommen war, verlasse. Es war ohnehin nicht die richtige.
Ich finde mich in völliger Finsternis wieder und habe keinen Boden unter den Füßen. Oben und Unten verschwimmen und ich muss mich einige Minuten lang stark konzentrieren, bis das auftretende Schwindelgefühl und die darauf folgende Übelkeit sich wieder gelegt haben. Beinah kommt es mir so vor, als sei mein Körper in den tiefsten Tiefen des Ozeans gefangen, genau dort, wo das Licht der Oberfläche sich nicht mehr hinwagt. Wenn ich meine Arme und Beine bewege, fühle ich leichten Widerstand in der Luft um mich herum – denn es muss Luft sein, schließlich atme ich normal weiter. Meine Augen versuchen vergeblich, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch sie ist vollkommen. Ich fluche zweimal. Einmal innerlich, dann laut. In all meinen Jahren, die ich jetzt schon zwischen den Welten auf der Suche bin, bin ich noch nie in einer komplett dunklen Umgebung angekommen. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Wie soll ich hier wieder rauskommen? Ich kann unmöglich in dieser Dunkelheit einen Spiegel finden. Ein Seufzer entfährt mir. Seit ich vor unzähligen Jahren mein Spiegelbild verloren habe, bin ich auf einer scheinbar endlosen Suche durch die Welten hinter den Spiegeln. Ich altere und schlafe nicht mehr. Was mir anfangs noch wie ein wundervoller Traum vorkam, in denen ich die wundervollsten Universen bereiste, unfassbare Wesen beschaute und Abenteuer erlebte, wurde bald schon von der Realität eingeholt. In einer früheren Welt, die mir perfekt vorkam, meiner ursprünglichen nicht unähnlich, hatte ich mich niedergelassen und eine Familie gegründet. Ich hatte mich mit meinem Schicksal abgefunden und beschlossen, nicht länger vergeblich von einem Spiegel zum nächsten zu irren. Zwei wunderschöne Kinder wurden mir damals von meiner Frau geschenkt, doch meine Mitmenschen wurden nach und nach misstrauisch, weil ich über die Jahre keine Anzeichen von Alterung zeigte. Als schließlich trotz all meiner Vorsicht entdeckt wurde, dass ich kein Spiegelbild besaß, wandelte sich das Misstrauen in Angst und ich sah mich im Angesicht dieser Gefahr gezwungen, meine Familie zurückzulassen und in die nächste Welt zu wechseln. Obwohl mir bewusst gewesen war, dass mein abhanden gekommenes Spiegelbild sich nicht in dieser Dimension befunden hatte, so hatte es mir doch mein Herz gebrochen.
Von da an blieb ich nie länger als einige Monate in der gleichen Welt. Sobald ich spürte, dass es nicht die richtige war, verließ ich manche schon beim ersten Spiegel, den ich finden konnte. Schien mir die Umgebung angenehm und war die Welt von Menschen bevölkert – über die Jahre habe ich festgestellt, dass in etwa 80 Prozent der Welten menschliches Leben beinhalten - so verweilte ich ein wenig, lenkte mich mit unbedeutenden Liebhabern und Liebhaberinnen ab, ließ aber niemals wieder jemanden zu nah an mich heran.
Und jetzt bin ich schließlich hier gelandet, in der großen Finsternis, aus der ein Entkommen unmöglich scheint. Als ich meinen Gedankengang beende, fällt mir zum ersten Mal das summende Geräusch auf. Ein für meine Ohren schon beinah unhörbares, tiefes Summen, dessen Ursprung ich unmöglich ausmachen kann. Gebannt halte ich den Atem an, und konzentriere mich auf das Geräusch. Ein wenig lauter nun, gleicht es eher einem Grollen, als einem Summen. Viel zu spät fällt mir auf, dass ich meine Hände sehen kann. Die Dunkelheit weicht zurück, doch vor mir kann ich keine Lichtquelle ausmachen. Eine panische Schwimmbewegung machend, drehe ich meinen Körper einmal um mich selbst und blicke in die andere Richtung. Mir stockt der Atem, als ich das Wesen weit vor mir im Raum schweben sehe. Das Licht geht unmissverständlich von dem blass leuchtenden, massiven Körper aus, dessen Ende ich nicht mehr ausmachen kann. In keiner meiner bisher bereisten Welten, habe ich etwas von solch riesigen Ausmaßen erblickt. Der fleischlose Körper des Wesens scheint nur aus Wirbeln zu bestehen, die sich gleich einer unendlich langen Schlange aneinandergereiht durch die Finsternis winden. Dabei geben sie keinerlei Geräusche von sich, nur das dunkle Grollen begleitet das Wesen. Der haushohe Kopf, der mir zugeneigt ist, scheint ebenfalls nur aus Knochen zu bestehen. Nach vorne hin länglich zulaufend, blitzen dünne Zähne durch die Finsternis, allesamt mehr als doppelt so lang wie mein eigener Körper. Meine Schockstarre löst sich erst, als sich das Wirbelwesen langsam auf mich zubewegt. Verzweifelt rudere ich mit meinen Armen, doch der geringe Widerstand der Luft um mich herum macht es so gut wie unmöglich, schnell genug vor dem gigantischen Jäger davonzukommen. Langsam in Fahrt kommend, scheint mein nahender Untergang immer schneller auf mich zuzufliegen. Ein Ausweg scheint hier unmöglich, Rettung ist keine in Sicht. Und dann, als ich die Hoffnung schon aufgegeben habe, blicke ich in die tiefschwarz glänzenden Augen, die vorne in den weißen Schädel der Bestie eingelassen sind und mir kommt eine letzte verzweifelte Idee. Wieder beginne ich mit Armen und Beinen zu strampeln, aber dieses Mal nicht, um mich von dem Wesen zu entfernen, sondern nur um Höhe zu gewinnen. Ich habe einen Versuch und nicht mal bei dem habe ich die Gewissheit, dass mein Plan funktionieren wird.
Nur noch wenige hundert Meter Trennen mich von meinem sicheren Tod, als die weißen Zahnreihen auseinandergleiten und das dröhnende Summen betäubend laut meinen gesamten Körper in Vibrationen versetzt. Meine Gliedmaßen werden taub und mein Kopf droht zu zerbersten, als ich von den Schallwellen erfasst werde. Mit zusammengebissenen Zähnen bewege ich mich nun deutlich langsamer und unter unermesslichen Schmerzen weiter nach oben, bis ich Arme und Beine nicht länger bewegen kann. Ich kann nur noch hoffen, dass es reicht und ich nicht am knöchernen Schädel der Kreatur zerschelle. Denn wie von mir vermutet, ist dessen Körper zu massiv, dass es sich meiner veränderten Position nicht rechtzeitig anpassen kann. Ich bin zu weit oben, als dass mir die scharfen Zähne etwas anhaben könnten – dafür bin ich nun in der Bahn des oberen Schädelbereiches.
Die Zeit scheint unendlich langsam zu vergehen, als unter mir die lange Schnauze der Bestie durch die Dunkelheit gleitet. Nur ein paar Körperlängen vor mir starrt mich das Untier aus pechschwarzen Augen an, die sich unermüdlich auf mich zubewegen. Ich schätze den Aufprall auf in fünf Sekunden.
Eins – Ich balle meine gefühllosen Finger zu einer Faust.
Zwei – Ich konzentriere mich auf meine Atmung.
Drei – Ich sehe das feucht-glänzende Auge direkt vor mir aufragen.
Vier – Ich sehe kein Spiegelbild in dessen Oberfläche.
Fünf – Ich treffe mich dem Auge zusammen, durchbreche die spiegelnde Oberfläche und verschwinde im Nexus zwischen den Welten.
Keuchend finde ich im Schein zweier untergehender Sonnen wieder zu mir. Ich liege auf dem Rücken in einem Meer von hohem, weichen Gras und spüre, wie langsam das Gefühl in meinen Körper zurückkehrt. Mein übermäßig rasendes Herz scheint noch nicht realisiert zu haben, dass wir es wieder einmal geschafft haben zu entkommen und macht noch keine Anzeichen, sich zu beruhigen, doch das ist mir recht. Es wird sowieso noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich wieder soweit erholt habe, dass ich aufstehen und mich auf die Suche nach Zivilisation machen könnte.
Eine Brise frischen Windes streicht über die Graslandschaft hinweg und trägt ein Gefühl mich sich, bei dem sich meine Augen weiten. Aus der Ferne dringt das Versprechen von Vollkommenheit und von Heilung, von Normalität und von Wiederkehr an meinen gepeinigten Körper. Dieses Gefühl, dem ich durch tausende von Welten hinterhergejagt bin, ohne je zu wissen, wie es eigentlich sein würde. Ein gequältes Lachen bahnt sich seinen Weg aus meinem Mund und hallt durch die Abendluft. Dies ist die Welt, nach all den Jahren soll meine Suche endlich vorbei sein. Hier werde ich mein Spiegelbild, die zweite Hälfte meiner Seele, mich selbst wiederfinden.
Schnelle Schritte nähern sich mir durch das Gras zu meiner Rechten, doch ich kann meinen Kopf nicht drehen. Somit bin ich hilflos und in Ungewissheit ausgeliefert, bis die Köpfe zweier junger Mädchen in meinem Sichtfeld erscheinen. Sie tragen Blumenkränze in ihren Haaren, in denen wiederum winzig kleine Vögel umherturnen, jeder von ihnen kaum größer als einer meiner Fingernägel.
„Geht es Ihnen gut, Mister?“ Fragt mich die jüngere von beiden, während die Ältere erschrocken die Hände vor dem Mund zusammenschlägt.
„Er sieht aus wie…“, murmelt sie, bringt den Satz jedoch nicht zu Ende. Ich lächle sanft – ihrem Gesichtsausdruck nach wird es nicht einfach werden, mich wieder mit meinem Spiegelbild zu vereinen.
Also setze ich angestrengt und mit noch brüchiger Stimme zu meiner längst einstudierten Erklärung an.
„Wisst ihr, es verhält sich so…“
Die Luft is blau, das Tal ist grün.
© Ludwig Heinrich Christoph Hölty
Das Erste, dass ich sehe, wenn ich meine Augen öffne,
ist der graue Putz meiner Zimmerdecke, der mich täglich
mit der selben Trostlosigkeit anzulächeln scheint.
Einen Moment lang überlege ich liegen zu bleiben,
die Augen zu schließen, als hätte ich eine Wahl. Ist es
nicht schön, eine Familie zu haben, die einen daran
erinnert, dass man diese nicht hat?
Seufzend stand ich auf, mir den letzen Rest Schlaf
aus dem Gesicht reibend, bevor ich los ging, meinem
„Freund“ etwas zu essen zu machen. Nicht, weil ich
das gerne tat, sondern weil ich mich noch zu gut daran
erinnern konnte, was das letzte Mal passiert war, als
ich es gewagt hatte dies nicht zu tun. Eine normale Frau
hätte ihn schon längst verlassen. Eine normale Frau
hätte sich wohl aber auch erst gar nicht auf so jemand
wie ihn eingelassen.
Das erste, dass ich fühle, wenn ich meine Augen öffne,
ist der kalte Schlamm unter meiner Haut, der mich
täglich daran erinnert, welchen Weg ich zu gehen habe.
Einen Moment lang überlege ich liegen zu bleiben,
die Augen zu schließen, als könnte ich dem Tag
entkommen. Ist es nicht schön, Pokémon zu haben,
die einen daran erinnern, dass man dies niemals kann?
Seufzend stand ich auf, mir den Staub von den
Klamotten schüttelnd, um meine Taubsi zu füttern.
Nicht, weil ich das gerne tat, sondern weil ich mich
noch zu gut daran erinnern konnte, was das letzte
Mal passiert war, als ich es gewagt hatte sie zu
einem anderen Zeitpunkt zu füttern. Ein normales
Mädchen würde sich wohl nicht so viele Gedanken
darum machen. Aber ein normales 11 jähriges
Mädchen sollte wohl auch nicht alleine in der
Weltgeschichte herum irren. Aber gab es denn
wirklich eine Alternative dazu?
Nun, wenn man bedachte was die Alternative dazu war?
Manchmal fragte ich mich, ob ich mich falsch entschieden
hatte. Vor allem wenn er wieder betrunken nach Hause kam,
sein Atem bereits aus der Weite nach Alkohol stank, sein
Körper vor Anspannung zitterte und seine leeren und
faden Augen mich grinsend ansahen. Genau in diesen
Momenten, wenn ich mich weinend vor ihm im Bad
versteckte, wünschte ich, mich anders entschieden zu haben.
Wenn ich ganz ehrlich war, wusste ich, dass zwischen
ihm und meinem Vater kein großer Unterschied bestand.
Aber zumindest musste ich hier nicht mit ansehen,
wie meine Mutter die Schläge abbekam, die eigentlich
für mich bestimmt waren, so wenn sie es wagte
sich meinem Vater in den Weg zu stellen.
Tja und solange ich keine Kinder bekam, konnte
und würde niemand außer mir unter Frank leiden.
Hatte ich wirklich eine Wahl? Wer hatte mich den
gefragt, ob ich Pokemon wollte? Wen hatte
es interessiert, ob ich nicht viel lieber zu Hause
geblieben wäre, eine Kindheit gehabt hätte?
Meine Familie anscheinend nicht. Ich war
Julie Ketchum aus Alabastia und meine Interessen
und Wünsche spielten keine Rolle. Denn solange
ich den Namen Ketchum trug, war es meine
Bestimmung in die Fußstapfen meines Vaters
zu treten und seinen Traum zu träumen, sein
Leben zu leben und seiner Führung zu folgen.
Zumindest konnte ich so verhindern, dass er
seine Wut über mein Versagen an meiner
Mutter ausließ, die die einzige schien, die
wusste, wie es war im Schatten der Sonne
zu wandeln.
Vielleicht sollte ich einfach keine Kinder
bekommen und ihnen die Bürde der Ketchum
abnehmen. Denn dazu konnte er mich nicht
zwingen. Es war immer noch mein Körper
und meine Entscheidung.
Schon ironisch, wenn man bedachte, dass es mal
eine Zeit gegeben hatte, in der ich ihn geliebt hatte.
„Hey Babe, ist mein Essen schon fertig“, murrte
es aus dem Schlafzimmer, während ich in Richtung
Küche Schritt.
„Noch nicht“, antwortete ich kaum hörbar, hoffend,
dass er heute gut gelaunt war.
Da ich keine Antwort bekam, wertete ich das fürs
erste als ein gutes Zeichen. Aber bei ihm wusste man ja nie …
„Graaaa Graaa“, kreischte es hinter mir, während
sich immer mehr meiner Taubsi aus ihren Pokébällen
befreiten.
„Gleich bin ich fertig“, murmelte ich, eher zu
mir als zu ihnen. Ich war nicht sicher, ob sie
mich verstanden hatten, doch fürs erste
schienen sie Ruhe zu geben …
Erst als Frank sein Frühstück gegessen hatte um sich
dann mit seinen Kumpels zu treffen atmete ich aus und
entspannte mich. Es gab nichts, außer der Hausarbeit,
die ich erledigen musste, bevor Frank am Abend wieder
heim kam. Ich hatte keinen Job, keine Ausbildung, da
Frank meinte 'Frauen brauchen sowas nicht' und keine
Perspektive. Ich war 21 und wusste nicht, was ich mit
dem Rest meines Lebens anzufangen hatte. Theoretisch
konnte ich immer fliehen, aber praktisch sah das ganze
schon anders aus. Wer stand mir den bei, wenn ich
beschloss fort zu laufen? Wer empfing mich, wenn ich
einfach reis aus nahm? Wer interessierte sich, ob ich
es schaffte oder nicht? Theoretisch konnten immer alle
Reden, große Reden schwingen, doch praktisch, war
keiner mehr da um seinen Worten Taten folgen zu lassen.
Letzen Endes stand man immer alleine da, weil die
Menschen nur auf sich und ihr Leben fixiert waren.
Wer interessierte sich schon dafür, ob die kleine Julie
es machte oder nicht? Würde sich in ein paar Jahren
überhaupt noch jemand an meine Existenz erinnern?
Nicht, dass es da überhaupt etwas gäbe, dass
erinnernswert gewesen wäre.
Erst als alle meine Taubsi gefüttert waren und mein
Vorrat an Obst sich wieder einer bedrohlich geringen
Menge näherte konnte ich mich wieder entspannen
– fürs erste. Es gab nicht viel, dass ich tun konnte,
bis meine Pokémon wieder der Hunger plagte.
Arenenkämpfe gewann ich sowieso nie und eine
andere Art Geld zu verdienen gab es nicht. Ich
würde am liebsten in die Pokemon-Trainer Schule
gehen, die sich nur ein paar Tagesreisen weit weg
von hier befand, doch was hätten wir bis dahin
essen sollen? Ich weiß nicht, wie mein Vater seine
Reisen überstanden hat, doch schon nach wenigen
Wochen war der Proviant, den ich eingepackt hatte
verbraucht, meine Wäsche dreckig und mein Geld
alle. Ich war 11 Jahre alt und wusste nicht, was ich
mit dem Rest meines Lebens an zu fangen hatte.
Ich hatte keine Perspektiven und keine Zukunft.
Es gab niemand, den ich nach Rat hätte fragen
können und niemand, der ihn mir hätte geben
wollen. Wenn kümmerte es schon ob die kleine
Julie es schaffte oder nicht? Dann gab es eben
einen Pokémontrainer weniger auf der Welt. Niemand
würde um mich weinen, niemand meinen Verlust
bedauern. Vielleicht meine Mutter, doch bis sie
erfuhr, dass ich in den tiefen der Wälder von
Team Rocket ermordet oder verhungert war,
konnten Jahre vergehen. Und der Rest? Der sah
nur die Tochter des großen Ash Ketchum: einen
Niemand. Ein Nichts. Einen Namen ohne Leben,
ohne Geschichte.
Traurig blickte ich aus dem Fenster, während ich
Gedankenverloren die trockene Pfanne abtrocknete.
Manchmal da fragte ich mich, wie es wäre, wenn
ich nicht ich sein müsste, wie es wäre, wenn ich
jemand anders sein könnte. Wenn ich ein anderes
Leben hätte. Ob ich dann glücklich wäre?
Alles war besser als das, also musste ich glücklich
sein, nicht war?
Traurig blickte ich in den Himmel, während in
die Blätter einer Blume abzupfte.
Manchmal da fragte ich mich, wie es wäre,
wenn ich nicht ich sein müsste, wie es wäre,
wenn ich jemand anders sein könnte. Wenn
ich ein anderes Leben hätte. Ob ich dann
glücklich wäre?
Alles war besser als das, also musste ich
glücklich sein, nicht war?
Die Luft ist blau, das Tal ist grün.
Doch das Leben, dass ist grau.
Sanft wurde sie von den einfallenden Sonnenstrahlen geweckt, welche das Innere ihrer Augen lachsrot färbten. Sie liebte diesen Moment des Tages am meisten. Er war noch so frisch, so jung, es konnte noch alles mit ihm passieren. Ob sie Berge erklimmen, im tiefsten Meer schwimmen wollte - es könnte alles passieren. Wenn sie es wünschte. Und das tat sie. Doch trotzdem geschah keines dieser Dinge jemals.
Das Mädchen schlug ihre Augen auf. Sie hatten die Farbe von Moos. Ihre langen Wimpern warfen Schatten auf ihre Wangenknochen. Als sich ihre Sicht geschärft hatte, blickte sie hinauf zu den Sternen. Sie konnte die unterschiedlichsten Sterne ausmachen - große, kleine, helle, dunkle, runde, gezackte. Als sie kleiner war, hatte sie selbst rosafarbene Sterne erschaffen. Doch dann war ihr die Farbe ausgegangen, und als sie älter wurde, fand sie rosafarbene Sterne zu realitätsfern. Deshalb hatte sie sie übermalt. So begrüßten sie jeden Morgen aufs Neue ihre selbstgemalten Sterne auf der Zimmerdecke. Wenigstens waren sie hier immer da. Draußen hingen so oft Wolken vor den Himmelslichtern, dass das Mädchen nicht selten ihre Existenz angezweifelt hatte.
Sie stand auf und streckte sich. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln dehnten. Dann machte sie sich Frühstück. Sie schnitt sich einen Apfel in mundgerechte Stücke und summte ein Lied vor sich hin. So verlief jeder Morgen. Seit sie sich erinnern konnte.
Dann ging sie zum Fenster. Fensterläden verhinderten die freie Sicht auf die Welt außerhalb, nur ein kleiner Schlitz erlaubte der Sonne, in das Zimmer zu scheinen. Sie atmete tief durch. Dies war nun immer der schwerste Moment des Tages. Und von Tag zu Tag fiel ihr dieser Schritt schwerer. Sie legte ihre Hände vorsichtig auf die hölzerne Vertäfelung der Fensterläden und versuchte einen Moment lang, die Struktur des Holzes aufzunehmen. Es ist ja nicht so, als kenne sie dieses Holz und alles, was sich im Zimmer befand, in- und auswendig. Doch so war nun einmal ihre Welt.
Sie schob das Holz bei Seite und Licht flutete den Raum. Kurz blendete die Sonne das Mädchen, so dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Als sie sich dann an das grelle Licht gewöhnt hatte, schaute sie hinaus. Ihr Herz zog sich zusammen.
Vor ihr lag eine saftgrüne Wiese mit den schönsten Blumen auf ihr. Bäume säumten sich zu beiden Seiten der Lichtung, die Blätter rauschten beruhigend im Wind und fanden vereinzelt ihren Weg auf den Boden. Vögel zwitscherten ihre eigenen Lieder und flatterten in der Luft. Das Mädchen beobachtete die Tiere. Nichts wünschte sie sich sehnlicher. Einfach wegzufliegen, das schien alles zu sein, was es zum Glück brauchte. Einfach hinaus, in die große, weite Welt, die von ihrem Raum aus so grenzenlos und weit schien. Als Kind hatte sie ihre Kammer geliebt. Sie hatte gedachte, es gäbe nichts, was ihr fehlen würde, war der Raum doch so groß und bot ebenso beinahe grenzenlose Möglichkeiten. Doch je älter sie wurde, desto mehr verstand sie, dass dies alles eine Illusion gewesen war. Dies hier war ein Gefängnis. Draußen lag die grenzenlose Freiheit.
Jenseits der Lichtung lag ein dichter Wald. Sie konnte von oben auf die Baumkronen blicken. Diese wirkten wie eine undurchdringbare Decke aus Grün. Weit dahinter, wenn das Mädchen die Augen zusammenkniff, konnte sie die verschwommenen Umrisse eines Dorfes ausmachen. Ein Dorf, in dem Menschen lebten. Menschen wie sie. Oder bildete sie sich den Umriss doch nur ein? Sie wusste es nicht.
Es war ein so schöner Tag und doch konnte er das Mädchen nicht froh stimmen. Was brachte ihr der schönste Sommertag, wenn sie ihn in ihrer Kammer verbringen musste? Ihre Mutter wollte nur ihr Bestes. Das wusste sie. Sie schob sich eine ihrer blonden Stränen hinter ihr Ohr. Doch mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher, ob diese Weise zu leben, wirklich das Beste war.
Einst, als sie es nicht mehr ausgehalten hatte, war sie im Turm auf und ab gegangen und hatte die Schritte gezählt, die sie gehen konnte, ohne an eine der Wände zu stoßen. Es waren hundertfünf Schritte gewesen. Damals hatte sie gedachte, das sei in Ordnung. Es hatte schließlich lange genug gedauert, über hundert Schritte zu gehen. Das sei gar nicht so wenig Platz, wie sie immer angenommen hatte. Doch auch das schien ihr jetzt lächerlich. Die Menschen im Dorf konnten sicherlich so viele Schritte gehen, wie sie wollten. Ohne immer wieder aufpassen zu müssen, gegen ihr Hab und Gut zu laufen.
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie verschloss sie vor der weiten Welt, die vor ihr lag. Sie würde sie ohnehin nie betreten können, sondern immer nur von diesem Fenster aus beobachten können.
Oder?
Sie öffnete ihre Augen. Man könnte meinen, das Grün in ihnen wäre eine Spur heller geworden. Was hielt sie davon ab, genau jetzt auszubrechen? Was stoppte sie, endlich ihrem Gefängnis zu entkommen? Sie sah sich um, blickte in das runde Turmzimmer. Es war im Grund doch gar nicht so schlimm. Sie besaß alles, was sie brauchte. Und doch nicht mehr. Sie schaute hinüber zu ihrer kleinen Esszeile. Dort lag noch immer ein Stück des geschnittenen Apfels. Ihr Blick schweifte zu den Wänden. Sie waren bunt und doch, man konnte sie als schön bezeichnen. Ebenso wie die Sterne hatte das Mädchen alles, was sie von der Welt draußen gesehen oder sich erdacht hatte, auf ihre Wände gemalt, um sich wenigstens ein bisschen frei zu fühlen. Traute sie sich wirklich, diese Freiheit nun zu suchen und den Bildern die Realität folgen zu lassen?
Sie blickte wieder hinaus auf die Lichtung, die all das versprach, was das Mädchen all die Jahre vermisst hatte. Eine schier unendliche Sehnsucht machte sich in ihrer Brust breit, und sie wusste, dass sie nicht eine Minute länger in diesem Turm leben konnte. Sie schloss die Augen. Sie blickte nicht zurück. Dann band sie ihr Haar an einen krummen, eisernen Haken über dem Fenster, zog kurz daran um zu prüfen, ob es halten würde, und ließ sich fallen.
Der Fall dauerte ewig und war doch kurz. Sie ließ alles zurück. Ihr Gefängnis. Ihre Angst. Dann zog es kurz an ihrem Haar. Wie praktisch, dass es über all die Jahre mehrere Meter lang geworden war. Sie schwebte nun einige Meter über dem Boden. Sie wagte nicht zu atmen. Dann löste sie mit einem geschickten Schwung den Knoten aus ihren Haaren und berührte mit ihren Zehen den Boden. Erneut schossen Tränen in ihre Augen. Doch diesmal vor Glück.
Das Gras kitzelte sie zwischen den Zehen. All die Jahre hatte sie immer nur harten Holzboden unter ihren Füßen gespürt. Das hier überwältigte sie. Sie atmete ein. Es roch nach frischem Gras, nach Früchten, nach Freiheit. Endlich berührte die Sonne sie gänzlich, umarmte sie, und das Mädchen umarmte freudig zurück. Der Wind wehte ihr durch das Haar. Die Luft war so klar, dass sich die Lungen des Mädchen beinahe fordernd mit ihr füllten. Das erste Mal, seit sie sich entsinnen konnte, fühlte sie pures Glück. So wollte ihr das Lächeln auch nicht mehr aus dem Gesicht weichen.
Sie ging ein paar Schritte. Sie war etwas wacklig auf den Beinen, weil es sich anfühlte, als würde sie das Laufen neu lernen. Sie begann zu zählen. Nach einer Weile war sie bei hundertfünf angekommen. Sie blickte auf. Sie hatte nicht einmal die Hälfte der Lichtung erreicht. Sie lächelte noch breiter. Nun konnte sie den hundertsechsten Schritt machen. Besser noch - sie konnte noch so viele Schritte gehen wie sie wollte. Und jeder Schritte würde ein neuer sein.
Ihr langes Haar lag ruhig hinter ihr. Sie war bereit. Bereit, endlich die Weiten, die so grenzenlos waren, zu erkunden. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie all das getan hatte, was ihr seit so vielen Jahren verwehrt geblieben war - sie würde Berge erklimmen. Im Meer tauchen. Denn jetzt hatte sie die Möglichkeiten. Diese Welt bot ihr grenzenlose Möglichkeiten, weil sie größer war als alles, was sie kannte. Wenn es sogar Zeiten gegeben hatte, in denen ihr ihr Turm groß und weit vorgekommen war, wie würde es ihr nun ergehen, wo ihr die Welt offenstand. Rapunzel wusste es nicht. Und doch fürchtete sie sich ob dieser Ungewissheit nicht - sie war nur ein weiteres Abenteuer, das diese weite Welt bereit hielt.
Vorsichtig ziehe ich den Vorhang ein Stück zur Seite. Zwar blendet mich die Sonne zuerst, sodass ich meine Hand als Schutz benutzen muss, aber meine Augen gewöhnen sich schnell an die neue Helligkeit im Vergleich zur Dunkelheit meines Zimmers. Draußen auf der Straße spielen andere Kinder mit einem Ball – sie scheinen Spaß zu haben. Wie gerne würde ich rausgehen und mit ihnen mitspielen. Aber das geht nicht. Leider. Es geht einfach nicht. Wehmütig sehe ich ihnen hinterher, ehe ich den schweren, lichtundurchlässigen Vorhang wieder zurückfallen lasse. Jetzt ist es fast komplett dunkel in meinem Zimmer – bis auf eine kleine, dunkelrot leuchtende Lampe, die mich zumindest Umrisse erkennen lässt.
Mein Zimmer ist immer so. Die Farben, in denen die Wände eigentlich gemalt sind, kenne ich nicht wirklich. Wahrscheinlich ist es ohnehin grau. Auch sonst ist mein Zimmer eigentlich schmucklos. Kein Fernseher, kein Schreibtisch. Auch keine Bücher oder Bilder, die ich ohnehin nicht lesen oder erkennen könnte. Nur einige wenige Bilder, die man auch im Rotlicht gut erkennen kann, hängen zur Abwechslung an den Wänden.
Wie ich dann meine Zeit vertreibe? Immerhin hört sich das ja sehr eintönig an. Und das ist es auch. Ich denke viel nach – über die Welt draußen. Wo ich gerne hinwollen würde. Ich weiß selber, dass das wohl nie der Fall sein wird – aber zumindest meine Gedanken sind frei und nicht in dieses dunkle Zimmer gesperrt. Ich würde gerne einmal tauchen gehen. Oder auf der Spitze eines Berges stehen. Es gäbe so unglaublich viele Sachen, die ich gerne machen würde, aber doch nie machen werde. Denn die grenzenlosen Welten und Landschaften der Welt hinter dem Vorhang bleiben für mich unerreichbar. Egal ob Berge, Flüsse, Meere oder die Sehenswürdigkeiten dieser Welt.
Denn würde ich nach draußen gehen, würde meine Haut absterben.
Somit muss ich hierbleiben, in der Welt meiner Gedanken. Meiner Gedanken, und der unendlichen Welt der Musik.
Tokyo Ghoul - Im Anime/Manga Tokyo Ghoul geht es um sogenannte Ghule - menschenähnliche Wesen, die sich von Menschenfleisch ernähren, da sie außer diesem (und Kaffee) nichts verdauen können. Ghule werden deswegen natürlich nicht toleriert und unter anderem auch gejagt.
Ich blickte in den klaren Nachthimmel, an dem sich kein einziger Stern erkennen ließ. Der Anblick erinnerte mich an früher, als ich ein mal mit meiner Familie zu meinen Großeltern aufs Land gefahren war. Dort hatten unzählige Sterne am Himmel gefunkelt, ich war als Stadtkind ganz überwältigt von dem Anblick gewesen. Als ich meine Mutter gefragt hatte, warum es bei uns keine Sterne gäbe, hatte sie erwidert, dass die Lichter der Großstadt sie vertrieben haben.
So abwegig war der Gedanke gar nicht, wenn ich so darüber nachdachte. Viele Menschen zogen einfach weg, wenn es ihnen irgendwo nicht gefiel.
Ich seufzte und konnte im Licht der Straßenlaterne die Wölkchen erkennen, die sich wegen meines warmen Atems bildeten. Es war kalt geworden in den letzten Tagen, doch richtig geschneit hatte es noch nicht. Mein Bruder hatte den Schnee immer geliebt. Wenn es geschneit hatte, hatte er die ganze Zeit über fasziniert am Fenster gehangen und nach draußen gestarrt.
Wehmütig schob ich diese Erinnerung beiseite und löste meine Füße vom Boden. Ich konnte nicht ewig hier verharren und in den Himmel starren.
Meine Füße trugen mich fort von der Seitenstraße in die belebte Hauptstraße, wo ich mich in den Menschenstrom eingliederte. Ich hatte kein wirkliches Ziel. Es gab niemanden mehr, der daheim auf mich wartete. Höchstens Kälte und unangenehme Erinnerungen, die mich immer wieder einholten, wenn ich alleine war. Solange ich unter Menschen – selbst wenn es nur Fremde waren – war, konnte ich sie verdrängen und mich auf andere Sachen konzentrieren.
In Gedanken versunken lief ich durch die Straßen und die Zeit verging, ohne dass ich es wirklich bemerkte. Nach einiger Zeit hatte ich mich in einer dunklen Nebenstraße verlaufen. Ich blieb stehen und strich mir die blonden Haare aus dem Gesicht.
Obwohl gerade mal die Straßenlampen spärlich Licht spendeten hatte ich keine Angst. Ich hatte nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, anders als mein Bruder Tama. Er hatte nur mit Nachtlicht schlafen können. Im Allgemeinen war er immer sehr ängstlich gewesen, egal ob Spinnen, Clowns oder Gewitter, das alles war sein schlimmster Albtraum gewesen. Ich hatte immer nur einen einzigen Albtraum gehabt; die zu verlieren, die mir viel bedeuteten. Und genau dieser war wahr geworden – nun schon zum zweiten Mal.
„Na Aneko, auch noch unterwegs?“ Ich brauchte mich nicht nach der Quelle der Stimme umzudrehen, denn ich erkannte sie auch unter hunderten wieder.
„Was willst du Katsu?“, fragte ich in Luft ohne ihn dabei anzusehen, da ich ihn nicht finden würde, wenn er es nicht wollte.
„Warum so unfreundlich?“, fragte er gespielt entrüstet und trat aus den Schatten direkt vor mir in das Licht der Lampe. Als ich ihm keine Antwort auf seine Frage gab, fuhr er fort: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch mal treffe.“
„Warum das?“, erkundigte ich mich. Ich kannte Katsu nicht besonders gut, obwohl ich schon seit einigen Jahren kannte. Seinen Namen und den Charakter, den er mir zeigte, war das Einzige, was ich über ihn wusste und ich war mir nicht mal sicher, ob die beiden Sachen überhaupt wahr waren.
„Na, deine Familie hat dich doch verlassen, deswegen dachte ich, dass du Tokio vielleicht verlässt.“
Er zuckte mit den Schultern und trat von einen Fuß auf den anderen.
„Sie waren nicht mal meine richtige Familie“, erwiderte ich und versuchte kühl zu klingen, konnte jedoch das leichte Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken, „und ich habe keinen Grund Tokio zu verlassen bloß weil sie gegangen sind.“ Obwohl weder meine Eltern noch Tama blutsverwandt mit mir gewesen waren, hatte ich sie geliebt, doch als sie erfahren hatten, was ich wirklich war, hatten sie mich einfach sitzen lassen. Alleine in der großen Welt, in der mich auch schon meine echten Eltern zurückgelassen hatten, als sie gestorben waren.
„Na ja“, meinte Katsu gleichgültig, „mir ist es im Endeffekt eh egal, aber du scheinst dich ja nicht besonders wohl hier zu fühlen, bist ja nicht mal Japanerin. Ich an deiner Stelle wäre schon abgehauen, hätte ich keine Familie hier.“ Seine feuerrot gefärbten Haare hüpften bei jedem Schritt mit.
„Es gibt Leute, die freiwillig mit dir zusammen leben?“, fragte ich ihn gespielt ungläubig und zog eine Augenbraue hoch.
„Na ja, als 'freiwillig' würde ich es nicht unbedingt bezeichnen“, lachte er, „ich an deiner Stelle würde mir aber wirklich überlegen woanders hin zu gehen. Fang noch mal von vorne an. Die Welt ist praktisch grenzenlos!“
Er schenkte mir ein Grinsen, ehe er sich umdrehte und wieder ging.
„Wohin willst du?“, fragte ich ihn bevor er wieder in den Schatten verschwand.
„Ich bin hungrig, also besorge ich mir etwas zu essen.“ Mit diesen Worten verschwand die Gestalt wieder in der Dunkelheit und ließ mich alleine zurück.
Katsu war schon ein komischer Kerl, er änderte seine Gemütslagen innerhalb von Sekunden und wirkte gleichzeitig undurchschaubar und nah, warm und kühl. Würde er mir jemals als Gegner gegenüberstehen wüsste ich nicht, ob ich mich gegen ihn wehren könnte.
Während ich weiter durch die Nacht spazierte ließ ich mir seine Worte durch den Kopf gehen. Aus Tokio verschwinden und wieder von Neu anfangen klang verlockend, doch es wäre schon mein zweiter Neuanfang. Ich wollte nicht immer weiter müssen sondern auch mal stehen bleiben und verschnaufen, irgendwo wirklich leben, doch das war für ein Wesen wie mich so oder so nicht gerade einfach. Ich konnte nicht einfach irgendwohin ziehen, am besten waren größere Städte mit vielen Menschen, in denen es aber auch nicht zu viele Ghule gab. Es war schwierig einen gut ausbalancierten Ort zum Leben zu finden.
Und doch hatte er Recht; die Welt war fast grenzenlos. Es gab so viel Platz, so viele Länder, so viele Städte, in denen man leben konnte.
Ich blieb stehen und sah in den Nachthimmel. Auch er war unendlich so wie die Welt, auch wenn ihm hier ein wichtiger Bestandteil fehlte. Seine Sterne waren einfach weiter gezogen und hatten sich eine neue Heimat gesucht.
Ich lächelte mild in den Himmel. Ja, ich würde ihnen folgen und auch mir ein neues Heim suchen. Ein Heim in einer grenzenlosen Welt mit einem grenzenlosen Himmel.
Deutsch: frei (aus dem Hawaiischen)
Die Sonne schimmerte durch die Wasseroberfläche und ihr Licht tanzte durch das Spiel der Wellen. Taniwha war glücklich. Um ihn herum war nichts außer dem weiten Ozean. Unendliches Blau, so weit man sehen konnte. Und er konnte weit sehen. Ein Flossenschlag und er hätte ein ganzes Meer durchqueren können. Der Weg von Alola nach Kalos und zurück konnte er innerhalb einer Minute zurücklegen. Aber das wollte er gar nicht. Er genoss die Freiheit, irgendwo in der Mitte zwischen den Regionen; nichts als unendlich scheinender Ozean.
„Mach schneller!“, schimpfte Bridget Scott mit einem ihrer Matrosen. Von allen im Team wurde die Kommandantin der roten Lore nur bei ihrem Nachnamen genannt, eine gängige Vorgehensweise und Scott nur recht; sie war noch nie zufrieden gewesen mit ihrem Vornamen. „Selbst meine Großmutter hätte das Segel schon dreimal eingeholt!“
Der angesprochene Matrose in seiner rot-weißen Uniform schien noch etwas kleiner zu werden, als er ohnehin schon war. Scott beobachtete ihn mit Verachtung. Nirgendwo bekam man noch gutes Personal. Auch wenn sie keine Hoffnung in sich aufkeimen ließ – Hoffnung war etwas für die Schwachen, die nicht siegen würden – so gab es doch noch ein oder zwei Leute mit Potenzial auf diesem Schiff.
„Blood!“ rief sie über das Deck, als der nichtsnutzige Matrose es endlich schaffte, das Segel einzuholen. Kurz darauf erschien ein Mädchen von etwa fünfzehn Jahren, die schwarzen Haare zu einem straffen Zopf gebunden, neben ihr am Bug des Schiffes. Auch seine Kleidung war rot, doch hatte selbst dieses junge Ding bereits einen höheren Rang als der Matrose, der offenbar immer noch mit den Seilen zu kämpfen hatte, denn die Uniform wies kaum noch weiß auf. „Was siehst du?“
Die dunklen Augen des Mädchens streiften nur eine Sekunde über das sich vor ihnen ausbreitende Meer, ehe sie „Wasser, Ma’am!“ antwortete.
Ein kurzes Lächeln stahl sich auf Scotts Gesicht, ehe sie ihm wieder seinen autoritären Ausdruck aufzwang. Kein anderer der ihr unterstellten hätte so einfach auf diese Frage geantwortet. Ja, Blood hatte wirklich Potenzial. „Genau“, bestätigte Scott, „nichts als Wasser. Unendliche Weiten, pure Freiheit, sodass man sich am liebsten übergeben würde – der perfekte Ort also, um Taniwhas Tempel zu suchen.“
„Und mit ihm die Freiheit der Pokémonwelt zu zerstören, denn Menschen wissen nicht, was richtig für sie ist. Nur das Blut kennt den Weg“, vollendete Blood den Plan.
„Sehr richtig, Mädchen“, bestätigte Scott und ein Anflug von Stolz auf die Ausbildung der Kleinen keimte in ihr auf. Sie war bereit. Also fuhr die Kommandantin fort: „Und nun mach dich fertig. Ich will, dass du den Suchtrupp anführst.“
Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas störte das Gleichgewicht, das der Ozean über Jahrtausende aufgebaut hatte, das spürte Taniwha. Nur dessen Quelle konnte er nicht ausmachen. Manchmal hatte die Grenzenlosigkeit seiner Welt auch eine Kehrseite. Alles vermischte sich. Eine Welle konnte ihren Ursprung überall auf der gesamten Meeresoberfläche haben. Doch er war nicht der einzige, der die Veränderung spürte. Um ihn herum flackerten die Lichter der Lampi und Lanturn unruhig, Octillery zogen sich in tiefe Felsspalten zurück und ganze Horden an Wailmer schienen einen sichereren Platz zu suchen. Die Freiheit schien an ihre Grenzen zu stoßen und das durfte Taniwha als ihr Hüter nicht zulassen!
Die unendliche Weite, die sich unter ihnen ausbreitete, konnte LeBelle fast vergessen lassen, dass er sich auf einer Mission befand. Zu gerne hätte er einfach nur die Aussicht genossen, die er aus dem Einsatzhubschrauber hatte. Doch er durfte sich davon nicht ablenken lassen. Denn wenn seine Quellen stimmten, dann würde es bald keine solche Freiheit mehr geben.
„Fliegen Sie langsamer“, wies LeBelle den Piloten an, „hier irgendwo müssten sie sein …“
Wieder schweifte sein Blick über das ewig-blaue Meer. Kaum ein Mensch kannte noch Taniwha, das Pokémon der Freiheit und seinen verschollenen Tempel. LeBelle hatte mit vielen Ureinwohnern Alolas sprechen müssen, ehe ihm schließlich eine alte Frau hatte helfen können. In ihrer Familie wurde die Legende um Taniwha über Generationen weitergegeben. Von den anderen Menschen war das Meeresungeheuer, das laut ihrer Aussage am ehesten Ähnlichkeiten mit einem Tohaido haben, nur größer sein und eine kräftige Schwanzflosse besitzen sollte, längst vergessen. Selbst die Professoren wussten nichts mehr von seiner Existenz. Sie alle nahmen ihre Freiheit als selbstverständlich an. Leider musste ausgerechnet Team Kokoino herausfinden, dass dem nicht so ist. Taniwha erhielt seine Macht aus seinem Tempel, welcher schon seit Jahrhunderten verschollen ist. Doch sollte er zerstört werden, so ist die Freiheit verloren. Und genau das musste LeBelle verhindern.
Angestrengt suchte er nach irgendeiner Auffälligkeit auf der Wasseroberfläche. Seinen Informanten zufolge war Team Kokoino mit einem Schiff und nicht mit einem U-Boot unterwegs und unter der Vorraussetzung, dass sie dieselben Informationen hatten wie er, musste er die Mitglieder des Teams bald finden.
„Könnten Sie noch etwas tiefer gehen?“, bat er den Piloten des Helikopters.
Langsam sank die Maschine abwärts. Manchmal konnte man sich nur wünschen, ihren Platz einzunehmen und selbst so schwerelos durch die Luft zu gleiten … Energisch schüttelte LeBelle den Kopf. Er musste endlich lernen, seine Gedanken beieinander zu halten. Inzwischen waren sie so nah über dem Ozean, dass der Polizist meinte, jede einzelne Welle erkennen zu können. Erneut wanderte sein Blick über das Blau, bis er am Horizont endlich eine Unebenheit ausmachte; ein roter Fleck inmitten des Wassers.
„Fliegen Sie dorthin!“, befahl er dem Piloten. „Gleich haben wir sie …“
Unbehaben breitete sich in Taniwha aus. Beinahe hatte er vergessen, wie sich so etwas anfühlte. Zu sehr hatte er die Freiheit genossen, welche ungehindert fließen konnte, seit die Menschen seine Existenz vergessen hatten. Er brauchte keine Opfergaben, um seine Kraft zu halten, sondern nur den Lauf der Dinge, dem die Menschen viel eher seinen Raum ließen, wenn sie nicht wussten, dass sie ihn womöglich beeinflussen konnten. Nicht immer handelten die Menschen so, aber jeder von ihnen war frei. Und selbst im Zeitalter dem Pokébälle, folgte auch jedes Pokémon seiner eigenen Freiheit. So war der Lauf der Dinge. Niemand musste seinen Tempel aufsuchen, um Freiheit zu erhalten. Zu gerne hatte Taniwha beobachtet, wie man ihn vergaß, denn damit versuchte auch niemand mehr sein Heiligtum zerstören und – Wie ein Blitz durchfuhr das Wesen die Erkenntnis. Sein Tempel war ihn Gefahr. Und er würde ihn beschützen. Nur ein Flossenschlag und vor ihm lag der alte, steinerne Heiau.
Das Blau schloss sich um Blood, als sie untertauchte. In ihrer Ausbildung und in Vorbereitung auf diese Mission hatte sie bereits das Tauchen gelernt und doch wurde sie jedes Mal von der Schwerelosigkeit überrascht, mit der das Wasser sie empfing. Die ganze schwere Tauchausrüstung wog plötzlich keine zwei Gramm mehr und in alle Richtungen waren ihr keine Grenzen gesetzt. Sie genoss dieses Gefühl. Das mochte seltsam wirken, war sie doch auf der Mission, die Freiheit zu zerstören, doch sie war stets mit den Informationen gefüttert worden, dass nur die hochrangigen Mitglieder von Team Kokoino wussten was gut war für die Menschen. Und sie vertraute ihnen; sie waren ihre Familie, ihr Blut.
Als spürten die Pokémon, dass der Tauchtrupp von vier Mann nichts Gutes im Schilde führte, versteckten sie sich allesamt und der gesamte Ozean wirkte wie ausgestorben. Aber auch das wunderte Blood nicht im Geringsten; woher sollte sie auch wissen, welch eine Artenvielfalt sich in den Meeren verbarg, war sie doch bisher nur an Land ihren Pflichten nachgegangen. Da das Mädchen jedoch schnell lernte und sich nicht scheute, Befehle zu befolgen, stieg es schnell auf und wurde für diese wichtige, alles entscheidende Mission ausgewählt.
Blood konnte nicht sagen, wie lange sie schon tauchte und nach dem verschollenen Tempel suchte, als sie hinter einem Korallenriff eine Säule aufragen sah. Aufgeregt gab sie dem Taucher, der ihr am nächsten war, ein Signal und schwamm mit schnellen Zügen über das Riff hinweg.
Was auch immer sie erwartet hatte, zu finden, es war nichts gegen die Schönheit, die sie auf der anderen Seite erblickte. Abgesackt im Laufe der Jahrhunderte stand dort ein Tempel aus massivem Stein. Sein spitzes Dach wirkte fast wie gedeckt und überall waren die verschiedensten Zeichen zu sehen, die dem Gebäude etwas Mystisches verliehen. Die Säule, die Blood zuvor erblickt hatte, gehörte zu einem halb zusammengebrochenen, riesigen Torbogen, welches einmal den Eingang zu der heiligen Stätte gebildet haben musste. Alles strahlte eine besondere Macht aus, deren Existenz man nicht beschreiben, aber genauso wenig leugnen konnte. Dort musste sich das Heiligtum befinden, dass sie zerstören mussten. Blood selbst wusste nicht, wie es aussah, allerdings meinte sie, ein Schimmern im Inneren des Tempels zu erkennen. Das musste es sein. Allerdings war sie nicht befugt, in den Tempel hinein zu schwimmen.
Gerade wollte sie wieder an die Oberfläche tauchen, um Kommandantin Scott Bescheid zu geben, da wurde sie von einer plötzlichen Strömung getroffen, die sie weg von dem Tempel drückte. Mit aller Kraft versuchte sie, die Kontrolle über ihre Bewegungen wiederzuerlangen, bis es ihr schließlich gelang, an die Oberfläche aufzusteigen. Dort angekommen nahm sie den Atemregler aus dem Mund, um einmal tief durchzuatmen.
Nach der roten Lore suchend blickte sie sich um, doch es dauerte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Zu sehr hatte sich alles in ihrem Kopf noch gedreht, dass sie das Dröhnen der Rotorblätter nicht gehört hatte. Jetzt allerdings entdeckte Blood den Helikopter, der über der Wasseroberfläche kreiste. Und dann bemerkte sie noch etwas anderes. Ein rotes Schiff, das auf sie zu kam. Nur wenige Meter neben ihr sauste es durchs Wasser. An der Reling stand Scott und blickte zu ihrer Teamkollegin hinab.
„Die Cops sind da“, rief die Kommandantin hinunter, nachdem sie Blood im Wasser entdeckt hatte, „jetzt bist du auf dich allein gestellt!“ Das Schiff wurde noch schneller, bewegte sich unaufhaltsam fort über die endlos scheinende Wasseroberfläche. „Viel Glück, Mädchen“, setzte Scott noch hinzu, doch erwartete sie nicht, dass die Kleine sie noch gehört hatte; zu weit waren sie schon entfernt.
Ungläubig starrte Blood der roten Lore hinterher. Das waren doch ihre Leute, ihre Familie, ihr Blut und kaum drohte Gefahr, ließen sie sie einfach zurück? Das Dröhnen des Hubschraubers wurde lauter und wieder leiser, als er in Bloods Blickfeld erschien, während das Schiff bereits am Horizont verschwand. Sie hatten die besten Techniker. Die rote Lore war die schnellste ihrer Art.
„Die kriegen wir nicht mehr!“, rief auch LeBelle im Helikopter dem Piloten zu. „Aber fliegen Sie zurück! Ich hab da wen im Wasser gesehen.“
Bloods Gehirn realisierte kaum, dass der Hubschrauber wendete und wieder in ihre Richtung kam. Zu sehr kreisten ihre Gedanken um den Verrat, den ihr Team ihr angetan hatte. Einige Meter über ihr blieb der Helikopter in der Luft stehen. „Ariados, Klebenetz!“, rief eine männliche Stimme, doch auch als die klebrigen Fäden den Körper des Mädchens umschlossen, konnte es sich noch immer nicht auf seine Situation konzentrieren. Was würde es jetzt tun? Alles, was es jemals gekannt hatte, hatte es gerade verloren. Festgenommen zu werden war seine geringste Sorge.
Tränen sammelten sich in Bloods Augen, als sie und die anderen des Tauchtrupps an Ariados Fäden in den Helikopter gezogen wurden. Nichts würde jemals mehr so wie früher sein.
Ein grau-blauer Kopf mit spitz zulaufender Schnauze tauchte an der Wasseroberfläche auf, als Taniwha beobachtete, wie ein dunkler Hubschrauber Richtung Horizont verschwand. Fürs Erste war die Freiheit der Pokémonwelt gerettet, doch er kannte die Menschen. Sie hatten sein Heiau einmal gefunden und würden es wieder tun. Sie waren wie Hundemon, die Blut geleckt hatten. Die Ruhe war dahin. Denn sie würden wiederkommen. Taniwha wusste, er musste nun seinen Tempel besser beschützen, wenn er auch weiterhin die Unendlichkeit seines Ozeans genießen wollte. Er musste kämpfen. Für die Freiheit allen Lebens.
„Musst du wirklich schon los?“, fragte mich Pola, als ich die Kapuzenjacke anzog und mich zum Gehen bereit machte. Ich drehte mich noch einmal um und lächelte dabei.
„Ja, muss ich. Und sorry, dass ich nicht länger bleiben konnte, aber ich möchte gern noch mehr sehen als diese Stadt.“
Pola tippte ihre beiden Zeigefinger aneinander und sah mich schüchtern verstohlen an.
„Also … ich, äh, ich würde dich gern begleiten. Wenn es dir recht ist, versteht sich, also …“
„Tut mir leid, das geht nicht“, antwortete ich ihr schnell und erntete dafür einen traurigen Blick. „Bleib solange hier, bis sich alles beruhigt hat. Dann solltest du auch vor Feinden sicher sein.“
Sie zögerte erneut, verstand aber schließlich und sah mich entschlossen an.
„Gut, wie du meinst, Tay. Dann wünsche ich dir alles Gute auf deinem weiteren Weg. Vielleicht … sehen wir uns ja mal wieder.“
„Ja, vielleicht. Bis dann.“ Pola winkte mir langsam hinterher, als ich aus ihrem Haus austrat und die Tür schloss. Sofort begrüßten mich der Lärm der in der Nähe liegenden Straße sowie einige Menschen, die allerdings lieber ihren eigenen Interessen nachgingen. Ich steuerte jedoch nicht auf die Hauptstraße zu, sondern auf eine weiter entfernt liegende Seitengasse zu, die ihr Ende schließlich bei einer Steinmauer fand. Dabei sah ich mich mehrere Male um, ob mich auch niemand beobachtete. Als ich sicher war, zog ich aus der Jackentasche mit der rechten Hand einen Kugelschreiber hervor und schwang ihn wie ein Schwert.
Was für den Außenstehenden albern aussehen könnte, war aber mein persönliches Ritual, um von hier wegzukommen. In einem großzügigen Abstand hatte sich mithilfe meines Utensils ein Riss in der Luft gebildet. Nichts deutete darauf hin, dass er hier existierte. Kein Windhauch, keine mystische Aura. Nur ein gezackter Riss, der dahinter merkwürdig wabernde Dunkelheit versteckte.
Ich sah noch einmal zurück auf die großen Häuserreihen. Grau in Grau, wie ich gerade erneut feststellte. Selbst in Polas Zuhause herrschte die triste Farbe und ich war mir unsicher, ob das das Werk meines Ziels war, das ich verfolgte.
Jedenfalls hielt mich nichts mehr hier und ich marschierte geradewegs auf die Dunkelheit vor mir zu. Mit einem Hechtsprung gelangte ich durch den Riss, der sich nun wieder schloss, in eine verdrehte Welt, die Ihresgleichen suchte. Ich schwebte einige Male um mich selbst, bis ich meine Orientierung gewonnen hatte und schließlich verschiedenfarbige Lichter wahrnahm. In der Ferne führten mehrere Wege wie Flussarme in gefühlt jede Richtung, während der Hauptfluss, der sogenannte Stream, in einem satten Blau erstrahlte und den Weg für allerlei fremde Wesen bereitete, die ich nicht zuordnen konnte. Ich beschloss in diesen einzutauchen, steuerte auf ihn zu und bemerkte, wie einige Blitze knapp an mir vorbeischossen. Völlig normal, wie ich mittlerweile wusste und tatsächlich waren sie auch ungefährlich. Ohne größere Probleme gelang es mir, den Stream zu betreten und ich atmete erleichtert auf.
Es faszinierte mich jedes Mal wieder, diese surreale Umgebung zu sehen. Sie machte auch mit viel Fantasie wenig Sinn, da man sie sich nicht so vorstellen würde. Überall wechselten sich Farben ab und führten zu immer neuen und unbekannten Orten, die man wohl nie alle erforschen könnte. Ich konnte mir vorstellen, dass man damit mehrere Nächte zubringen und doch nicht alle Wege erforschen könnte, die sich einem boten. So blieb einem nichts anderes übrig, als sich den interessantesten zu stellen und sie zu erkunden. Oder man ließ sich einfach leiten, denn niemand wusste, wo einen die eigene Neugierde hin führte.
Darüber hinaus bot die Umgebung aber noch so viel mehr. Der Stream und seine Nebenflüsse, wie ich sie nannte, funktionierten allesamt mit Elektrizität und verbanden sich zu einem riesigen Netzwerk von Welten. Es gab wohl nichts, was für sich allein stand, denn alles ging Hand in Hand. Zu allen Seiten breiteten sich verschiedene Bilder aus: Meere, Strände, Wälder, Dschungel und Wüsten wechselten sich mit jeder Sekunde magisch ab und boten eine nie da gewesene Vielfalt an Eindrücken. Trist und farbenfroh wollten zu jeder Zeit die Oberhand gewinnen und schafften am Ende doch eine unvorstellbare Koexistenz, wie sie nur hier möglich war.
Jemand schnellte knapp an mir vorbei. Ich konnte keinen Blick auf ihn erhaschen, wusste aber, dass es sich wohl um einen Eilboten handeln musste. Derer gab es viele, obwohl sie normalerweise bevorzugt einen eigenen Weg nahmen, um ihr Ziel zu erreichen, damit sie den Hauptbetrieb nicht zu stören. Dieser hatte sich wohl einfach verirrt.
Ich spürte eine Vibration an meinem Handgelenk. Instinktiv neigte ich den Kopf, um auf die Armbanduhr zu sehen, die soeben rot blinkte. Hier musste etwas sein!
Bei der nächsten Abzweigung lenkte ich ein und nahm den Weg in Richtung einer fernen Schneelandschaft. Offenbar war die Verbindung zu dieser Welt wohl nicht stark oder schnell genug, um sie eher erreichen zu können, aber das sollte nur mein geringstes Problem darstellen.
Nach einigen Sekunden, in denen ich dem Pfad vor mir folgte, baute sich plötzlich eine riesige undurchdringliche Wand vor mir auf. Ich stoppte abrupt, wusste ich doch, dass diese gefährlich werden konnte. Überall vor mir breitete sich ein merkwürdiges blaues Feuer aus, das sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien, um keinen Eindringling durchzulassen. Also jemanden wie mich.
Ich sah mich im geschäftigen Treiben des Nebenflusses um. Niemand schien sich daran zu stören und durchquerte die flammende Barriere, als wäre sie gar nicht vorhanden. Mehrere Momente ließ ich den Gedanken durch meinen Kopf wandern, ob mein Ziel hier vorbeigekommen sein könnte, verwarf ihn aber schnell wieder und kehrte um. Hier würde ich nur meine Zeit verschwenden.
Wieder im Stream grübelte ich über meinen Auftrag und die Motivation desjenigen, den ich verfolgte. Bisher zeigten sich seine Aktivitäten in unregelmäßigen Abständen und auch nicht immer in denselben Welten. Ja, es waren sogar völlig verschiedene. Eben war ich noch in einer recht normalen Stadt, der jedoch auch die Farben fehlten und die generell trotz der Population verlassen wirkte. Davor hingegen war es eine hochtechnische Umgebung, die regelrecht dazu einlud, neue Programme für die dortigen Computer auszuprobieren. Als ich dort war, spielte die Technik verrückt und Chaos breitete sich aus. Wie mir dann später mitgeteilt wurde, handelte es sich bei diesem Wirrwarr um eine Schandtat meines Ziels: Einem Mann, der sich selbst nur „One-Man“ nannte. Ziemlich einfallslos, wie ich fand, aber das sollte mich nicht weiter stören.
Nach einiger Zeit spürte ich erneut die Vibration an meinem Handgelenk. Grün dieses Mal. Ich steuerte also auf den nächsten Ausgang zu, der diese Farbe inne hatte und hoffte, nicht erneut in eine Sackgasse zu geraten. Jede Sekunde war wertvoll, um One-Man zu finden. Je eher es geschah, desto schneller konnte wieder Ruhe in dieses Netzwerk einkehren.
Und tatsächlich hatte ich Glück. Der Weg war frei und ich konnte ungehindert in die dahinterliegende Welt eintreten. Ich spürte eine Art Sog, der mich regelrecht schnappte und mich mit immer größer werdender Geschwindigkeit in diese Richtung befördern wollte. Kein Widerstand stellte sich mir in den Weg. Kein Wind, wegen dem ich die Augen zusammenkneifen musste. Kein flaues Gefühl im Magen. Nichts. Nur das Erlebnis und die Erwartung, sogleich wieder etwas Neues zu sehen.
Mit einem Ruck spürte ich den Wechsel in die neue Welt und kam sogleich mit beiden Beinen auf dem Boden auf, der stark an Gras erinnerte. Trotz der bisher geringen Anstrengung keuchte ich, da die Luft nicht sonderlich rein schien. Mit einem Rundumblick wurde mir auch bewusst, dass dem nicht so sein konnte da sich in regelmäßigen Abständen eine schwarze Masse über die Wiese erstreckte. Einige Teile der Umgebung wirkten sogar wie weggebrochen, während sich in diesen neu gebildeten Hohlräumen endlose Zahlenreihen aneinander fügten.
Schockiert starrte ich abwechselnd die Zahlen und die schwarze Masse an. One-Man musste hier bereits sehr starken Einfluss ausgeübt haben, damit die Umgebung so zugerichtet werden konnte.
„Du hast nach mir gerufen?“, meldete sich plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir. Ich schnellte mit einer Rolle vorwärts davon und drehte mich um, nur damit ich einem hageren Mann mit blasser Haut ins Gesicht blickte.
„Direkt nach dir gerufen nicht. Was willst du?“, blaffte ich ihn an und behielt eine Hand in der Jacke bei meinem Kugelschreiber. Mein Gegenüber lachte nur herzhaft, als ob er keine Sorgen mehr hätte.
„Da fragst du noch? Du siehst ja, was ich möchte.“ Er setzte eine dramatische Pause und ballte die linke Faust zusammen. „Einfach etwas Chaos anrichten!“
„Und daran hast du Spaß?“
„Natürlich“, meinte One-Man schließlich wieder trocken. „So viel Schaden verursacht das schon nicht, wie du glaubst. Der Gott, an den ich glaube, wird mit meiner Arbeit jedenfalls sehr zufrieden sein. Und uns kannst du nicht aufhalten, Wurm.“ Das letzte Wort spuckte er förmlich aus. „Dein Gott wird an uns verzweifeln, ganz egal, was noch kommen wird!“
Dank meines Übereifers konnte ich mich nicht mehr im Griff halten, legte die Finger um den Kugelschreiber und zog ihn raus. Mit einem gezielten Schwung teilte ich One-Man in zwei Teile, der sich daraufhin auflöste und außer der Verwüstung keine Spur zurück ließ, dass er je existiert hätte. Abermals keuchte ich und sah auf meine Armbanduhr, wo in großen Lettern „Gelöscht“ stand.
Mit schwacher Kraft schwang ich mein Utensil und kreierte einen neuen Riss. Meine Arbeit war erledigt und hier hatte ich nichts mehr verloren. Bevor ich wieder in die endlosen Weiten des Streams eintauchte, dachte ich über One-Mans Worte nach. Wen meinte er wohl mit seinem Gott? Oder gar mit meinem? Sollte der Aufbau und der Schutz etwa allein in den Händen anderer liegen? Warum nur hatte ich mich verleiten lassen, ihn sofort zu entfernen, als er dieses Thema ansprach; hätte er mir noch mehr sagen können?
Ich wusste nicht, ob ich darauf je eine Antwort bekommen würde und beließ es einfach dabei. Mit der Erkenntnis, wohl nicht mehr für die weiteren Vorkommnisse geschaffen zu sein, betrat ich den Stream und verlor mich in meinen Gedanken.
„Irgendetwas Neues?“, fragte Tara, als sie das Cockpit betrat, dessen Tür sich mit einem leisen Summen öffnete und wieder schloss.
„Nein“, erwiderte Sari. Sie streckte sich, gähnte und lehnte sich anschließend fläzend im Pilotenstuhl zurück. Ihre offenen braunen Haare fielen über die Sitzlehne.
„Alle Systeme funktionieren einwandfrei, Kurs wird vermutlich immer noch gehalten, die Sensoren sammeln immer noch keine Daten – was also heißt, dass hier tatsächlich nichts zu sein scheint – und so weiter und so fort.“
Das Cockpit war recht klein und verfügte nur über zwei Sitze. Zahlreiche Konsolen und Anzeigen dienten der Überwachung und Kontrolle aller Vorgänge im Schiff. Die Decke, der Boden und die Wände, in die große Sichtfenster eingelassen waren glänzten in einem silbrig-metallischen Farbton.
Tara seufzte und starrte aus den Sichtfenstern. Sie umgab praktisch nur undurchdringliche Schwärze, die schwer aufs Gemüt drückte. Gelegentlich sah man jedoch kleine, kurz aufflammende Stellen, in denen eine andere Art von Schwärze herrschte. Es war seltsam zu beschreiben, doch diese Stellen waren einfach ein bisschen weniger dunkel als der Rest des Raumes, wenn man denn noch von Raum sprechen konnte. Zusätzlich waren diese Stellen mit kleinen Lichtpunkten gesprenkelt, bei denen es sich um Sterne handeln musste.
„Ich kann es irgendwie immer noch nicht fassen“, sagte Tara und rieb sich die Augen. „Es hieß vor wenigen Jahren noch, dass das alles unmöglich sei.“
Sari zuckte mit den Achseln.
„Ich denk darüber gar nicht mehr nach. Ich meine, ich sehe es ja hier. Beziehungsweise sehe ich nichts, aber darum geht es ja, oder? Hauptsache, der Kram hier funktioniert, da muss ich nicht bis ins Detail kapieren, wie genau er das tut, solange ich ihn nur im Notfall auch reparieren kann.“
Tara nickte stumm.
„Habe ich dir je erzählt, dass ich früher an Nihilophobie gelitten habe?“, fragte sie.
Saris Augen weiteten sich vor Überraschung.
„Nein, hast du nie“, antwortete sie prompt.
„Nun, es war aber so. Weißt du, mir hat der Gedanke Angst gemacht, dass ich einfach irgendwie im Nichts treiben könnte, ohne Hilfe, ohne Irgendjemanden. Einmal, als ich Skifahren war, ist plötzlich heftiger Nebel aufgezogen und ich sah nichts mehr. Das war ziemlich unheimlich.“
„Glaub ich gerne. Nur, wie bist du dann zur Raumfahrt gekommen? Scheint mir nicht so recht das passende Umfeld zu sein.“
„Nein, tatsächlich nicht.“
Tara lächelte, als sie fortfuhr.
„Neugierde“, sagte sie schlicht. „Ich hatte Angst vor dem Nichts, aber irgendwann habe ich angefangen, mich zu fragen, ob da denn wirklich nichts ist. Und wenn wir ehrlich sind: Doch, da ist immer irgendetwas. Also wollte ich gerne wissen, was genau das ist.“
„Interessant. Aber jetzt…“
„Ja, in der Tat. Hier ist wirklich ‚nichts‘, wenn man von den Durchgängen mal absieht.“
„Aber du gerätst nicht in Panik?“
„Mir ist nur etwas mulmig, das ist alles.“
Es trat eine kurze Stille ein.
„Warum hast du dich eigentlich dafür entschieden?“, wollte Tara wissen.
Sari verzog nachdenklich das Gesicht.
„War wohl ähnlich wie bei dir, würde ich sagen. War neugierig. Und außerdem…“
Sie wurde ein wenig rot und verstummte.
„Was?“, bohrte Tara nach.
„Naja, das wird so albern klingen…“
„Na los, raus damit!“
Sari sah zur Seite, biss sich auf die Lippe und sagte schließlich: „Also gut. Weißt du, es liegt an diesen ganzen Mythen, die ich früher gelesen habe. Das waren diese faszinierenden Dinge über die Pokémon im Weltall und über Raum und Zeit… Ich habe mich da einfach oft gefragt, ob nicht irgendwo im Weltall ganz viele unbekannte Pokémon leben. Ganz zu schweigen natürlich von allem Anderen, was man da so sieht. Aber ich glaube, insgeheim habe ich einfach immer davon geträumt, diese Pokémon mit der göttlichen Kraft zu sehen. Die kennst du ja sicher auch, Dialga und Palkia?“
„Natürlich, jedenfalls vom Namen her. Aber die sind doch auch wirklich nur das, oder? Ein Mythos, eine Geschichte, eine Legende, nicht wahr?“
„So sieht es zumindest aus. Es existieren keine Beweise dafür, dass sie existieren. Tatsächlich ist es eigentlich auch unmöglich, dass sie in ihrem ursprünglichen Sinne existieren.“
„Wieso?“
„Das habe ich bei einem Vortrag gehört. Zeit und Raum sind unbegrenzte Kategorien, verstehst du? Ich meine, wir definieren natürlich bestimmte Zeitabschnitte oder Räume, aber Raum und Zeit als Absolutbegriffe sind einfach grenzenlos. Und da ist es doch unmöglich, dass sie in zwei physischen und begrenzten Körpern existieren.“
„Klingt einleuchtend. Aber das muss doch nicht heißen, dass sie nicht existieren.“
„Wie meinst du das?“
Tara überlegte kurz, weil sie nicht sicher war, wie sie es ausdrücken sollte.
„Es ist schwer zu erklären, aber vielleicht bedeutet das einfach nur, dass sie nicht wirklich Raum und Zeit selbst sind, sondern nur irgendwie mit ihnen in Verbindung stehen. Also existieren sie nicht in der Art, wie sie überliefert wurde, aber vielleicht in einer etwas schwächeren Interpretation.“
„Das könnte sein“, überlegte Sari. Anschließend grinste sie.
„Vielleicht begegnen wir ihnen ja hier draußen“, meinte sie. „Ich meine, nirgendwo im echten Universum wurden sie gefunden, aber warum sollten sie nicht jenseits dessen Grenzen zu finden sein?“
„Um ehrlich zu sein, würde mich das sehr beunruhigen“, sagte Tara. „Also wenn uns hier überhaupt irgendetwas begegnen würde. Dieses Schiff ist ja gebaut, um ziemlich viel auszuhalten und in der reinen Leere zu existieren, aber dann auf ein lebendiges und mächtiges Wesen zu treffen… Ich meine, uns trennen nur eine dünne Wand und ein Energiefeld von der totalen Auflösung. Andererseits…“
„… ist der Gedanke sowieso absurd“, beendete Sari den Satz. „Denn in der Leere kann ja eigentlich gar nichts existieren. Es sei denn natürlich, es ist ein spezielles Raumschiff mit Universalschilden.“
In der Ferne erschien eine weitere der helleren Stellen, um kurz danach wieder zu verschwinden.
„Schon merkwürdig, dass das Auftreten dieser Durchgänge inzwischen vorhergesagt werden kann, ohne dass man erklären konnte, was genau überhaupt der Grund dafür ist“, sagte Sari.
„Manche Dinge bleiben vielleicht unerklärlich“, erwiderte Tara.
Plötzlich ertönte ein lautes Sirren, verbunden mit einem hellen roten Leuchten eines Signallichts.
„Annäherungsalarm?“, fragte Tara überrascht.
„Scheint so“, sagte Sari und tippte hastig auf Schaltern, Tasten und Knöpfen herum, „aber alle Durchgänge in das reale Universum sind zu weit weg, als dass irgendetwas daraus der Grund dafür sein könnte, was bedeutet…“
Sie sprach nicht zu Ende.
„Es ist etwas, dass hier existiert“, flüsterte Tara. „Hier draußen in der Leere…“
Durch die Sichtfenster konnten sie nun ein Objekt erkennen, einen kleinen Punkt in der Ferne, der sich jedoch rasch zu nähern schien, denn er wurde immer größer und nahm deutlichere Umrisse an.
„Etwas über vier Meter groß“, meldete Sari aufgeregt nach einem Blick auf die Sensorinstrumente. „Und… Unglaublich!“
„Was?“, fragte Tara.
„Mir wird von diesem Objekt aus ein Universum angezeigt. Also, zumindest halb, könnte man sagen.“
„Wie meinst du das?“
„Frag mich nicht warum, aber was auch immer da auf uns zukommt, ist von einem Universum ohne Zeit umgeben. Es hat nur eine räumliche Ausdehnung, existiert aber außerhalb jeglicher Zeitlinie.“
„Das ist allerdings merkwürdig.“
Nun war das Objekt deutlich zu erkennen und beiden Pilotinnen stockte kurz der Atem.
„Das ist ein Pokémon“, hauchte Sari.
„Oder etwas völlig Anderes“, flüsterte Tara.
Das seltsame Wesen erinnerte entfernt an ein Drachen-Pokémon mit leicht humanoiden Zügen, so hatte es zum Beispiel zwei Arme und zwei Beine, doch gleichzeitig auch einen langen Schweif und zwei flügelartige Strukturen, die aus seinem Rücken wuchsen. Seine Haut schimmerte perlmuttfarben und schien zugleich von einer violett leuchtenden Aura umgeben zu sein.
Je näher es kam, desto bedrohlicher wirkte es, auch wenn es deutlich kleiner war als das Raumschiff. Abrupt kam es vor dem Sichtfenster zu stehen und verharrte, scheinbar abwartend.
„Okay“, versuchte Tara ruhig zu bleiben. „Was jetzt?“
„Keine Ahnung“, sagte Sari mit zitternder Stimme. „Aber weißt du, ich glaube, es bildet dieses kleine Universum um sich selbst als eine Art Schutz vor der Leere. Also exakt wie wir mit unseren Universalschilden, nur dass wir auch eine eigene Zeit haben.“
„Wenn es das kann, dann muss es ein ziemlich mächtiges Pokémon sein.“
„Ohne jeden Zweifel.“
„Könnte das etwa… eines der legendären Pokémon sein?“
„Ich weiß nicht“, sagte Sari bedauernd. „Ich habe zwar Bilder gesehen, aber die sahen alle ganz verschieden aus. Vieles aus früheren Zeiten ist auch gar nicht mehr erhalten, daher kann ich schlecht sagen, ob es tatsächlich eines der Wesen ist, über die ich gelesen habe.“
Tara ging ein wenig näher an das Sichtfenster.
„Wartet es auf irgendetwas?“, fragte sie. „Es schwebt einfach da und…“
Sie zuckte zurück.
„Ich glaube, es hat mich angesehen“, sagte sie keuchend. „Also ganz direkt, als würde es … in mich hinein starren…“
„Vielleicht ist es intelligent. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, mit ihm irgendwie zu kommunizieren oder so…“
„Da hätte ich eine Idee“, sagte Tara, nahm an einer Konsole Platz und tippte darauf herum.
Sogleich fingen die Außenlichter des Schiffs an, in einem scheinbar willkürlichen Muster zu blinken.
„Was machst du?“, fragte Sari.
„Primzahlen“, sagte Tara. „Einigen Theorien zufolge ist Mathematik eines der Dinge, die Aliens verstehen könnten, wenn sie uns besuchen würden. Also habe ich das Licht erst zweimal, dann dreimal, dann fünfmal und dann siebenmal aufleuchten lassen, jeweils mit einer Pause dazwischen.“
„Clever. Und jetzt?“
„Abwarten und die Reaktion beobachten.“
Es verstrichen einige Sekunden, dann begann die Aura um das Wesen seltsam zu flackern, sie wurde schwächer und wieder stärker, dann wieder schwächer und wieder stärker. Tara und Sari verfolgten gebannt dieses Schauspiel, das eine kurze Zeit anhielt, aber auch schnell wieder endete.
„Wie oft war das?“, fragte Tara.
„Elfmal“, antwortete Sari grinsend.
„Das wäre dann also die nächste Primzahl!“, rief Tara aufgeregt. „Es versteht uns!“
„Zumindest ein bisschen jedenfalls. Die Frage ist nur, ob wir noch mehr machen können. Die Sensoren zeichnen ja alles auf, aber davon abgesehen…“
„Ich glaube, das erledigt sich gerade von selbst. Sieh nur.“
Das Pokémon schien den Kopf ein wenig schief zu legen, dann drehte es sich um und entfernte sich.
„Was denn?“, fragte Sari verständnislos und griff nach der Steuerung. „Da müssen wir hinterher!“
Doch Tara hielt sie zurück.
„Nein!“, rief sie. „Sieh doch!“
In der Leere erschien neben dem Pokémon eine Art großes Loch mit unscharfen und verschwommenen Rändern, wie ein Fenster. Dahinter konnten Tara und Sari wieder einzelne Lichtpunkte erkennen. Das Pokémon machte den Eindruck, als drehte es noch einmal den Kopf zu ihnen herum, dann verschwand es durch das Loch, welches sich unmittelbar darauf wieder verschloss. Tara und Sari waren wieder allein.
„Es ist weg“, sagte Sari mit hörbarer Enttäuschung.
„Ich glaube, es war auch einfach nur neugierig und wollte wissen, wer wir sind“, meinte Tara. „So kam es mir zumindest vor. Vielleicht wollte es auch feststellen, ob wir eine Gefahr sind oder so.“
„Kann sein. Wenigstens haben wir ein paar Informationen sammeln können. Es ist offenbar intelligent und kann möglicherweise auch kommunizieren. Aber am wichtigsten ist wohl, was wir gerade gesehen haben – die Öffnung eines Portals ins Universum.“
„Ja, das würde nämlich vielleicht das Auftreten all dieser Durchgänge erklären. Gut möglich, dass dieses Pokémon oder ein ähnliches das verursacht.“
„Genau“, stimmte Sari zu, um gleich hinzuzufügen: „Die Frage ist nur: Was jetzt? Ich meine, es hat keinen Sinn zu warten, bis es wiederkommt, oder?“
Tara schüttelte den Kopf.
„Ich vermute, das hat es in der Tat nicht. Aber das macht ja nichts, wir haben ja schließlich noch eine ganze Leere, die es zu erforschen gilt, nicht wahr?“
„Allerdings. Nur glaube ich, dass ich mir im Vergleich zu dem, was eben passiert ist, wohl kaum etwas Langweiligeres vorstellen kann, als durch die Leere zu driften.“
„Keine Sorge“, lachte Tara und fügte tröstend hinzu: „In drei Tagen ist ja unsere Mission beendet. Übrigens, hast du zufällig gerade Lust auf ein Kartenspiel?“
„Klar, wieso nicht?“, erwiderte Sari achselzuckend und so fing Tara an, auf einer Konsole ihre Rommé-Karten auszuteilen.
Zwei Tage lang hatte der junge Forscher, auf Rat eines Freundes, in den Ruinen an einer bestimmten Stelle gegraben, um die Wurzeln der Vergangenheit erneut freizulegen. Griffel hielt sich sein halbes Leben in den schier endlosen Ruinenkomplex auf, denn es erschien wie eine Schatzkiste des Vergangenen. Es war ein Tor in eine fremde Welt, die so viel zu erzählen hatte, wenn man ihr nur zuhörte. Jedes Jahr ließen sich neue Artefakte, Schriften und andere Kostbarkeiten entdecken, wobei manche tausende Jahre alt waren, andere hingegen konnten auf das vorherige Jahrhundert datiert werden. Vor ihm das Resultat seiner Arbeit; ein freigelegter Gang. Überall um ihn herum lag das Geröll, welches sich vehement gegen seine Bemühungen auflehnte, aber letztendlich nachgeben musste.
Griffel, mit einer Fackel bewaffnet, tastete sich Schritt für Schritt in die Dunkelheit, welche nur bedingt durch das Feuer aufgedeckt wurde, und zudem voller Fallen sein könnte. Erst kürzlich verliefen sich einige Fremde in den Ruinen und tappten in eine Fallgrube. In letzter Sekunde konnten die Ruinenwächter sie während einer Patrouille jedoch retten.
„Mist“, schimpfte der kleine Affe.
„Gibt es Probleme?“, ertönte eine ruhige Stimme hinter ihm. Griffel wich erschrocken tiefer in die Dunkelheit, dabei schwenkte er die Fackel wie ein Schwert vor sich hin, damit sich die ungewöhnlich vertraute Stimme nicht näherte.
„Bist du verrückt geworden? Du Pinsel hast mich fast zu Tode erschrocken!“, echauffierte sich Griffel und erkannte Farbeagle mithilfe des Lichts.
Er hielt sich ebenso gerne wie Griffel in den Ruinen auf, wobei der Unterschied der beiden in unterschiedliche Bereiche fiel. Farbeagle interessierte sich für die Kultur der damaligen Pokémon, was Griffel eher weniger beschäftigte. Jener liebte die machtvollen Wesen, die man als legendäre Pokémon verehrte. Ihre unbändige Kraft und Vielfalt untereinander faszinierten das Äffchen bereits seit früher Kindheit.
„Du hast dir die Suche umsonst angetan, dies ist wieder nur ein leerer Raum.“ Griffel konnte seine Frustration bei dieser Aussage nicht verbergen.
„Das war keine Suche, du steckst deinen Weg immer mit speziellen Fackeln ab, um dich nicht zu verlaufen.“
„Sehr hilfreich.“
Einige Sekunden vergangen und mit Ernüchterung beendete Griffel seine Suche nach Schaltern an der Wand, die möglicherweise eine verdeckte Passage hätten öffnen können. Sein Griff verstärkte sich ums Mahagoniholz, denn zwei Tage schienen vergebens gewesen zu sein.
„Griffel, darf ich dir einen Tipp geben?“
„Wenn möglich bitte ohne Sarkasmus.“
Farbeagle unternahm einige Schritte in den Raum hinein und deutete auf den Boden. „Hier“, mit seinem Pinselschwanz malte er auf eine Steinfliese und fuhr fort;
„Truhen, die für ein Individuum einen persönlichen Wert hatten, wurden oftmals unter Steinplatten versteckt, denn die anderen Schätze, wie z.B. Gold oder Artefakte, wurden oberhalb des staubigen Bodens verborgen gehalten.“
Ein stilles Staunen überkam den Affen, der sich ebenfalls zur Mitte des Raumes aufmachte, um die Richtigkeit der Aussage zu überprüfen.
„Hilf mir mal“, pustete Griffel, denn die Steinplatte war ziemlich schwer für eine Person. Gemeinsam hievten die beiden Pokémon jene markierte Steinplatte beiseite. Griffel stellte mit Erstaunen fest, dass die Aussage korrekt war, denn eine kleine Truhe lag dort verborgen.
Mit Fingerspitzengefühl, sowie einem breiten Lächeln im Gesicht, holte Griffel den Schatz empor. Der Schatz war mir goldenen Verzierungen überzogen, jedoch nicht mit einem Schloss versehen.
Ein Öffnen der Truhe lieferte die nächste Überraschung, denn sie beinhaltete Texte und einige verschlossene Briefe. Gierig kramte das Äffchen herum und zog sogleich einen Text hervor, während sein Schweif die Fackel in einem angemessenen Abstand zum Papier hielt.
„Ich weiß, dass du die endlose Welt von damals magst, aber die privaten Schriften sind oftmals nicht das, was man sich erhofft, Griffel.“
Er nahm Farbeagles Warnung zur Kenntnis, aber seine Neugier war ungebremst. „Schon in Ordnung“, antwortete er mit ruhiger Stimme.
Die oberen Zeilen, wo normalerweise Autoren, Daten und Ähnliches vermerkt wurden, waren vollkommen unleserlich. Der Zahn der Zeit hatte deutliche Spuren hinterlassen. Allerdings waren einige Passagen dennoch lesbar:
Wo sonst goldenes Laub und wärmende Sonnenstrahlen den Weg säumten, da ist jetzt beißende Verheerung! Überall schwindet der sonst so stolze Wald, sogar die Luft schwindet! Ängstlich, ja voller Furcht sogar. Nicht mehr Ehrfurcht, nein, es ist jetzt pure Verzweiflung in unseren Herzen. Wie konnte es passieren? Tosende Flammen schlagen alles zur Asche. Brutal, rücksichtslos, nein, das ist nicht ganz richtig; Anmut ist ihre markanteste Eigenschaft. Ihre Abstammung, die kann jedes Pokémon deutlich spüren, denn selbst im Angesicht dieses majestätischen Meeres, ja, da findet man Erlösung durch göttliche Hand. Wie konnten wir den Herrscher des brennenden Himmelszeltes verärgern? Bitte, sagt es mir! Ihr müsst es mir sagen, wie ein solch ehrwürdiges und wundervolles Wesen, so eine Verwüstung der Schönheit heraufbeschwören kann, um uns zu bestrafen. Oder zu retten? Wir wissen es nicht, Faba. Wir wissen doch nichts. Wir wissen, wie man Furcht zeigt. Wir wissen, wie Verehren funktioniert. Was wir nicht wissen, ist, wie wir den Feuervogel besänftigen können.
„Die reden doch nicht von-“, stammelte Griffel, aber wurde sogleich von Farbeagle unterbrochen, „Doch.“
Die Aufregung über seinen Fund war sichtlich verschwunden, denn pures Unverständnis sowie Zweifel überkamen ihn. Vielleicht war es nur eine Geschichte? Es könnte doch auch ein Traum gewesen sein, oder nicht? Er wusste, dass die Zeit von damals anders war, aber er war sich sicher, dass die fremde Welt von damals dennoch eine Konstante hatte, nämlich die mächtigen Wesen voller Gerechtigkeit und Liebe für die Welt.
Flink kramte er einen weiteren, verwischten Text hervor, welcher mit der gleichen Schrift verfasst wurde und somit vom gleichen Autor stammen musste.
Dunkelheit. Seit heute verstehe ich endlich, was es wirklich bedeutet, wenn die Dunkelheit alles einnimmt, was sonst lebt. Faba, hast du es gefühlt? Nein, natürlich nicht. Du kennst es nicht, sonst würdest du nicht mit mir darüber sprechen.
Ich bin nicht sauer, ganz im Gegenteil. Jeder soll erfahren, dass es einen Ort gibt, der uns das zeigt, was wir fürchten sollen. Schreiende, zerrende Abgründe unserer eigenen Gedanken, die plötzlich zur Realität vor mir wurden. Sie begangen zu leben! War es eine Strafe von ihm? Sollte ich zur Rechenschaft für meine Fehler gezogen werden, sodass ich die wahre Hoffnungslosigkeit kennenlerne? Ich will es in die Welt tragen, Faba. Ich will allen von dem Ort erzählen, wo der Rebell lebt. Mein Atem lag schwer, meine Wunden schmerzten nicht mehr. Es war endlos und doch fühlte ich mich eingesperrt im Nichts. Wenn du mit deinen Gedanken in einen Konflikt gerätst, weil niemand anders da ist, um all die Fragen zu beantworten. Das Schlimmste, was ich dort erfahren habe, Faba…
„Die schmerzhafte Stille und das Gefühl der vollkommenen Einsamkeit.“ Farbeagle beendete das, was völlig verschmiert und unleserlich geworden war.
„Woher weißt du das?“
„Mein Urgroßvater hieß Faba und er hat die alten Geschichten der Dorfbewohner damals gesammelt und aufgeschrieben, damit die Nachwelt davon erfährt. Mein Opa hat mir viele Geschichten erzählt“, antwortete Farbeagle mit einem bedrückten Gesichtsausdruck. „Ich konnte dir nie etwas sagen.“
„Aber-“, stotterte Griffel unsicher.
„Du liebst die legendären Pokémon, aber irgendwann musstest du erfahren, dass sie nicht vollkommen sind.“ Die Stimme des Pinsel-Pokémons war nun weniger bedrückt, sondern eher erleichtert, dass die Wahrheit endlich für Griffel zugänglich wurde.
„Ich zeig dir was.“ Griffel platzierte die Fackel als Markierung im Raum, griff sich die Truhe mit seinem Schweif und zog Farbeagle in Richtung des Ruinenausgangs. Sie machten einen Schritt nach draußen und drehten sich wieder um.
„Und nun?“, erfragte Farbeagle verunsichert.
„Das ist das Tor in die Vergangenheit“, erzählte der Affe mit heiterer Stimme. „Und wir sind jetzt hier, das ist die Gegenwart, somit eine andere Welt mit anderen Menschen und anderen Werten.“
Minuten vergingen und die beiden betrachteten die Ruine, die ihnen etliche Entdeckungen sowie Freuden beschwerte, sodass selbst Stunden der Arbeit zum Vergnügen wurden, wenn man einen kleinen Schatz der Ahnen danach in den Pfoten halten konnte.
„Wer sagt, dass die legendären Pokémon nicht auch aus Fehlern lernen können?“ Griffels Stimme schien nicht gekränkt zu sein, im Gegenteil, sie war heiter und voller Kraft.
Die Ruinen der Ahnen und der Steineichenwald. Jeder kann hier mit nur einem Schritt zwischen zwei Welten wandeln.