Hallo und Willkommen zum Vote unseres derzeiten FF und AuV Collabs!
Trotz kleiner Verzögerung haben es ganze 9 Abgaben, dahinter stehen 18 Teilnehmer, zu uns geschafft! Allerdings wollen wir euch nun auch nicht noch länger von den Abgaben abhalten.
Dennoch eine kleine Erinnerung an das eigentliche Thema:
Okay, wenn ihr gedacht habt, dass es jetzt frühlingshaft wird, habt ihr euch getäuscht! Frühlingserwachen und das erste Zeichen neuen Lebens ist Schnee von gestern! Denn schon in wenigen Tagen folgt wieder einer der schönsten Tage überhaupt: Freitag der Dreizehnte! Zu keiner Zeit gibt es mehr abergläubige Menschen, die schwarzen Katzen ausweichen, um Leitern herumgehen und vierblättrige Kleeblätter mit sich tragen.
Diese besondere Zeit sollt ihr in eine kurze Geschichte verpacken, die daraufhin von einem anderen Benutzer vertont werden sollen. Die Wortgrenze liegt dabei bei 1500 Wörtern. Es ist erlaubt, die Aufnahme mit Soundeffekten auszuschmücken, wobei wichtig ist, dass das Gelesene eindeutig im Vordergrund steht und nicht die Effekte.
Die Regeln zum Voten findet ihr hier in aller Ausführlichkeit. Für alle anderen gibt es folgend die tl;dr und die Voteschablone:
- Ihr könnt an jede der 9 Abgaben zwischen 1 und 10 Punkte verteilen. Hierbei sind 0,5 Schritte erlaubt! (Also auch 2,5 o.ä.)
- Kommentare sind nicht verpflichtend. Wenn ihr jedoch genug Zeit habt, freuen sich die Teilnehmer sicher über Feedback
- Die Votedeadline ist am
02.06.18Sonntag, dem 03.06.18 um 23:59 Uhr, also nutzt die Gelegenheit zu voten! - Im Laufe des folgenden Tages folgt die Siegerehrung hier im Topic. Die ersten 3 Plätze bekommen einen Siegeravatar & Header für ihr Profil, die anderen Teilnehmer einen Avatar. (Hierzu könnt ihr Motivwünsche im Vorraus schon einmal an mich, Columbina senden)
Abgabe 01 - x/10.0
Abgabe 02 - x/10.0
Abgabe 03 - x/10.0
Abgabe 04 - x/10.0
Abgabe 05 - x/10.0
Abgabe 06 - x/10.0
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Abgabe 08 - x/10.0
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[b]Abgabe 09[/b] - x/10.0
Abgaben
Dunkelheit.
Blütenreine Finsternis, so leicht wie Morgentau und gleichzeitig so schwer wie eine donnernde Lawine.
Als Lebewesen, die ganz auf das Optische geeicht sind, meinen wir, dass das Fehlen von Formen, Farben und Licht das Erste sein müsste, das unsere Sinne Alarm schlagen lässt.
Kendrick jedoch hat ganz andere Probleme.
In seinem Kopf pulsiert unnachgiebig ein dumpfes Wummern, als wolle die Realität vorsichtig an seinem Verstand anklopfen, anstatt ihn gewaltsam aus der Bewusstlosigkeit zu reißen.
Allmählich verdichtet sich das rhythmische Pochen hinter seinen Schläfen, begleitet von einer allgegenwärtigen Mischung aus Knistern und Rauschen, wie es nur bei völliger Stille in den Ohren klingt.
Langsam, ganz langsam, schiebt sich der schwere Vorhang der Benommenheit einen Spalt zur Seite.
Hämmern löst das Klopfen ab und es will ihm beileibe nicht gelingen, einen klaren, bewussten Gedanken zu fassen.
Kaum fähig, sich zu bewegen, sickern die Erinnerungen wie zähflüssiger Honig in sein Bewusstsein.
Das Atmen fällt ihm schwer. Die Luft riecht nach Feuchtigkeit, Erde und etwas Modrigem.
Er schluckt, sein Atem geht immer schneller und er presst energisch die Augen zusammen.
Heiß rast der Puls durch seine Adern, eine Hetzjagd auf Verstand und den kühlen Kopf, der jetzt von Nöten wäre.
Was ist das für ein Ort?
Kendrick versucht, die Erinnerungen, die am Rande seines Bewusstseins kratzen, zurückzudrängen.
Ein so erfolgversprechendes Unterfangen, wie den Wind mit den Händen halten zu wollen.
Denn in ihnen lauert die Erkenntnis wie ein wachsamer Panther, der bereits zum Sprung ansetzt.
Er beginnt zu zittern. Schuld daran sind nicht nur die Kälte und Feuchtigkeit, die sich unnachgiebig in seine Kleider saugen.
Der Atem geht stoßweise, wilde Gedanken jagen einander, die Augen reißen schreckgeweitet auf.
Erst jetzt schlägt die Dunkelheit ihre Klauen in seinen Verstand und wirft sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn.
Er versucht, sich zu strecken, tastet mit Händen und Füßen ... und stößt fast sofort gegen raue, harte Wände.
Erschrocken reißt er den Kopf hoch - nur um ihn sich augenblicklich an einer festen Oberfläche anzuschlagen.
Etwas, das sich nur wenige Zentimeter über ihm befindet.
Einen quälenden Herzschlag lang sind alle Empfindungen wie ausgelöscht, nicht einmal die Schmerzen an der Stirn nimmt er wahr. Das Blut rauscht unerträglich laut in seinen Ohren, verdrängt für einen Moment alle Gedanken, zu denen er noch fähig wäre. Panisch schlägt Kendrick auf das Holz ein, das ihn umgibt. Schreit, schreit immer heiserer werdend, die trockene Kehle schmerzend vor Durst.
Niemand hört ihn.
Das beschauliche Dörfchen Ringelbach bestand im Grunde nur aus einer kurvenreichen, großen Straße. Wie ein schmaler Fluss mit wenigen kleineren Nebenärmchen schlängelte sie sich durch die Landschaft. Die wenigen Häuser lagen wie achtlos verstreute Kieselsteine zwischen großen Feldern und die einzige Freizeitbeschäftigung bestand im passionierten Mitwirken bei der lokalen Feuerwehr.
Ein malerisches, absolut herrliches Bilderbuch-Kuhkaff - sehr zum Leidwesen der hiesigen Dorfjugend, die sich nicht einfach nur langweilte, sie langweilte sich zu Tode.
Am nördlichen Rand Ringelbachs befand sich ein Haus, das in der ordentlichen, sauberen Umgebung irgendwie deplatziert wirkte. Es war so überwuchert, dass man seine Ausmaße kaum abschätzen konnte, grenzte aber direkt an einen wunderschönen Garten mit sorgfältig gepflegten Rosenbüschen - ein geradezu grotesker Kontrast.
Was wäre besser geeignet, um die Eintönigkeit zu durchbrechen, als eine kleine, verbotene Erkundungstour an einem Freitag dem Dreizehnten?
„Du bist so eine verdammte Memme, Kenny!“
Ralf Brockmann blickte seinen Freund abschätzig an.
Kendrick „Kenny“ Rieke jedoch rührte sich nicht vom Fleck. Er war zwar nicht besonders abergläubisch, doch ihn überkam unwillkürlich ein flaues Gefühl im Magen.
Kenny und Ralf hatten sich durch verschlungene Efeuwände gekämpft und um wachsame Baumriesen herumgeschlängelt, um das verlassene Haus auskundschaften zu können. Die alten, dreckverkrusteten Fenster waren schon vor Urzeiten eingeworfen worden, abgebröckelter Putz bedeckte den Fußboden und grau-braune Spinnengewebe wehten im sachten Luftzug wie lebendig gewordene, geisterhafte Schleier.
Kenny seufzte. Er war eigentlich wenig erpicht darauf, noch weiter in das dunkle, nach Staub und Feuchtigkeit von Jahren oder sogar Jahrzehnten stinkende Gemäuer einzudringen, doch er wusste auch, dass sein Freund ihn sein Lebtag aufziehen würde, sollte er umkehren.
Er schüttelte den Kopf und setzte sich langsam in Bewegung. Feiner Schutt knirschte unter seinen Sohlen, als er Ralf hinterhertrottete, der schon auf dem Weg in den Keller des Hauses war und immer weiter aus seinem Blickfeld verschwand.
Ein unheilvolles Kribbeln sammelte sich in Kennys Nacken, doch er zwang sich, seinem Kumpel zu folgen.
Das war schließlich nur ein altes, verwittertes Haus – was konnte schon passieren, außer, dass man sich vielleicht eine Erkältung holte?
Kaum war Kenny am Fuße der Treppe angekommen, empfing ihn bleierne Stille.
„Ralf? Ralf, lass den Scheiß“, rief er, als er sich mit wachsendem Unbehagen im Keller umsah. Das Display seines Smartphones beleuchtete die Umgebung nur schwach, sodass er nicht sehr weit sehen konnte.
Die Luft hier unten schien immer dichter zu werden.
Kein Laut.
„Wenn du mir irgendeinen deiner dummen Streiche spielst, dann sag ich Vanessa, dass du in sie verknallt bist!“
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend schlich er weiter - und fluchte, als er gegen irgendein Gerümpel stieß und unsanft zu Boden fiel.
Stöhnend rieb er sich den Knöchel und ließ das blasse Licht des Handys über den Boden wandern, bis er erkannte, über was er gestolpert war.
Oder eher - über wen.
„Ralf … Ralf!“
Kennys Stimme überschlug sich. Vor ihm lag der reglose Körper seines Freundes.
Hastig kroch Kenny zu ihm, während heiße Panik seine Eingeweide zu einem tonnenschweren Knäuel verklumpte.
Er schüttelte ihn. Wollte helfen, doch die sich schlagartig entladende Angst lähmte seine Gedanken.
Und plötzlich erfüllte ein markerschütterndes Kratzen den Raum wie Nägel an einer rauen Felswand.
Wie vom Blitz getroffen hielt Kenny inne.
Sein galoppierendes Herz schien seinen Brustkorb sprengen zu wollen und feine, heiße Nadelstiche rasten seine Wirbelsäule hinauf.
Langsamer Atem in der Dunkelheit.
„Du … du bist perfekt.“
Kennys Herzschlag setzte aus, als die körperlose Stimme sich aus der Dunkelheit schälte.
„So lange habe ich gewartet … bald bin ich frei.“
Schritte kamen näher.
„So lange habe ich gewartet, bis jemand kommt, der meinen Platz einnimmt.“
Noch näher.
„Und jetzt bist du hier …“
Den Schlag spürte Kenny kaum, bevor alles in Finsternis versank.
Blut rinnt seine aufgerissenen Finger hinab, doch er nimmt den Schmerz kaum wahr.
Kratzt verzweifelt über die engen Wände.
Kommen sie näher?
Noch näher?
Das Gesicht nass von Tränen der Verzweiflung.
Immer schwächeres Hämmern.
Ein verzweifelter Schlag gegen die Decke-
Knacken, Knirschen, Knarzen – das morsche Holz bricht ein.
Leise, stetig, quälend das Geräusch von Erde, die durch den Spalt auf ihn hinabrieselt.
Seine Schreie werden schriller, höher.
Doch sie bleiben mit ihm gefangen.
Jedes Mal, wenn Rabea bei Nacht durch das Kraftfeldfenster in ihrem Zimmer hinaus in die von Lichtern überflutete Großstadt blickte, bekam sie ein mulmiges Gefühl. Die Stadt war gespickt von durch die Luft schwebenden Transportmobilen, hochtechnisierten Gebäudekomplexen, riesigen Bildschirmen, die man auch hunderte Meter entfernt noch sehen konnte, und dem Gefühl von Überladung – denn fast jeder Zentimeter der Stadt diente einem Zweck – war eine Antenne, oder ein Transmitter, eine Ladestation, eine Werbetafel, eine Informationstafel oder etwas Ähnliches.
Doch es gab nirgendwo dort Menschen. Die Menschen verbargen sich in den Transportern, hinter den Fenstern, unter der Erde oder in Flugzeugen über den Wolken.
Einerseits liebte Rabea die Stadt, liebte das Leuchten, die kleinen Brücken und Kabel, die sich zwischen den Gebäuden umhersponnen und all die verstreuten komplizierten Geräte, die das Leben in dieser Stadt erleichterten. Und doch versetzte der Anblick dieser Kulisse ihr jedes Mal einen kleinen Stich.
Ihr Smartphone leuchtete auf und sie wandte den Blick vom Fenster ab. Mitternacht.
Seit ihre Mutter vier Jahre zuvor gestorben war, war Rabea die letzte Hexe der Welt. Und heute, am Freitag, dem dreizehnten Juni 2458, war ihr dreiundzwanzigster Geburtstag.
ALLES GUTE RABEA
… sagte die Autonome Heimatinstanz Myrr – eine künstliche Intelligenz, die sich um Rabeas Wohnung kümmerte und ihre Termine im Auge behielt. Sie flog in der Form eines Raben in der Wohnung umher. Rabea hatte diesen Avatar selbst erstellt.
SOLLTEST DU NICHT BESSER SCHLAFEN GEHEN?
»Nein! Was denkst du, wieso ich so lange wach geblieben bin? Ich muss etwas erledigen.«
Rabea lief vorbei am Käfig ihrer kleinen Maus Sina, die froh in an ihrem Fressnapf saß und glücklich fiepte. Dann öffnete sie die Tür öffnete zum Lagerraum aus der sofort eine Schwade Kühldampf hervorzischte.
DEIN WECKER KLINGELT MORGEN UM SECHS UHR. SCHLAFMANGEL KANN ZU MÜDIGKEIT, KOPFWEH, KONZENTRATIONSPROBLEMEN, SCHWINDEL, HALLUZINATIONEN, MOTIVATIONSVERLUST, DEPRESSIONEN UND REIZBARKEIT FÜHREN.
»Wieso klingelt mein Wecker so früh?!«
Rabea schob einige eingelegte Rattenschwänze aus dem Weg, um an die anderen Zutaten in ihrem Schrank zu gelangen.
DU TRIFFST DICH MIT FREUNDEN, UM DEINEN GEBURTSTAG ZU FEIERN.
»Nein, tue ich gar nicht! Ich hab zu tun. Sag den Termin bitte ab.«
SOZIALE ISOLATION KANN ZU HERZERKRANKUNGEN, DEPRESSIONEN, NIEDERGESCHLAGENHEIT—
»Ja, schon gut, schon gut. Dann verschiebe den Termin bitte.«
Der Schreibtisch füllte sich immer weiter mit Zutaten, die sie aus dem Lager heraustrug. Kohle, einige Stücke Totholz, ein Pinsel, mehrere alte Bücher und mehr.
WIESO VERSCHIEBST DU NICHT DEIN EXPERIMENT? DAS TREFFEN MIT DEINEN FREUNDEN WIRD NUR HEUTE –AN DEINEM GEBURTSTAG – DIE IHM SOZIAL ZUGESCHRIEBENE BEDEUTUNG ERHALTEN, IN DEREN KONTEXT ES VEREINBART WURDE.
»Kein Experiment, sondern ein Zauber. Und auch der Zauber kann nur heute gewirkt werden. Es ist Freitag der Dreizehnte! Das ist ein Datum, das früher als Unglückstag verrufen wurde, daher ist der Tag magisch potent. Und weißt du, welcher Tag für eine Hexe noch eine besondere magische Kraft besitzt? Genau, ihr Geburtstag. Heute ist meine Magie viel stärker als sonst! Ich habe jahrelang darauf gewartet.«
UND WAS HAST DU JETZT VOR?
Zuletzt holte Rabea einen weißen Vogelschädel mit riesigen röhrenförmigen Augen-Einbuchtungen hervor. Von allen Zutaten, die sie an diesem Abend brauchen würde, war dieser Schädel mit Abstand am schwersten zu ergattern gewesen.
»Myrr, aktiviere bitte ein A2-Levitationsareal.«
Einige Sekunden später ertönte ein Surren aus der Wand ihres Zimmers und holographische, hauchdünne Linien erschienen in der Luft vor ihr. Sie bildeten einen klar definierten Würfel, in den Rabea den Schädel behutsam eintauchte. Als sie ihn losließ, schwebte er in der Luft.
Auf ihrem Schreibtisch öffnete Rabea zwei ihrer ältesten Bücher – Strömungsmechanik nach Leonhard Euler und Grundlagen der Analysis. Sie blätterte in ihnen umher und markierte einige Passagen mit Lesezeichen.
Daraufhin zog sie aus einer mit zahllosen Federn gefüllten Vase eine Feder mit besonders breitem Stiel heraus. Geschickt und mit wenigen Handgriffen spaltete sie die Spitze und schärfte sie an, um damit schreiben zu können.
»Myrr, öffne bitte den Medizinschrank.«
Ein Klicken ertönte. Rabea zog die Tür in der Wand auf, um einen Aderlasser herauszuholen– ein Gerät in Form einer Phiole, das dazu diente, Blutproben zu entnehmen. Bevor Myrr protestieren konnte, hatte Rabea bereits ein Glas gefüllt.
Sie tunkte die Federspitze ins Blut und begann im Levitationsareal herumzuzeichnen. Immer wieder schaute sie auf ihre Mathematikbücher, während sie eine Linie nachder anderen mit höchster Präzision in die Luft malte. Dabei wurde das Blut vom Areal holographisch markiert, sodass ihre Zeichnungen glühten.
Nach und nach entstand ein System aus Kreisen, Pentagrammen und Runen. Es dauerte fast zwei Stunden, bis Rabea mit dem Ergebnis zufrieden war. Danach platzierte sie sorgfältig jede einzelne der Federn aus ihrer Vase an festgelegte Punkte in den Diagrammen, sodass das Muster eines Flügelpaars vor ihr in der Luft entstand. Auch weitere Zutaten wie Knochen, Erde, Holz und zwei große gelbe Murmeln fanden ihren Platz im Beschwörungskreis.
Letztendlich atmete Rabea einmal tief ein und aus.
»Ich bin jetzt fertig. Mach die Augen auf, Myrr, du wirst gleich etwas Unglaubliches sehen!«
Rabea zog ein Notizbuch aus ihrem Umhang hervor, dann einen Zauberstab. Sie las die Formel vor, an der sie nun seit Jahren gearbeitet hatte.
»Mania hela, demok saferudia …«
Insgesamt brauchte sie fast zehn Minuten, um alles vorzulesen, und während sie las, bewegten sich die Zutaten im Beschwörungskreis auf mysteriöse Weise. Schließlich – als die Zauberformel in ihrem finalen Klimax kulminierte – brach ein schwarzes Feuer im Levitationsareal aus. Es blitzte auf und deaktivierte sich von selbst.
Ein lauter Knall. Ein Flattern. Der dunkelgefiederte Vogel, der durch die Beschwörung entstanden war, zappelte durch den kleinen Raum.
Rabea jubelte freudestrahlend.
»Es hat geklappt!«
Sie warf sich auf das Tier, das fast halb so groß war wie sie. Myrr blickte den Vogel mit ihren virtuellen Rabenaugen verwirrt an.
FEHLER. DIE LETZTE EULE DER WELT STARB VOR 212 JAHREN IN GEFANGENSCHAFT.
»Ja, was meinst du, warum es mich so viel Arbeit gekostet hat, eine zu beschwören? Außerdem – hättest du dir das Okkultismus-Bundle heruntergeladen, wie ich es dir bei meinem Einzug empfohlen habe, dann würdest du jetzt nicht so dumm aus der Wäsche gucken.«
Währenddessen knuddelte Rabea die schwarze Schleiereule, die diese Behandlung mit ein wenig Gezauder über sich ergehen ließ. Bald wurden Rabeas Streichelbewegungen langsamer. Sie sah der Eule in ihre riesigen, topasfarbenen Augen.
»Du hast Hunger, nicht wahr?«
Rabea stand auf und ging zu ihrem Mäusekäfig. Sie öffnete die Tür, griff geschickt nach Sinas Schwanzende und zog das vor Angst wild quiekende Tier heraus.
ERKENNE ERHÖHTEN STRESS IM HAUSTIER NAMENS SINA.
»Du machst es mir nicht leichter, Myrr … Aber was sein muss, muss sein.«
Sina verschwand schnell im Rachen der Schleiereule. Sie schlug zufrieden mit den Flügeln.
SOLL ICH SIE AUF TOLLWUT UNTERSUCHEN?
»Sei nicht albern!«
Rabea wandte sich zur Eule um und näherte sich ihrem Gesicht, um ihr Auge in Auge zu sehen.
»Ich nenne dich Harrana. Präg dir mein Gesicht gut ein! Jedes Detail!«
SIE KANN DICH VON NAHEM NICHT EINMAL RICHTIG ERKENNEN. EULEN SIND WEITSICHTIG.
»Halt die Klappe, Myrr.«
GRUPPEN VON EULEN NENNT MAN FACHSPRACHLICH PARLAMENT. VERMUTLICH, WEIL ES LAUTER WENDEHÄLSE SIND.
»Hör auf! Ich wollte schon immer einen Familiar haben, wie es sich für eine Hexe gehört. Aber fast alle größeren Tierarten sind mittlerweile ausgestorben. Und Eulen sind ja wohl die tollsten Tiere, die es je gab. Du kannst noch so viele Fakten von dir geben, meine Meinung wird sich niemals ändern. Wie dem auch sei, es wird Zeit. Myrr, bitte deaktiviere das Kraftfeld.«
Rabea stand auf und hüpfte zu ihrem Kleiderschrank, aus dem sie einen Reisigbesen herauszog, den sie als Kind selbst hergestellt hatte. Dazu holte sie ihren schwarzen Spitzhut hervor und setzte ihn sich auf.
»Komm, Harrana, ich zeige dir deine neue Welt.«
ICH RATE VOM VERLASSEN DER WOHNUNG AB. DAS IST DER DREIZEHNTE STOCK. MÖGLICHE KONSEQUENZEN: UMGEKNICKTE FINGERNÄGEL, SCHÄDEL-HIRN-TRAUMATA, TOD.
»Ha, du meinst wohl Schädel-Hirn-Träume! Der Ausflug wird magisch.«
Rabea streichelte über Harranas Kopf und klemmte sich den Besen zwischen die Beine. Daraufhin stieß sie sich ab und flog durch das geöffnete Fenster hinaus.
Das Gefühl war atemberaubend. Der Wind sauste durch ihre Haare, zerfledderte ihren Umhang. Sie hörte den Lärm der Stadt, zog vorbei an den Fenstern fremder Menschen, die ungläubig ihre Flugbahn nachverfolgten. Harrana flog die ganze Zeit neben ihr her, ließ sie keine Sekunde lang allein. Den Sternenhimmel über sich und das Lichtermeer der Stadt unter sich streiften sie umher – stundenlang, bis die Sonne wieder hinter dem Horizont hervorkroch.
Rabea landete auf dem Vorsprung einer Antenne, den Wind im Nacken und die Stadt zu Füßen. Harrana flatterte auf Rabeas Schoß und zwickte ihr sanft mit dem Schnabel in den Finger.
Rabea drückte die Eule behutsam gegen ihre Brust. Zum ersten Mal seit vier Jahren war sie hier draußen nicht mehr einsam. Endlich war wieder jemand da, mit dem sie diese wundervolle Welt teilen konnte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du jetzt hier bist. Früher hat man Freitag den Dreizehnten als Unglückstag gesehen – doch heute ist es ein Glückstag.«
Harrana huhute zustimmend und putzte sich einen Fleck Mäuseblut vom Schnabel.
Menschen sind seltsam.
Habe ich etwas falsch gemacht? Ich verstehe diese sonderbaren Wesen nicht. Das tut niemand von uns; weder meine sechs Geschwister, noch ich. Wieso kategorisieren sie uns nach irgendeinem seltsamen Muster ein? Meine arme Schwester … ständig bekommt sie den Missmut der Zweibeiner zu spüren, nur weil sie von ihnen an den Anfang gesetzt wurde. Was für ein Anfang überhaupt? Wozu soll der gut sein? Menschen sind doch zu jeder Zeit gestresst und beschweren sich über zu wenig Zeit. Dagegen können wir auch nichts unternehmen, selbst wenn sich das Menschen gern mal einbilden oder erhoffen. Wie war das doch gleich? Sie haben dafür ein seltsames Sprichwort … „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe stets auf Morgen“. Ja … nein. Nein, liebe Menschen. Keiner von uns kann euch mehr Zeit verschaffen; zwar kommen wir immer wieder, aber wir sind dennoch jedes Mal anders.
Stellenweise ist es auch wieder herrlich verwirrend – manchmal ist es Menschen sogar egal, welcher Tag ist. Besonders jungen Erwachsenen; die machen einfach nie was. Und dann gibt es die, die immer was machen. Wie soll man denn da durchblicken? Gibt es da ein bestimmtes Muster oder eine Art Zeichen? Würde mich und meine Geschwister brennend interessieren; dann wüssten wir vielleicht, wie wir auf bestimmte Situationen reagieren sollen.
Aber an all das haben wir; habe ich mich schon gewöhnt. All diese ulkigen Angewohnheiten jede Woche aufs Neue! Freudenschreie und Luftsprünge. Stellenweise sogar eine ganze Party! Es ist schön, wenn sich Menschen freuen, mich zu begrüßen, wirklich. Allerdings benehmen sie sich stellenweise noch unlogischer als ohnehin schon! Heute zum Beispiel. Was habe ich denn auf einmal verbrochen, dass sie regelrecht Panik bekommen, wenn sie ihre Haustür verlassen? Oder eine schwarze Katze sehen? Sonst grinsen sie sich dumm und dämlich und streicheln diese Tiere. Ein wenig suspekt wird es auch, wenn Bibliothekare auf einmal einen riesigen Bogen um Leitern machen und Kosmetiker eine urplötzliche Angst vor Spiegeln entwickeln. Ich meine … was habe ich mit all dem zu tun? Ist ja nicht so, als wenn Menschen mir die Schuld an ihrem Versagen geben könnten. Oder? Nun gut, Menschen haben immer eine Ausrede für alles. Es sollte mich nicht wundern, dass sie auch mir die Schuld an irgendwas geben. Was auch immer es sein mag.
Den sarkastischen Kommentar von meiner Schwester bekomme ich auch nicht mehr aus dem Kopf. „Scheint, als wenn Menschen dich nun noch weniger mögen als mich. Dabei bist du sonst immer ihr Liebling.“ Vielen Dank auch! Sowieso … warum teilen uns Menschen in diese „Mag ich“ und „Mag ich nicht“ Grüppchen ein? Wir sind doch keine Objekte! Schließlich sage ich ja auch nicht, dass ich irgendwen lieber als wen anders habe. Egal, ob das nun ein komischer Typen ist, der gerade sturzbetrunken mit seinen Kumpels um die Häuser zieht. Oder aber ein Schulmädchen, was vor einigen Stunden geschafft aus der Schule gekommen ist und ihren Ranzen einmal quer durchs Zimmer pfeffert, nur um ihn die nächsten zwei Tage nicht noch einmal anzusehen.
Nein. Ganz ehrlich? Alle Menschen sind gleichermaßen seltsam.
Lustiger weise habe ich heute aber auch Menschen gesehen, die sich komplett anders verhalten. Sie scheinen mich heute sogar noch toller zu finden als sonst. Während andere regelrechte Panikzustände bekommen, laufen sie hingegen mit dem größten Grinsen überhaupt durch die Straßen. Mehr noch – sie laufen absichtlich durch sämtliche Leitern, scheinen eine ganze Armee an schwarzer Katzen hinter sich herlaufen zu haben und zertrümmern jeden Spiegel, den sie auftreiben können. Selbst die provisorischen Glücksbringer, die einige Menschen haben, belächeln diese Verrückten nur. Zugegeben, ich würde mir auch kein Hufeisen über den Türrahmen hängen oder mir einen privaten Garten mit vierblättrigen Kleeblättern anlegen.
Jetzt mal im Ernst – was ist an der Zahl 13 so schlimm, dass Menschen sich wie die letzten Volldeppen verhalten? Und was habe ich damit zu tun? Bei der 23 oder 3 beschwert sich auch nie jemand. Ganz zu schweigen von jedem anderen Datum.
Ich gebe es auf!
Menschen sind einfach seltsam.
Unablässig fiel der Regen zu Boden. Ich lief mit großen Schritten und einem vorgehaltenen Arm vor meinen Augen auf dem Gehsteig entlang. Keuchend verfluchte ich den Bus, der mir heute direkt vor der Nase davon gefahren war. Dabei war der Wecker heute - am dreizehnten! - zur Abwechslung mal pünktlich. Scheiß Freitag.
Eine gefühlt meterhohe Welle bildete sich zu meiner Linken, als ein Auto mit viel zu hoher Geschwindigkeit vorbei fuhr. Mit einem geschickten Sprung zur Seite wich ich dem Wasser aus, nur um schließlich in einer Pfütze zu landen. Zu spät realisiert, das Chaos war perfekt. Meine Laune wandelte sich von wütend zu ultrawütend.
Ich konnte schon die nächste Straßenbahnstation sehen. Mein Ziel. Würde zwar noch ein ziemlicher Umweg bis zum Büro werden, aber immerhin würde ich kommen. Nur noch ein paar Meter!
Gesagt, getan, trat ein Zeitungsverkäufer an mich heran und hielt mir ein Magazin vor. Warum? Nicht warum er das tat störte mich, sondern warum im strömenden Regen? Ich stieß ihn unsanft beiseite und machte mich wieder auf den Weg. Plötzlich flog etwas gegen meinen Hinterkopf und ich zuckte zusammen. Mit einem lauten Platschen fiel ein Magazin in eine Pfütze und machte meine Hose noch nasser. Das Cover kam mir bekannt vor. Hatte er mir die gerade wirklich nachgeworfen?
Egal. Bei der Station angekommen kaufte ich ein Ticket und wartete. Und wartete. Immerhin hatte ich ein Dach über dem Kopf. Warum dauert es immer in den stressigsten Situationen am längsten, bis die Straßenbahn kommt? Jedenfalls wartete ich noch länger und sah in der Zwischenzeit den Regentropfen beim Fallen zu. Fast hätte ich schon überlegt, sie zu zählen. Als Perfektionist wäre das aber schwierig geworden.
Eine Frau kam mit ihrem Schirm vorbei, gesellte sich zu mir und setzte sich auf die Bank. Ich nahm zur Sicherheit etwas Abstand, sollte sie auf die Idee kommen, ihren Schirm vom Wasser zu befreien. Nicht dass es noch etwas ausmachen würde, aber meiner Laune zuliebe ließ ich Vorsicht walten.
Schließlich kam die Straßenbahn pünktlich, wie auch auf dem Zeitplan stand. Also zu spät, wie immer. Wir stiegen beide in die für diesen Tag merkwürdigerweise volle Straßenbahn ein und quetschten uns unter die anderen Insassen. Die Tür schloss sich und die Bahn fuhr unter lautem Knattern los. Erst jetzt bemerkte ich, wie sich der Schirm der Frau seitlich gegen meine Hose drückte. Naja. Wenigstens machte sonst keiner der anderen Mitfahrer den Anschein, als wäre heute ein seltsamer Tag. Bis vielleicht auf den laut grölenden Jodelverein bestehend aus drei Personen, aber selbst die schien jeder zu ignorieren. Zumindest würde mir auf dem Weg nicht langweilig werden.
Vier Stationen später konnte ich schließlich wieder aussteigen. Der Regen hatte natürlich nicht nachgelassen. Also auf ein Neues.
Schon beim ersten Schritt fühlte ich mich wieder völlig durchnässt. Ich nahm das zum Anlass loszulaufen. Ein flinker Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass es bereits nach acht Uhr war. Also noch nicht allzu spät, wie ich eigentlich vermutet hatte. Hauptsache ich kam überhaupt noch an.
Auf dem Weg lief ich an einer an die Mauer gelehnten Leiter vorbei, auf der mir eine schwarze Katze die Zunge entgegenstreckte. Ich traute meinen Augen nicht, vermied es aber, darüber nachzudenken. Oder brachte sowas tatsächlich Unglück? Eigentlich konnte es mir nicht egaler sein. Konzentrier dich. Warum bekam ich jetzt diese dumme Katze nicht aus dem Kopf?
Nach weiteren fünf Minuten war ich endlich an meinem Ziel angekommen. Ich betrat das Gebäude, stempelte ein und begab mich in das erste Büro zur Rechten. Ein paar Kollegen gähnten mir übermüdet einen Guten Morgen entgegen, was ich nur mit einem undeutlichen Brummen erwiderte. Mehr als ich mir selbst zugetraut hatte, aber immerhin wollte ich sie nicht komplett ignorieren. Schließlich rang ich mich nach vier weiteren guten Morgen selbst auch zu einem durch. Plötzlich fühlte ich mich wesentlich wohler, als ich es noch vor einigen Minuten war. Schwarze Magie war wohl am ... nicht schon wieder diese dumme Katze!
Ich setzte mich an meinen PC und schaltete ihn ein. Offenbar gab es mal wieder ein Update, über das keiner informiert wurde, sodass der Prozess deutlich länger dauerte als sonst üblich. In der Zwischenzeit trat Sandra an mich heran und hielt mir mit einem Lächeln eine Tasse Kaffee entgegen. Fast schon scherzhaft fragte ich sie, ob sie mir den über die Hose leeren wollte. Sie sah mich nur verdutzt an und meinte, dass ich eh schon wie ein begossener Pudel aussähe. Wo sie recht hatte. Den Kaffee nahm ich dankend an und ich trank einen Schluck aus der Tasse. Ah. Genau das, was ich gebraucht hatte! Sandra wusste halt immer, was gut war.
Wir kamen ins Gespräch und ich erfuhr von ihr noch einige weitere Dinge, die diesen Morgen passiert waren. Dass heute mehrere Leute zu spät kamen, dass bereits in aller Frühe das Netzwerk gestreikt hatte und der beurlaubte Techniker alles nur notdürftig zusammengeflickt hatte. Ich schmunzelte. Zum Glück war ich nicht der Einzige, dem am dreizehnten Unglück passierte. Sandra selbst hatte sich wohl noch nichts zu Schulden kommen lassen, aber wer wusste schon, was noch kommen würde, so ihre Aussage. Wie wahr. Der Tag war noch lang.
Nach dem Gespräch sah ich kurz auf meinen Kalender, um weitere anstehende Termine zu begutachten. Wenn ich mich richtig erinnerte, sollte heute ein kleines Meeting stattfinden. Erst da fiel mir etwas Entscheidendes auf.
Heute war ja gar nicht Freitag, sondern Donnerstag.
Oh.
Ein Scheppern. Ein Rumsen, das Klirren von zerbrochenem Glas, ich kann es nicht ganz zuordnen, aber irgendetwas ist gerade zerbrochen.
Aufstehen. Jetzt. Quälend langsam wie immer. Oder auch nicht. Ich falle, stehe aber wieder auf. Jetzt in den Flur.
Verfluchte Katze. Natürlich ist sie gegen den Schrank gelaufen. Die Vase ist jedenfalls hin. Ich sollte das aufkehren bevor ... argh - ich unterdrücke einen Aufschrei. Das sind viel mehr Scherben als ... ich blicke zu der Wand gegenüber des Schranks. Der große Wandspiegel ist auch hin. Wie ist die Vase so weit geflogen?
Ab in die Küche ... vorsichtig, ich will nicht noch mehr Scherben am Fuß kleben haben. Ich hinterlasse eine leicht blutige Spur auf den Fliesen und öffne sofort die Schublade, in der ich die Pflaster auf ... natürlich sind keine Pflaster mehr da. Dann halt Küchenpapier als Verband. Vorher die Scherben rausziehen.
Zurück in den Flur um die Scherben aufzukehren. Nochmal möchte ich nicht reintreten. Die Katze hat sich natürlich aus dem Staub gemacht. Ich mach mir nicht die Mühe dem schwarzen Fellball einen Namen zu geben. Sie hört sowieso nicht.
Wieder in die Küche, an den Kühlschrank, frühstücken. Nein, einkaufen. Es fehlen Butter, Milch, Eier, Schinken, eigentlich alles, was man für ein richtiges Frühstück braucht.
Ich will gerade die Küche verlassen, als der Salzstreuer aus dem Regal auf meinen Kopf fällt. Am Boden geht er noch zu Bruch. Ich räume das noch schnell auf und gehe endlich in mein Zimmer zurück.
Jetzt aber anziehen und ... ernsthaft jetzt? Ich hab auch nichts mehr zum Anziehen. Im Keller hängt aber noch was auf der Leine. Hoffentlich ist es schon trocken. Schnell meinen viel zu großen Lieblingspulli anziehen.
Schlüssel nicht vergessen und raus aus der Wohnung. Die Treppen herunter. Heute besser nicht den Aufzug nehmen, der stürzt sonst noch ab. Wird sicher anstrengend, ich wohne im zwölften Stock. Im Zehnten steht auch noch eine Leiter im Weg. Darunter durchquetschen und weiter runter.
Ist das eigentlich nur ein Gefühl oder wird es gerade dunkler? Tatsächlich scheint mit jedem Stockwerk das Licht zu schwinden. Ich habe nicht mehr mitgezählt, wo bin ich überhaupt? Vielleicht im vierten Stock oder so ... Das ist nicht mehr normal. Was für ein Tag ist heute überhaupt? Bei meinem Glück Montag. Oder Freitag der Dreizehnte.
Ich laufe schon ewig. Das war sicher schon mehr als der Weg in den Keller. Wo sind die Türen und Fenster und Flure hin? Was ist das? Ein Blick, ein Geräusch, ein Knurren, ich weiß nicht. Ich sehe mich um. Dunkelheit.
Ich schlucke. Ist das wirklich noch das Haus? Ich gehe weiter. Tiefer. Schneller. Die Kälte umfasst meinen Körper. Ich spüre, wie mich aus der Dunkelheit etwas anstarrt. Weiter.
Ich rufe mir die Regeln, die ich einst für solche Situationen aufgestellt hatte, ins Gedächtnis. Keine Panik. Halte die Augen offen. Bleibe nicht stehen. Drehe dich nicht um. Gehe nicht zurück.
Je tiefer ich komme, desto unangenehmer wird das Gefühl. Dunkler, kälter ...
Pieppiep. Pieppiep. Ich suche nach der Quelle des Piepsens. Mein Wecker. Aus. Ich öffne die Augen, blicke auf das Display meines Weckers. Sechs Uhr morgens, Freitag, der Dreizehnte. Hab ich das eben geträumt? Ich nehme den Glücksbringer vom Nachttisch und hänge ihn mir um den Hals.
Aufstehen, anziehen, raus aus dem Zimmer. Ich kann die Vase gerade noch auffangen, als die Katze gegen den Schrank rennt. Ich stelle sie wieder auf. „Morgen, Katze.“ Die Katze miaut und verschwindet im nächsten Raum.
Ab in die Küche. Im Kühlschrank ist noch ein Ei. Reicht mir. Ab in den Topf damit und kochen. Schnell eine Einkaufsliste machen. Die Wäsche hänge ich ab, wenn ich wiederkomme.
Kann ich so rausgehen? Glaube ja. Schlüssel geschnappt und raus aus der Wohnung. Diesmal mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Ich verlasse das Haus.
Das wird sicher ein guter Tag.
Anscheinend ist es bei Geistergeschichten normal, dass sie in einer finsteren Burg um Mitternacht beginnen. Es soll stürmisch sein und die Wände sollen nur von Fackeln oder gelegentlichen Blitzen erhellt werden und ein schauerlicher Wind soll in den Gängen pfeifen.
Nun, leider hielt sich die Realität selten an Klischees und als ich den Jungen traf war es im Licht einer elektrischen Glühbirne um drei Uhr Nachmittags bei der Eröffnung des hochmodernen Burghotels meines Vaters.
Er stand mit einem nachdenklichen Blick vor einem kaputten Spiegel neben der Ahnengallerie und was mir als erstes auffiel war, dass seine Haare den exakt selben rostbraunen Ton hatten wie meine.
“Hallo, bist du einer unserer ersten Gäste?”, fragte ich ihn.
Ich schien ihn ziemlich erschrocken zu haben, denn er schnellte herum wie ein aufgescheuchtes Reh, seine Augen weiteten sich auf eine fast komische Art und er stiess etwas hervor, das ungefähr wie “David?” klang.
Ich schaute nur verwirrt zurück.
“Äh, mein Name ist Adrien. Wer bitte schön ist David?”
“Die Augen stimmen nicht...”, murmelte der Junge, was mich noch mehr verwirrte. Dann jedoch schien er sich zu fangen.
“Entschuldige. Ich bin Ian. David ist mein Bruder, ihr seht fast gleich aus, also habe ich euch erst verwechselt, aber er hat grüne Augen nicht braune wie du.”
Nun, ich und Ian sahen relativ ähnlich aus. Ich zuckte mit den Schultern und beschloss, dass es nicht allzu wichtig war.
“Bist du auch hier um dem ganzen Gewusel in der Eingangshalle zu entkommen?”, wollte ich wissen.
“Gewusel?”
“Du weisst schon. Die Erwachsenen feiern die Einweihung dieses Hotels indem sie Champagner trinken und sich unterhalten. Ich sehe nicht wirklich ein, was daran so toll sein soll, also bin ich hier hochgekommen. Ausserdem wollte ich schauen ob an der Geschichte was ist.”
“Ach so, ja, das war wirklich langweilig. Welche Geschichte, wenn ich fragen darf?”
“Ach, du weisst schon. Die Sache mit dem Jungen der jeden Freitag den 13 vor einem Spiegel stehen soll und die ganze Zeit ‘Nur einen Tag’ sagt, deswegen hat Papa ja die Eröffnung auf heute gelegt. Geisterschlösser seien gerade in der Tourismusbranche sehr gefragt und dieses Anwesen ist schon ewig in der Familie aber zu weit von der Stadt entfernt um darin zu wohnen. Daher meinte Papa, man könne doch etwas daraus machen und hat behauptet, das mit dem Geist sei eine alte Familienlegende. Um möglichst viel Aumerksamkeit zu erregen legte er dann auch gleich noch die Eröffnungsfeier auf Freitag den 13. Wenn du mich fragst hat er das Ganze erfunden.”
Der Junge lächelte.
“Also ich habe bis jetzt keine Geister gefunden.”
Dies war mir momentan relativ egal, denn ich hatte durchs Fenster etwas viel Spannenderes gesehen.
“Kommst du nach draussen? Im Garten spielen einige Leute Fussball, wir können mitspielen gehen!”, krähte ich begeistert.
Ians Reaktion war etwas bedeckter: “Wenn du mir vorhin die Regeln erklärst?”
“Was, du kennst Fussball nicht?”
Ich war entgeistert. Fussball musste man als richtiger Junge doch kennen!
“Dann komm unbedingt mit. Du verpasst etwas! Ich erkläre es dir auf dem Weg!”
Als wir ankamen, waren die Spieler noch mitten im Gefecht und meinten, wir müssen das nächste Spiel abwarten. Die Zeit, die die Gruppe brauchte um ihr 4:3 in ein 4:5 zu verwandeln reichte gerade noch um Ian zu erklären was ein Verteidiger tat, dann wurden uns unsere neuen Positionen zugeteilt. Ich kam nach Wunsch ins Tor und Ian, da dies sein erstes Spiel war, ins Mittelfeld wo seine Unerfahrenheit durch viele andere Spieler kompensiert werden konnte. Das Ergebnis war... na ja. Die brutale Warheit war, dass man ihm anmerkte, dass er das Spiel nicht kannte und er eher eine Behinderung als eine Hilfe war. Von meiner Postion ganz hinten sah ich ihn mehrere Male den Ball verlieren, Pässe ins Leere spielen oder sich verwirrt umschauen wenn er gerade umspielt wurde. Die anderen von uns gaben zwar ihr Bestes aber im Endeffekt verloren wir 3:5. Mein Doppelgänger schien es nicht wirklich zu bemerken aber die anderen waren etwas frustriert von ihm, also schlug ich vor, dass wir erst einmal etwas anderes tun sollten und vielleicht später weiterspielen konnten.
“Kein Problem.”, antwortete Ian auf meinen Vorschlag, “Was denn?”
Darüber hatte ich leider noch nicht viel nachgedacht, also platzte ich einfach mit dem erstbesten heraus, das mir einfiel: “Wir können uns Geistergeschichten erzählen!”
Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, hätte ich mir am liebsten auf die Stirn geschlagen. Geistergeschichten, ernsthaft? Ich war 11, nicht 5! Das war Kindergartenzeug!
Mein Gegenüber schien allerdings wieder mal keine Ahnung zu haben, dass wir hierfür viel zu alt waren und meinte unberührt: “In Ordnung. Soll ich anfangen?”
Dies würde mir zumindest Zeit geben mir etwas genügend Gruseliges auszudenken.
“Okay, mach das.”
“Also dann, als wir uns trafen hast du einen Jungen, der immer am Freitag dem 13 vor dem Spiegel steht. Ich habe eine Idee wieso das so sein könnte.
Vor langer Zeit, im Jahr 1297 nach Christi Geburt lebte hier ein hochrangiger Tempelritter mit seinen zwei Adoptivsöhnen. Eigentlich waren sie wirklich seine Söhne, aber da Tempelritter auch Mönche sind und sie eigentlich nicht existieren durften, adoptierte er sie unter dem Vorwand, dass er einen Erben brauchte. Sie waren Zwillinge, fast gleichzeitig geboren, jedoch gab es auch hier einen, der zuerst das Licht der Welt erblickt hatte. Er war der Erbe des Ritters, der Jüngere nur die Reserve. Dies bedeutete, dass der ältere Bruder von klein auf immer beschäftigt war. Er musste lernen wie man Allianzen schliesst, bereitete sich darauf vor den Platz seines Vaters im Templerorden einzunehmen und wurde in Mathematik, Literatur, Politik und vielem anderen unterrichtet. Er war von früh bis spät beschäftigt. Der jüngere Bruder hatte viel mehr Freiheit und verbrachte seine Tage damit übers Land zu reiten, an Jagden teilzunehmen und die Burg zu erkunden. Er wurde zwar auch unterrichtet, aber viel weniger streng. Daher verstand er nicht, warum sein Bruder nie da war um mit ihm Zeit zu verbringen. Wieder und wieder klopfte er an die Zimmertüre seines Bruders und bat ihn, doch einmal mit ihm Reiten zu gehen, mit ihm die garstige Magd zu erschrecken, mit ihm ins Gras zu liegen und einfach nichts zu tun und jedes Mal musste der ältere Bruder ihn enttäuschen. In dieser Zeit hatten die Tempelritter jedoch eine schwierige Position, ihnen wurden Dinge wie Götzendienst, Habsucht oder Verleugnung Christi vorgeworfen. Das eigentliche Ziel dieser Vorwürfe war es den Papst, dem der Templerorden unterstand zu erpressen.
Der ältere Bruder, der mit seinem Vater inzwischen aktiv an Templerversammlungen teilnahm, hatte weniger Zeit als jemals zuvor und der Jüngere wurde immer frustrierter. Schliesslich baten die beiden ihren Vater darum ihnen nur einen Tag zusammen zu gestatten. Der Ritter einigte sich mit ihnen darauf ihnen nach der Grossversammlung in Paris diesen Tag zu lassen. Als der Vater und der Erbe aufbrachen war zwischen den Brüdern schon fest beschlossen, dass sie ihren Tag gleich nach der Heimkehr einlösen würden. Jedoch kam es nie dazu. Am Freitag dem 13 Oktober 1307 in Paris verhaftete König Philip IV den Grossteil des Templerordens, Vater und Erstgeborener kamen dabei um. Wegen diesem Ereignis ist Freitag der 13 übrigens ein Unglücktag. Die Burg wurde kurzerhand an Verwandte des Ritters vermacht und der jüngere Bruder, der einzige Überlebende in ein Kloster abgeschoben. Seit dann ist der Geist des älteren Bruders an diese Burg gebunden und obwohl sein Zwilling nie hierher zurückkam steht er jeden Freitag dem 13 vor dem zerbrochenen Spiegel im zweiten Stock, da dieser sein Spiegelbild gerade genug verzerrt um ihm die Illusion zu geben sein kleiner Bruder stände vor ihm. Und er wünscht sich nur einen Tag mit ihm verbringen zu können, obwohl auch der Jüngere schon lange tot ist.”
“Oh”
Ich wusste nicht, was ich hierzu sagen sollte. Dies war zwar eine Geistergeschichte, aber irgendwie eher traurig als gruselig. Jetzt war wohl ich an der Reihe eine Geschichte zu erfinden.
Plötzlich rief eine Stimme “Adrien!” und als ich mich umsah entdeckte ich, dasd mein Vater vor der Burg stand und mir auffordernd zuwinkte.
“Tut mir leid Ian, ich muss los. Das ist mein Vater.”
“Verstanden. Danke für heute. Du bist zwar nicht David aber zumindest etwas Ähnliches. Ich werde ihm Fussball beibringen, wenn wir wieder zusammen sind.”
Mit diesen etwas kryptischen Worten machte Ian auf dem Absatz kehrt und entfernte sich von mir. Ich zuckte mit den Schultern und rannte zu meinem Vater.
Das Geisterhotel wurde, da niemand den Spuk jemals sah, nicht sondelich erfolgreich. Was jedoch viele Leute lobten war das schöne Gemälde im zweiten Stock, das in dieser Nacht wie von geisterhand anstelle des zerbrochenen Spiegels erschienen war.
Ein Bild von zwei fast gleich aussehenden Jungen mit grünen Augen und rostbraunen Haaren, die ausgelassen auf einer Wiese Fussball spielten.
Der Wecker kündigte es schon an.
Indem er nämlich gar nichts angekündigte: Die Batterien waren über die Nacht leergelaufen, genau zehn Sekunden vor Mitternacht. Eine halbe Stunde nach ihrer ursprünglichen Weckzeit wachte Selena darum auf, riss sich die Bettdecke vom Leibe, packte ihren Wecker und starrte eine geschlagene Minute auf die Datumsanzeige vom gestrigen Tage: DO, 12.07.18
„Oh, wundervoll“, keuchte sie heiser und ließ sich zurück auf ihre Matratze fallen.
Bauchgefühl und ein gutes Maß an Erfahrungswerten zeichneten von da an ihren Tagesplan: Sie zog die dicksten Socken an, um ihre Zehen vor allfälligen Tischbeinen zu schützen, dazu ihr hässlichstes Shirt, welches sie sich eh irgendwie verkleckern wird. Ihr Frühstück beschränkte sich auf eine Scheibe Brot mit Kaffee, denn ein Messer sollte sie heute lieber nicht in die Hand nehmen. Ihr Geld verstaute sie zur Hälfte in ihrer Geldbörse, zur anderen in der Hosentasche, denn einer dieser Geldbeträge wird sie heute ganz sicher verlieren, und die Geldbörse war immer ein heißer Kandidat. Auch legte sie einen Spiegel unters Bett, verkehrt herum.
Jeder Schritt durch ihre Wohnung war ein sorgfältig bedachter, jede Handlung eine routinierte, jeder Gedanke ein vorausschauender. Freitage wie diese kannte sie mittlerweile zu gut.
Mit einem riesigen Kaffeefleck und einer verbrannten Zunge stand sie bald in der Garage. Den Fahrradhelm hatte sie schon aufgesetzt, als sie bemerkte, dass ihr Fahrrad einen Platten hatte – ob er auch gestern schon da war? – und auch die Batterien der Lichter waren leer. Gut, das waren sie schon seit geraumer Zeit, aber heute könnte sie tatsächlich von irgendeinem Bullen dafür gebüßt werden. An solchen Freitagen hatten die da gerne eine Tendenz zu.
Sie den Helm trotzdem an – wer weiß, wie viele Blumentöpfe heute noch ihren Weg vom Balkon auf die Straße finden – und Selena verließ das Haus in Richtung Bushaltestelle, hoffend, dass der Ticketautomat heute funktionieren würde. War auch keine Selbstverständlichkeit.
Wenige Zeit später spuckte die Maschine tatsächlich einen Papierschnipsel aus. Prüfend betrachtete sie die schwarzen Lettern und Ziffern – und tatsächlich, alle stimmten. Bis auf ein Detail: Es kostete deutlich mehr als gewöhnlich. Und als sie sich ihr Ticket etwas genauer ansah, erkannte sie auch, warum: Nachtzuschlag. Um fünf Uhr morgens?
Gereizt starrte sie zurück zum Automatenbildschirm und staunte nicht schlecht, als sie deren Zeitanzeige las: Eine Minute vor Mitternacht.
Eine Ahnung beschlich sie, welche vom Blick auf ihrer Armbanduhr sogleich bestätigt wurde: 23:59.
Sie stöhnte auf.
Es war nicht nur so ein Freitag, nein, es war einer dieser Freitage.
Warten tat sie trotzdem noch. Bei fünf Minuten Verspätung ärgerte Selena sich noch, bei zehn Minuten flachte die Wut wieder ab, bei zwanzig überlegte sie sich, ob sie ihre Verspätung nicht gleich komplett auf den ÖV schieben könnte, bei dreißig fiel ihr ein, dass sie in dieser ganzen Zeit ihr Fahrrad dreimal funktionstüchtig gekriegt hätte, und als nach fünfunddreißig Minuten dann immer noch kein Bus zu sehen war – wie auch keine weiteren Wartenden auf der Haltestelle auftauchten – und sich auch ihr Handyakku langsam zu Ende neigte (denn natürlich hatte das Ding nicht über Nacht geladen), nahm sie ihre Beine selbst in die Hand und lief los. Viel zu verlieren hatte sie heute auch nicht mehr; insgeheim hoffte sie einfach, dass der Bus keinen Unfall hatte. Denn auch das war an Freitagen wie diesen leider keine Seltenheit.
Bis zur Stadt war es eine stete, ländliche Straße – eine objektiv schöne Strecke, gerade jetzt, wo die Sonne langsam auftauchte und die Welt an Farbe gewann: Die Rapsfelder leuchteten golden, das Gras und die Blätter der Bäume wurden satt und grün, der Himmel strahlte morgenrot; es war eine Postkartenlandschaft, die sie eigentlich genossen hätte – wäre sie nicht so unangenehm still.
Kein einziges Auto, kein Motorrad, auch keines dieser lauten Mopeds, ja nicht einmal der Wind spendete ihr Gesellschaft. Unbewusst wurden ihre Schritte schwerer, als wollte sie mit ihrem Schrittgeräusch die elende Ruhe vertreiben.
Als sie die Stadt endlich erreichte, führte ihr erster Weg zur Kirche. Die Tatsache, dass ihr unterwegs niemandem begegnete und auch hier sich kein Lüftchen regte, überraschte sie inzwischen nicht mehr – überhaupt war sie zu abgelenkt, um auf andere zu achten; hochkonzentriert achtete sie auf jeden ihrer Schritte, jeden Balkon und jedes Fenster; bei jeder Straße schaute sie dreimal, ob nicht doch wer kommt, sie suchte jeden Umweg, um nicht über Brücken oder unter Unterführungen zu gehen.
Tatsächlich passierte nichts.
Die goldenen Zeiger der Kirchenuhr waren auch kurz vor Mitternacht stehengeblieben. Ebenso die schwarzen der Bahnhofsuhr oder die silbrigen derjenigen auf dem Bankplatz. So blieb nur noch eine Möglichkeit übrig, den Ruhestifter noch abzupassen, und die führte sie zur Altstadt.
Auch der Brunnenplatz war unbewegt, leblos: Kein Wasser plätscherte, kein Tourist fotografierte, kein Kind rannte über das Kopfsteinpflaster. Einsam thronte der achteckige Brunnen inmitten der Altstadt, in seinem Zentrum das steinerne Abbild des Heiligen Eligius; eine Figur, die man in dieser Stadt oft fand. Zu seinen Füssen lagen ein Hammer, eine Zange und ein Hufeisen, die üblichen Attribute – viel interessanter war dafür die goldenen Scheibe, die die Statue in den Himmel streckte: Eine Sonnenuhr, in dessen Zeigers Schatten sich noch immer die Zeit spiegelte.
So setzte sie sich auf eine nahe liegende Parkbank und wartete erneut.
Einige Zeit später erschien, wie sei erwartete, eine dürre Figur auf dem Platz; ein Mann mit ungepflegtem grauem Haar und vernachlässigter Gesichtsbehaarung; ein Mann, unter dessen Augen sich die Schlaflosigkeit angesammelt hatte und in dessen fleckiger Haut das Alter. Er trug, was aussah wie ein blauer Morgenmantel; letztes Mal war er noch in voller Klerikermontur gekommen. Umständlich stieg er auf den Brunnenrand, lehnte sich an sein eigenes, steinernes Abbild und starrte zielgerichtet auf die Sonnenuhr. Ohne den Blick zu senken, griff er zum steinernen Hammer, hob ihn mühelos auf, holte Schwung…
„Eligius!“
Und sah sich erschreckt um, um dann sie wiederzuerkennen, die nun aufstand und auf ihn zuging.
„So sieht man sich wieder, Eligius…“, seufzte sie gutmütig und sah zu ihm hinauf. „Hast du eine Ahnung, wie teuer die Zeiger sind? Daran haben sie so lange rumgeflickt, als du sie letztes Mal kaputtgehauen hast.“
„Es ist ein fairer Preis“, murmelte er verlegen, „den ihr offenbar nicht zu schätzen wisst.“
„Das glaubst du doch selbst nicht.“
Endlich senkte er sein Werkzeug.
„Schau, das hatten wir schon so oft“, erklärte sie in bitterem Ton, „und alles ging nach hinten los. Schlussendlich schadest du mehr, als du verhindern willst.“
Sie lehnte sich an den Brunnenrand und starrte ins Wasser; selbst jenes rührte sich nicht. „Lass die Menschen einfach machen. Die wissen sich schon zu helfen, das wissen wir beide.“
„Sich zu helfen wissen! Hmpf!“ Die Falten in Eligius‘ Gesicht wurden zornig. „Jedes Mal wieder das gleiche Theater! Tölpel seid ihr alle, doch ganz besonders an Tagen wie heute! Ungeschickte, unaufmerksame Tölpel!“
Selena wollte noch etwas einwerfen, doch er schnitt sie ab: „Ich komme euch nicht nach! Ich kann nicht jedes Steuerrad herumreißen, kann nicht jeden umfallenden Gegenstand aufhalten, nicht jedes herunterfallende Klavier stoppen! Überhaupt ist mir schleierhaft, wie ihr das jedes Mal wieder hinkriegt, ein Klavier zu zerstören!“
„Aber du siehst doch ein, dass…“
„Ein Klavier!“, schimpfte er erregt, „ich komme euch nicht nach, siehst du das nicht? Ihr könnt mich unmöglich als Stadtpatron einsetzen und dann erwarten, dass ich zusehe, wie ihr euch von einem Unglück ins nächste stürzt!“
Sie lächelte sachte, klopfte mit der Faust auf ihren Helm.
„Wieso nimmst du deinen Schützlingen die wundervolle Möglichkeit, zu lernen?“
„Weil sie es nicht tun!“
„Wie sollen sie denn, wenn du es ihnen nur schwerer machst.“
Da schwieg er betroffen. Er schwieg immer, sobald sie diesen Punkt aufbrachte, jedes Mal.
„So lass die Kinder doch herumrennen. Wenn sie sich die Knie aufschürfen, werden sie nächstes Mal schon vorsichtiger sein.“
„All die Autounfälle, Selena, all die dummen Missgeschicke –“
„– Wären nie passiert, stünden die Menschen nicht unter dem Zeitdruck, den du ihnen bescherst. Du könntest die Zeit vielleicht einfach mal verlangsamen, anstatt sie uns allen zu stehlen!“
Verzeihend lächelte Eligius: „Das liegt dann leider doch nicht in meiner Macht.“
„Dann kannst du wenigstens die Uhren wieder zum Laufen bringen.“
Erwartungsvoll sah sie ihn an, er starrte schweigend zurück, offensichtlich in Gedanken versunken. Diese Konversation hatten die beiden schon so oft, viel zu oft, denn viel zu oft hatte schon seine Angst die Überhand gewonnen.
„Also gut“, seufzte er schließlich, „also gut – nächstes Mal bearbeite ich zuerst die Sonnenuhr, dann bleibst du hoffentlich zuhause.“
Selena lachte auf. „Netter Versuch. Mach jetzt, je länger alle verschlafen, desto hektischer wird das Ganze.“
Sie starrte ihn gespielt böse an, in freundschaftlich gutem Willen, bis er sich zuletzt umdrehte, vom Brunnen stieg – „Hey, leg den Hammer wieder hin!“ – wieder hinaufstieg, den Hammer versorgte und sich dann aus dem Staub machte.
Ein paar Atemzüge später schlich der Wind wieder durch die Straße, erst sachte, dann kräftiger; das Wasser stieg in den Kanon ein, gluckerte seelenruhig ins Brunnenbecken, und dann, endlich, nach all der Zeit, verkündeten die Kirchenglocken:
Zwölf Uhr, dreizehnter Juli 2018, Freitag.
Und langsam erschienen die Menschen auf den Straßen – den einen oder anderen mit einem Fahrradhelm auf dem Kopf.
Anna notierte sich konzentriert die wichtigen Informationen auf ihre bereits vollgekritzelte Liste. Ihre Kollegin am anderen Ende der Leitung hatte an diesem Donnerstagabend noch spät angerufen, um einige Details für die letzten Vorbereitungen zu klären. Morgen Abend würde die Ausstellung für lokale Künstler bereits starten und bisher lief nur wenig nach Plan.
„Mhm. Ja, richtig. Mehr können wir auch gar nicht zulassen, aufgrund der Sicherheitsvorschriften.“
„Gut. Wie sieht’s mit den Helfern aus?“
Anna seufzte als sie die Antwort ihrer Kollegin vernahm. „Nun …“, wieder entwich ihr ein Seufzen, „mach das dann so. Wir brauchen die extra Hände, sonst werden wir nicht fertig.“
„Danke. Bis Morgen!“ Anna legte das Smartphone zur Seite. Sie riss das heutige Blatt an ihrem Tischkalender ab und zum Vorschein kam eine in Rot eingekreiste 13 mit der, in Großbuchstaben geschriebenen, Aufschrift „Ausstellung!!!“. Sie schnaubte als sie daran dachte, wie sie sich vor einigen Wochen noch auf den morgigen Tag gefreut hatte. Sie öffnete das Fenster, um etwas kühle Novemberluft ins Zimmer zu lassen. Es hatte den ganzen Tag geregnet und die Luft roch nach nassem Laub. Als Anna sich vom Fenster abwenden wollte, hielt sie inne. Etwas störte sie am Bild der sonst vertrauten Straße vor ihrem Haus. Sie suchte die Umgebung mit ihren Augen ab, aber konnte nichts entdecken. Etwas genervt von sich selber drehte sie sich letztendlich weg und stampfte Richtung Bett. Die plötzliche Bewegung auf der Straße bemerkte sie nicht mehr.
Seit sieben Uhr früh war Anna schon in der Ausstellungshalle und lotste Bilder, Skulpturen und nicht definierbare Kunstwerke auf ihre Plätze. Sie mühte sich ab, ein Lächeln auf den Lippen zu tragen. In Wahrheit hätte sie die Helfer am liebsten angeschrien.
„Anna, wir brauchen ein Auto, um die Getränke abzuholen!“ Rebecca, eine ihrer Kolleginnen, stupste sie an. Anna hob als Antwort die Augenbrauen hoch.
„Ja, die ganzen Helferlein von Tascha haben keines und mein Auto hat bis heute Abend mein Mann …“ erklärte sie gereizt. Anna war anscheinend nicht die einzige mit schlechter Laune.
„Gott! Gut. Ich fahre dann selber“, presste Anna zwischen den Lippen hervor und bewegte sich Richtung Ausgang. Ein grauer Schleier lag über der Stadt und drückte nur noch mehr auf Annas Gemüt. Anna startete den Motor und ihr Blick wanderte automatisch vom Seiten- zum Rückspiegel. Ein eiskalter Stich durchfuhr ihre Brust als sie eine schwarze Gestalt auf dem Rücksitz bemerkte. Einige Sekunden lang rührte sie sich nicht, bis ihr Verstand endlich die Situation erfasste. „Gott, verdammt nochmal“, lachte Anna auf. Sie hatte schwarze Stoffdecken, in denen die Werke verpackt werden, beim Entladen ihres Wagens auf einen Haufen geworfen. „Das ist einfach nicht mein Tag“, murmelte sie und fuhr los. Dass sie die Decken im Kofferraum gelassen hatte, daran dachte sie in dem Moment nicht.
Anna verstaute die Getränke überall in ihrem Auto. Als sie den Kofferraum abschloss, beschlich sie ein alarmierendes Gefühl. Sie drehte sich ruckartig um und blickte in alle Richtungen. Niemand war auf dem großen Parkplatz zu sehen. Doch Anna verspürte nicht das Bedürfnis sich wieder ihrer Aufgabe zu widmen, sondern stand weiter mit dem Rücken zum Auto da und schaute ziellos in die Gegend. Was war das nur? Anna zuckte zusammen. „Herrgott nochmal!“ schimpfte sie und griff nach dem Handy. Leicht zitternd nahm sie den Anruf entgegen. „Was gibt es?“ zischte sie in den Hörer. „Ja, bin gleich da. Bis gleich.“ Sie schaute sich ein letztes Mal um und diesmal blieb ihr Blick an etwas hängen. Dort, am Rand des Parkplatzes stand eine Person. Das alleine hätte Annas Aufmerksamkeit kaum gewonnen, doch es war die Art wie die Person stand, die Annas Puls doch nochmal antrieb. Die Arme waren in einer geraden Linie am Körper, die Beine zusammengedrückt und die ganze Haltung steif. Nur der Kopf schien leicht nach vorne gebeugt, als ob er sich zu Anna lehnte. Keine Haare und ein schwarzer Anzug taten ihr Übriges. Ihr Blick blieb an der Gestalt haften, während sie zur Autotür schlich. Es bewegte sich nicht. Widerwillig löste Anna ihren Blick um einzusteigen. Der Motor heulte auf und Anna legte den Rückgang ein, blickte beim Ausparken in den Spiegel und drückte das Gaspedal durch, als sie im Rückspiegel die seltsame Figur zwischen den Autos hinter ihr sah. „Wie zum Teufel …!“ Sie hätte schwören können, die Person war am anderen Ende des Grundstücks gewesen. Wie soll sie so schnell bis zu ihr gekommen sein? Annas Blick wanderte während der Fahrt zurück unaufhörlich zum Rückspiegel, doch sie sah nichts. Sie parkte direkt vor dem Eingang zur Ausstellungshalle, hupte und wartete, bis jemand der Kollegen oder Helfer kam. „Was ist los?“ rief Tascha ihr zu. Anna erlaubte sich erst jetzt durchzuatmen. Sie stieg aus und antwortete mit etwas zittriger Stimme, dass sie Hilfe beim Ausladen bräuchte. Tascha nickte und rief einige ihrer freiwilligen Helfer. Zu ihrem Glück sah sie die Gestalt im schwarzen Anzug, die bewegungslos neben einem Baum stand und Anna anstarrte, nicht.
Als sich die letzten Besucher verabschiedeten, versank Anna wieder in Gedanken. Ein plötzliches Geräusch neben ihr, schreckte sie auf. Anna stolperte leicht zurück und starrte den jungen Mann neben ihr an. „Oh, tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich wollte nur fragen, ob sie mich mit nach Hause nehmen. Tascha sagte, wir wohnen in der gleichen Straße.“ Anna brauchte einige Momente um die Worte zu verarbeiten. „Nun …?“, fragte er verunsichert. Anna schüttelte kurz ihre Starre ab: „Klar.“
Nicht alleine zu sein, hatte eine beruhigende Wirkung auf Anna. Die beiden stiegen ins Auto und sie fuhr los. An der Ausfahrt winkte sie Tascha zu doch ihren fragenden Blick bemerkte sie nicht.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Anna, der erst jetzt auffiel, dass sie gar nicht nach dem Namen gefragt hatte.
„Robert.“
Etwas an der knapp gehaltenen Antwort irritierte Anna.
„Hat das heute überhaupt Spaß gemacht?“
„Ich helfe dir doch gerne.“
Annas Unbehagen wuchs. Was war das für eine Antwort? Sie ging in Gedanken den Vormittag durch, als sie alle Helfer durch die Gegend gescheucht hatte, doch keines der verschwommenen Gesichter in ihrer Erinnerung passte zu diesem. Verunsichert setzte sie nochmal zu einer Frage an: „Wie bist du überhaupt zu dieser undankbaren Tätigkeit gekommen?“
Robert drehte sich zu ihr und lächelte sie an. „Ich wollte dir gerne helfen.“
Anna erwiderte das Lächeln instinktiv, doch alles in ihr wollte raus aus dem Wagen. Sie erblickte eine Tankstelle und entschied sich dort anzuhalten.
„Ich brauchte ja noch Zigaretten!“, meinte sie überschwänglich und bog in die Einfahrt ein. Sie lächelte Robert noch mal zu, er nickte zur Antwort. Als sie sich vom Auto entfernte, blickte sie zurück. Robert saß ruhig im Beifahrersitz und schaute leicht lächelnd geradeaus. Sie wendete sich ab und blickte zum Tankstellenladen. An der Kasse stand bewegungslos, mit dem Blick auf Anna gerichtet die Person im schwarzen Anzug. Anna fühlte sich, als ob jemand Eiswasser über sie schüttete. Für einen kurzen Moment erstarrte sie. Dann drehte sie sich um und lief los. Über die Straße, Richtung Stadtzentrum. Als sie sich traute, einen Blick über die Schulter zu werfen, stand die Gestalt neben ihrem Auto und starrte sie an. Sie lief. Die Gestalt war auch auf der anderen Straßenseite. Sie lief weiter. Die Gestalt immer einige Meter hinter ihr. Bewegungslos. Anna lief und lief, bis sie keuchend an einer Straßenlaterne Halt machte. Sie blickte sich um. Sie war alleine. Langsam, da sie kaum Kraft in den Beinen hatte, ging sie die Straße weiter. Irgendwo im Zentrum war die Polizeistation. Sie blickte sich unentwegt um, doch die Gestalt war verschwunden. Als sie in der Ferne eine Bewegung wahrnahm, schrie sie kurz auf. Jemand kam ihr entgegen. Anna starrte konzentriert in die Dunkelheit. Wer auch immer sich näherte, bewegte sich. Es war nicht die Gestalt im Anzug. Anna atmete auf und ging weiter. Dennoch ließ sie ihren Blick nicht ab. Es schien, als ob der Passant leicht tänzelnd die Straße entlang schritt. Er hüpfte und schwang die Arme hin und her. Ein Betrunkener? Anna wechselte zur Sicherheit die Straßenseite. Doch plötzlich kam er ihr wieder auf ihrer Seite entgegen. Anna drehte sich um und lief los. Jedoch, als ihr Blick nach vorne wanderte, sah sie die tänzelnde Gestalt wieder entgegenkommen. Diesmal nah genug, um den schwarzen Anzug und die Glatze zu erkennen. Anna bog in die Gasse rechts von ihr ein und rannte. Rannte der Gestalt entgegen.
„NEIN!“ schrie sie. „NEIN! VERSCHWINDE!“. Egal wohin Anna sich drehte, die Gestalt kam ihr immer entgegen und mit jeder Sekunde näher. Anna schluchzte. Sie konnte nicht entkommen. Nicht einmal ihren Blick konnte sie abwenden, denn egal, wohin sie sah, es war da. Die Schritte kamen immer näher und verstummten direkt vor ihr. Sie blickte auf und sah in ein flaches, farbloses Gesicht ohne Augen und Nase. Nur der Mund war zu sehen und verzerrte sich zu einem breiten Grinsen.
Robert stieg fluchend aus dem Auto und machte sich mit seinem Rucksack bepackt auf den Weg. „Und ich hatte mich so drauf gefreut“, murmelte er. In seinem Rucksack befanden sich Messer und Seil.
Es war kurz vor Mitternacht am Freitag, dem dreizehnten Oktober 2017. Die dunklen Strassen waren leer und die kleine Stadt schien tot. Kein Mensch regte sich, nicht einmal streunende Katzen oder Hunde hatten sich in dem Wetter aus ihren Schlupflöchern nach draussen gewagt. Einzig das Klopfen der Regentropfen und das gelegentliche Flackern einiger weniger Strassenlampen wiesen darauf hin, dass die Zeit in diesem Viertel der Stadt nicht stillstand. Es schien wie ein ein friedlicher, verregneter Abend wie jeder andere hier. Doch etwas war anders.
Einige verwunderte Gesichter erschienen an den hell erleuchteten Fenstern der Häuser, als plötzlich laute, schwere, Schritte zu hören waren. Pitsch, patsch. Pitsch, patsch. Ein Fremder mit Hut und langem Mantel streifte durch die Strassen, und jeder seiner Schritte bedeutete eine Störung in der perfekten Regelmässigkeit der tausend und abertausend Wasserperlen, die auf den Boden fielen. Pitsch, der Regen rauschte, patsch, der Donner grollte. Pitsch, in der Ferne toste ein Fluss, patsch, der Regen prasselte.
Die Leute fragten sich, was er in ihrer Stadt bei diesem Wetter wohl zu suchen hatte. Sie hatten nicht oft Besucher. Ihr Ort war klein und hatte im Gegensatz zu den Grossstädten der Umgebung nicht viel zu bieten. Besonders nachts nicht, und nicht in diesem Viertel, denn hier wohnten nur die feinen Leute, die nachts gut schlafen wollten. Es gab weder Bars noch Nachtclubs, keine Kinos oder andere Geschäfte, die die Menschen nachts zur Unterhaltung gern besuchten. Nein, hier gab es nur Häuser, Gassen und Strassen, die nachts genauso schliefen wie die Bewohner, die solch einen Nonsens nicht nötig hatten. Doch genau durch diese Strassen stapfte der Fremde und schien sich durch die neugierigen Blicke, die auf ihm lasteten, nicht beirren zu lassen. Und mit jedem seiner Schritte hinterliess er ein paar kleine Bläschen auf dem Asphaltboden hinter sich. Pitsch. Patsch.
Einige wenige Bewohner, die der neugierigsten Sorte, hatten ihr Fernglas geholt, um sich den Sonderling etwas genauer ansehen zu können. In einer kleinen, schier scheinheilig ruhigen Gegend wie dieser, gehörte dieses Utensil quasi zu der Grundausstattung Schaulustiger und Köchen der Gerüchteküche.
Hinter ihren Vorhängen gut getarnt versuchten sie, einen guten Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Doch seine Hutkrempe versperrte ihnen die Sicht. Wie sie sich auch reckten und streckten, sie konnten den richtigen Winkel nicht finden. So sehr sie sich auch anstrengten, sie konnten die geistesabwesenden Augen nicht sehen, die unter seinem Hut in die Leere starren. Und keiner von ihnen bemerkte, dass leise Tränen an den Wangen des Fremden herunterliefen, während er weiterhin seines Weges ging. Pitsch. Patsch.
Langsam, aber sicher, erreichte der Unbekannte die Grenzen der Stadt. Wie lange mag er wohl schon gegangen sein?
Die Häuser schienen schließlich immer weniger aneinandergereiht, und die Siedlung verlief sich weiter in die Dunkelheit, genau wie die Blicke der Neugierigen, die sich noch immer fragten, um wen es sich bei dem sonderbaren Mann handelte.
Wer in der Stadtmitte wohnte, rief seinen Cousin an, der am Stadtrand wohnte, weil man den Fremden aus dem Sichtfeld verloren hatte. Die Bewohner der Stadt waren in Aufruhr. Wer wagte es da bloss, ihren Frieden zu stören? Dieses unerträgliche Pitschen und Patschen, was dachte der sich nur dabei?
Als die Kirchenglocken Mitternacht läuteten, verlangsamte der Mann plötzlich seine Schritte und blieb stehen. Die Stadt hielt kurz den Atem an. Ob er wohl etwas Verbotenes tun würde? War er wohl ein gesuchter Verbrecher? Ein Mörder? Ein Kinderschänder? Würde er gleich Leichenteile aus seiner Manteltasche ziehen? Oder eine Waffe? Doch nichts vergleichbar Verwerfliches geschah.
Der Mann fasste sich nur mit beiden Händen an die Hinterseite seines Kopfes und schien sich in sein Haar zu greifen, wenn sich denn welches unter seinem grossen Hut verbarg. Plötzlich schaute er hektisch in alle Richtungen, drehte sich sogar kurz um und blickte zurück in die Stadt. Was suchte er?
Noch immer waren seine Hände in seinem Nacken vergraben. Die Hälse seiner Beobachter wurden immer länger bei dem Versuch, das wunderliche Verhalten des Fremden genaustens erkennen zu können und ihren Freunden und Verwandten davon zu berichten, als er sich plötzlich zusammenkauerte und auf die Knie fiel. Der Regen prasselte ihm auf den Rücken und der untere Teil seiner Stoffhose saugte sich voll mit dem Wasser, das sich auf der Strasse angesammelt hatte. Fragend blickten die Bewohner einander an, doch keiner schien das Verhalten des Unbekannten deuten zu können.
Weil seine schweren Schritte nun verstummt waren, war wieder Ruhe in die Nacht eingekehrt und noch immer rauschte der Regen. Einzig das aufgeregte Wispern der Stadtbewohner war in den Wohnungen zu hören, als der Fremde sich langsam wiederaufrichtete. Er strich sich seinen Mantel glatt, richtete seinen Hut und machte sich wieder auf den Weg. Pitsch, Patsch.
Einige letzte Neugierige schauten ihm nach, wie er auf dem weiten Feldweg in Richtung des reissenden Flusses die Stadt mit seinen schweren Schritten verliess. Die Bläschen, die er auf dem Asphalt hinterlassen hatte, waren längst geplatzt, als die letzten verwunderten Stadtbewohner sich Stunden später zur Ruhe legten. Sie wollten den Fremden vergessen, der es gewagt hatte, ihre nächtliche Idylle zu stören, und so schliefen sie alle etwas entrückt ein, in der Hoffnung, dass die Welt am nächsten Tag schon wieder ganz anders aussehen würde.
Keiner von ihnen würde einen weiteren, ernsthaften Gedanken an den sonderbaren Besucher der kleinen Stadt verschwenden. Sie würden nicht erfahren, dass der Freitag, der Dreizehnte ihn sein ganzes Leben lang verfolgt hatte. Dass der Freitag, der dreizehnte Juni 1980 sein Geburts- und seiner Mutter Todestag gewesen war. Dass seine Frau an einem Freitag, dem dreizehnten, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Dass seine dreijährige Tochter, alles, was ihm von seiner geliebten Frau geblieben war, an einem Freitag, dem dreizehnten, mit Leukämie diagnostiziert worden war und an einem Freitag, dem dreizehnten, nur wenige Monate später der Krankheit erlag.
Keiner von ihnen wusste, dass der Mann seither in Angst vor diesem Tag lebte, sich in seiner Wohnung verkrochen hatte und nicht mehr arbeiten konnte. Dass seine Paranoia und sein Kummer ihn langsam in den Wahnsinn getrieben und am Donnerstag, dem Zwölften aus dem Haus gelotst hatten, in der Hoffnung, einem weiteren Schicksalsschlag an einem Freitag, dem Dreizehnten, entfliehen zu können. Dass er seither ziellos in der Welt herumgelaufen war, durch Wälder, Dörfer und Städte, wo es wegen dem Regen tags und nachts gleich dunkel war, sodass er sämtliches Zeitgefühl verlor und nach beinahe zwei Tagen schlussendlich in dieser kleinen Stadt gelandet war, wo er die Kirchenuhr Mitternacht schlagen hörte, was für ihn nichts anderes bedeutete als der Beginn des unheilsamen Freitags, dem Dreizehnten.
Nicht ein Neugieriger realisierte, wie der Mann sich nach seinem Zusammenbruch auf den Strassen am Stadtrand einen letzten klaren Gedanken fasste, um Freitag, dem Dreizehnten, doch irgendwie entfliehen zu können. Und so beobachtete auch niemand ihn lange genug, um zu sehen, wie er sich hinter den Stadtmauern, fernab der Blicke aller Schaulustigen in die tosenden Fluten stürzte, und in der betäubenden, sinneserstickenden Kälte des Meeres seine letzte Ruhe fand.
Hätte auch nur einer von ihnen sich nach draussen gewagt, um den Fremden zu sich nach Hause einzuladen oder ihn auch nur zu fragen, wohin der Weg ihn führte, hätte er all dies erfahren. Er hätte ihn für die Nacht zu sich holen oder ihn in die schützende Hand anderer Menschen, etwa eines Arztes, vermitteln können. Aber vor allem hätte er ihm klarmachen können, dass er bereits beinahe zwei Tage unterwegs war und Freitag, der Dreizehnte, mit dem Glockenschlag bereits sein Ende gefunden hatte.
Aber nichts dergleichen war geschehen. Und so wachte die Stadt am Morgen des Samstags, dem Vierzehnten mit entfernten Erinnerungen an einen Fremden auf, der in der Nacht ohne Sinn und Respekt ihre nächtliche Idylle gestört und einen wahren Aufruhr in der Gesellschaft verursacht hatte. Der hatte vielleicht Nerven.
Wir wünschen allen Teilnehmern viel Erfolg! Bei sonstigen Fragen/Anmerkungen könnt ihr euch gerne an mich, Columbina oder hier im Thema melden.