Quelle: Aus der Netflix-Serie The Umbrella Academy (Staffel 1, Episode 2)
Hallo und herzlich willkommen zum sechsten Vote der Wettbewerbssaison 2019!
Beim Voting könnt ihr den einzelnen Abgaben zwischen 1 (nicht gut) und 10 (sehr gut) Punkte vergeben. Dabei sind auch halbe Punkte (wie 2.5) möglich. Wichtig ist dabei, dass ihr alle Abgaben bewertet. Da der Wettbewerb anonym ist, vergeben Teilnehmer beim Voten Punkte an alle Abgaben - auch an die eigene. Diese werden bei der Auswertung nicht beachtet. Stattdessen erhalten Teilnehmer einen Punkteausgleich für ihre Unterstützung. Begründungen sind nicht verpflichtend.
Der Vote läuft bis zum Sonntag, den 21. Juli, um 23:59 Uhr.
Verwendet bitte folgende Schablone für den Vote:
Zitat von AufgabenstellungWährend wir darum kämpfen, eine vollkommene Klimakatastrophe noch so gerade abzuwenden, lagern weiterhin in diversen auf der Welt verstreuten Arsenälen genug Atomwaffen, um alles Leben auf dem Planeten gleich mehrfach auszulöschen. Außerdem fliegen riesige Felsbrocken durch das Weltall, die bei einem Auftreffen auf die Erde einen ähnlichen Effekt haben könnten. Führt man sich das vor Augen, sollte eines klar sein: Die Welt ist fragil, ihr Ende hingegen beständig zum Greifen nahe, und man muss sich eigentlich nur noch fragen, wann es kommt, wie es kommt und wer vielleicht überlebt. Das dürft ihr nun entscheiden, indem ihr eine Abenteuergeschichte schreibt, in der ihr eure Protagonist*innen durch ein apokalyptisches Szenario schickt! Welchen Herausforderungen sie sich dabei stellen müssen, an welche öden und verwüsteten Orte sie gelangen und ob sie die drohende Vernichtung noch abwenden können, ist dabei ganz euch überlassen.
Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist ein unerträglicher Schmerz, der meine Sinne verschleiert, und etwas (jemand?), das mich trägt, bis die Schwärze mich komplett übermannt.
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„Sie müssen die Hecke schneiden“, sagt Rena aus dem Nichts.
Wieso sollten sie? Dahinter sieht’s auch nicht besser aus, will ich erwidern, aber meine Stimmbänder habe ich schon vor einiger Zeit verloren, also muss mein fragender Blick als Antwort genügen.
Rena sieht mich nicht an – starrt nur weiterhin auf die Hecke im Garten des Instituts, als hätte sie sie zu ihrem persönlichen Feind erklärt. „Irgendwann wird sie noch so hoch, dass niemand mehr drankommt, sie vernünftig zu stutzen.“
Ich persönlich finde, die Hecke ist völlig in Ordnung. Ein bisschen hoch vielleicht, aber nichts, worüber man sich aufregen sollte. Ist ja nicht so, als gäbe es dahinter viel zu sehen, nur Kilometer von kahlem Land und irgendwann die Silhouette der schweren, unzerbrechlichen Mauer. Da schaue ich mir die grünen Blätter viel lieber an. Immerhin sehe ich jeden Morgen, wenn ich aus dem Fenster sehe, wo genau die zu grellen, künstlichen Farben enden und das graubraune, unfruchtbare Land beginnt.
Obwohl ich auch nicht wirklich ein Problem mit diesem Gefühl der Falschheit habe, das die Farben mit sich bringen. Zumindest versucht dieser Ort, fröhlich zu sein.
„Ich will raus hier“, murmelt Rena. „Raus aus dem Institut. Und raus aus dieser … Gesellschaft, die sie hier versuchen aufzubauen.“
Und wohin?, frage ich sie gedanklich. Rena ist jemand, den ich, seit wir uns das erste Mal beim gemeinschaftlichen Mittagessen (wobei der Begriff „Essen“ nur mit sehr viel Fantasie zu dieser grauen Pampe passt) getroffen haben, nie wirklich verstanden habe. Gerüchte sagen, sie hat Schlimmeres durchgemacht als die meisten von uns. Wir wissen beide genau, dass außerhalb der Mauern nichts wartet außer der Tod.
Und dennoch beschwert sie sich immer wieder über die Hecke.
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Die Welt um mich herum ist grau, graue Asche schwebt vom grauen Himmel hinunter zum grauen Dreck unter meinen Füßen. Selbst meine eigene Haut scheint grau, wie meine Haare, meine Augen, meine Kleidung. Wohin ich auch schaue ist nichts außer graue Baumskelette und graue Ruinen, die einst Gebäude waren, und graue Luft, die es mir schwer macht, zu atmen.
Dennoch fühle ich mich seltsam friedlich.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon laufe. Mein Körper hat schon vor langer Zeit aufgehört wehzutun und fühlt sich jetzt nur noch taub an, ein Gewicht, das ich mit mir rumschleppen muss, ob ich nun will oder nicht. Es einfach fallen zu lassen klingt so, so verlockend, aber ich weiß genau, dass ich das nicht kann, denn ausnahmsweise mal ist es alles eigentlich in Ordnung.
Ich werde diesen Moment wertschätzen bis zum nächsten Sturm, zum nächsten Angriff, zur nächsten Zeit, in der ich an der Klippe des Verhungerns oder der Erschöpfung oder der Erstickung stehe.
Das ist das Mindeste, das ich ihnen schulde.
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Mein Zimmer ist klein und nur mit dem Nötigsten gefüllt wie die meisten von ihnen, die Wände sauber und gestrichen in hellem Pink. So gut wie niemand macht sich die Mühe, seins zu dekorieren, obwohl wir es dürfen; es gibt keinen Grund, sich zuhause zu fühlen, wenn man weiß, dass man es nicht ist.
„Du machst gute Fortschritte“, sagt Professor Kadokawa, der mir gegenüber auf meinem Schreibtischstuhl sitzt. „Dein Körper hat da draußen gelitten, aber soweit ich das sehe, bist du mental stabil. Ich sehe keine Probleme damit, dich bald zu entlassen.“
Sowas hatte ich erwartet. Soweit ich es verstehe, ist das Institut wie eine Auffangstation für alle, die von draußen kommen. Die psychischen und physischen Schäden, die so ziemlich alle von uns erlitten haben, müssen erst einmal einigermaßen in den Griff gebracht werden, bevor man uns zutraut, am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Sobald das erledigt ist, ist das Innere der Mauern wie eine normale Stadt – so normal, wie sie nach dem Weltuntergang sein kann.
Manchmal ist es erstaunlich, wie ordinär es alles wirkt, als wäre da draußen einfach nur die Straße in das nächste Städtchen.
Ja, ich denke, ich bin bereit dafür. Aber ich bin nicht die Einzige hier. Was ist mit Rena?, schreibe ich auf den Notizblock, den Kadokawa mir zur Kommunikation geschenkt hat und den ich ständig versehentlich liegenlasse, weil hier sowieso kaum jemand mit anderen redet. Außer Rena.
Kadokawa seufzt und schüttelt den Kopf. „Ich hatte gehofft, du würdest schlau aus ihr. Sie scheint uns regelrecht zu hassen. An sich wirkt sie sehr stabil, aber ich kann sie einfach nicht einschätzen.“
Geht mir genauso. Ich kenne sie ja auch noch nicht so lange. Vielleicht könnten wir irgendwann mal beste Freunde werden. Bislang sind wir einfach nur zwei Leute, die sich zusammentun, weil es niemand anderes macht. Ab und an frage ich mich, ob sie sich nur mit mir abgibt, weil ich nichts dagegen sagen kann.
„Ist sie dir wichtig?“, fragt Kadokawa mit geneigtem Kopf.
Ist sie das? Irgendwie. So wichtig, wie mir seit ihnen niemand gewesen ist. Ich mach mir Sorgen um sie, ist, was ich schlussendlich schreibe.
„Das tun wir alle. Aber du solltest nicht deinen eigenen Fortschritt gefährden, um jemand anderem zu helfen. Dafür sind wir hier.“
Seine Worte leuchten ein, aber sie gefallen mir trotzdem nicht.
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Es gibt einen Jungen mit wilden, schwarzen Haaren, mit geschickten Fingern und einem selbstbewussten Lächeln, einen Jungen, den ich liebe wie die Welt, von der ich träume.
Es gibt ein Mädchen, das für mich wie eine kleine Schwester ist, zierlich und schwach und nervös, aber mutig, wenn es sein muss, mit einem Messer in der Hand und warmen Augen, die von Liebe zu seinen Freunden sprechen.
Es gibt einen Mann, so unerschütterlich, dass ich glaube, er hat die Apokalypse durch pure Willenskraft überlebt, sein hohes Alter offensichtlich, aber nichts, was ihm im Weg steht, wenn er unsere Gruppe führt.
Es gibt eine Person, die aussieht wie ich, und sie kämpft und lächelt, ganz egal, welche Schwierigkeiten sie auch durchleben muss, und ich frage mich, wer sie ist, denn ich habe sie noch nie gesehen.
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Sie müssen die Hecke schneiden, denke ich instinktiv, als ich an ihr vorbei gehe, dieses Mal von außen.
Dieses Leben, das so tut, als wäre es normal, ist langweiliger, als man denken würde, aber ich nehme Langeweile gern, wenn die einzig andere Option ist, was dort draußen lauert.
Rena ist immer noch nicht entlassen worden, und trotzdem halte ich ihr jeden Morgen in der Sprachschule einen Platz frei, falls ein Wunder geschehen sollte. Sie muss auf jeden Fall Zeichensprache lernen, wenn sie weiterhin mit mir reden will. Die Tatsache, dass wir hier jemanden haben, der das unterrichten kann, ist schon erstaunlich genug, das sollte man ausnutzen.
Meine Wohnung ist ziemlich weit weg von hier, nahe des Festplatzes, und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich das rege Treiben draußen. Wir sind nicht viele, hundert, vielleicht hundertfünfzig, aber immerhin bemühen wir uns, das hier alles wie früher wirken zu lassen. Damals war ich mehr so eine Person, die immer im Haus blieb. Wenn ich das jetzt mache, fühle ich mich, als würde ich nur Zeit verschwenden. Diese Stadt ist zwar gut gesichert, aber niemand hatte damit gerechnet, dass die Welt untergehen würde – das kann auch noch ein zweites Mal passieren.
Trotz der weiten Entfernung finde ich mich aber immer wieder hier auf, bevor ich überhaupt weiß, was mir geschieht. Manchmal winkt mir das Schutzpersonal am Eingang, als wäre ich ein alter Freund.
Im Nachhinein war das Institut doch ziemlich beklemmend. Aber das ist wohl der Sinn der Sache.
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„Nein!“, schreit das Mädchen den Mann an, ungewohnt laut, und ich kann einfach nur dastehen und alles aufsaugen, als wäre ich Welten entfernt. „Er ist okay! Er lebt noch!“
„Wir wussten alle, dass das passieren würde“, sagt der Mann mit ruhiger Stimme. „Er ist gestorben, um dich zu beschützen.“
„Dann hätte es ich sein sollen!“ Sie schlägt mit ihren Fäusten gegen seinen Brustkorb, immer wieder geschüttelt von stillem Schluchzen, und der Mann lässt sie.
„Ist das wirklich, was er hören wollen würde? Wir müssen weitergehen, egal, wie sehr es wehtut.“
„Wohin?“, fragt jemand.
Der Mann dreht sich zu mir.
„Wohin? Selbst, wenn wir das Land verlassen, es gibt keinen Ort, an den wir gehen können. Alles, was wir haben, ist das, was in den Städten irgendwo noch rumliegt. Und das ist schon größtenteils geplündert. Er wurde umgebracht, weil wir genau das versucht haben. Es gibt keinen Schutz. Es gibt kein Paradies da draußen. Nur Asche und mehr Asche und Leute, die genauso verzweifelt sind wie wir.“
Der Mann schaut mich an, und langsam merke ich, dass ich derjenige war, der gesprochen hat. „Also willst du, dass wir aufgeben?“
Das Mädchen schaut zu Boden, die Hände noch immer zu Fäusten geballt.
„Ich will nicht aufgeben“, sage ich, und schaue mir selbst dabei zu, von irgendeiner fernen Dimension aus, in der alles noch gut ist. „Aber ich will auch nicht weitermachen. Egal, was wir tun, es gibt kein Happy End. Die ganze Welt ist tot.“
„D— Du hast gesagt“, stammelt das Mädchen, „dass wir immer nach vorne schauen sollen. Er … Er hat dir auch geglaubt. Wir haben alle gedacht, dass … Dass …“
Es ist nicht ganz so, als fühlte ich nichts. Da ist irgendetwas, tief in mir, das schreien will. Aber auch das würde nichts bringen. „Es war schon vorbei, bevor wir angefangen haben, nach irgendetwas zu suchen. Wenn uns der Hunger nicht umbringt, sind es andere Menschen. Oder wer weiß, wie lang noch bis zum nächsten Ascheregen? Oder willst du lieber ein Erdbeben? Eine Flut? Einen Brand? Die Erde hat noch einiges zu bieten.“
„Hör auf“, flüstert sie.
„Wir hatten niemals Hoffnung. Es war dumm von uns, das überhaupt zu glauben. Er war der erste, den es erwischt hat. Du hättest es auch sein können, wenn er dich nicht beschützt hätte. Wenn wir nicht alle gleichzeitig draufgehen, werden wir es der Reihe nach tun.“
„Hör auf!“
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Ich sehe Rena auch Wochen später nicht. Falls sie entlassen wurde, meidet sie mich, was ziemlich unwahrscheinlich klingt. Eher halten sie sie weiterhin im Institut fest, unsicher, was sie mit ihr machen sollen.
Viele mir Bekannte, deren Namen ich aber nicht nennen könnte, sind mittlerweile entlassen worden, und ein paar von ihnen sitzen in meinem Kurs. Andere arbeiten mit mir im Büro, das sich um die Essensverwaltung kümmert. Wieder andere sehe ich nur ab und an, wenn sich unsere Wege zufällig kreuzen.
Ich gehe immer noch regelmäßig zum Institut. Meine Meinung zur Hecke hat sich nicht wirklich geändert. Hinter ihr liegt immer noch alles, was wir haben. Wenn Rena das nicht will, ist es ihre Schuld. Es ist besser, der Realität ins Auge zu blicken.
Die Tatsache, dass wir noch leben, ist ein Wunder. Wer sich damit nicht zufrieden gibt, hat Pech gehabt.
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Ich huste, schwer, und es fühlt sich an, als hätte ich einen ganzen Vulkan verschluckt. Der letzte Ausbruch war ganz in meiner Nähe. Ich wusste nicht mal, dass der Berg in der Ferne überhaupt ausbrechen kann, aber ich wurde eines Besseren belehrt.
Vielleicht ist es die Tatsache, dass der Mann und das Mädchen genauso geendet sind, oder vielleicht machen mich der überwältigende Schmerz und die fehlende Atemluft einfach wahnsinnig, aber zwischen all dem Husten fühlt es sich an, als würde ich lachen.
Ob ich es wirklich tue, weiß ich selbst nicht so genau.
Die Orientierung habe ich schon längst verloren. Alles vor meinen Augen ist verschwommen und ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob ich noch stehe oder schon zu Boden gefallen bin. Nicht, dass es wirklich noch wichtig ist.
Wäre das hier früher passiert, würde ich vielleicht versuchen, um Hilfe zu schreien. Mittlerweile ist es mir völlig egal. Je früher das hier zu Ende ist, desto besser. Ich hatte immer gehofft, sanft zu sterben, einzuschlafen oder so, stattdessen ersticke ich an heißer Asche, wie bestimmt jeder zweite, den es schon erwischt hat.
Falls es tatsächlich ein Paradies gibt da draußen, habe ich es nicht gefunden. Der Gedanke daran, meinen Freunden irgendetwas schuldig zu sein, war das einzige, was mich noch vorangetrieben hat. Wirklich daran geglaubt habe ich aber ohnehin nicht.
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Das Erste, an das ich mich erinnere, ist, in einem unbekannten Raum aufzuwachen, umgeben von blendendem Weiß, ohne meinen eigenen Körper zu fühlen, und einen Mann mit kalten Augen, der auf mich herabsieht.
Es war mal wieder so weit. Alle Bewohner des kleinen Städtchens hatten sich auf dem Markplatz versammelt, um dem schrecklichen Schauspiel beizuwohnen.
Dabei ist Markplatz wohl schon lange nicht mehr das richtige Wort. Die Häuser und Geschäfte, die ihn einst umringt hatten, liegen jetzt in Trümmern. Die Pflastersteine, die noch an ihrem Platz sind, sind voller Dreck und trockenem Blut. Und in der Mitte, wo früher ein großer und schöner Brunnen stand, ist jetzt nur dieser demonstrativ riesige Galgen.
Die armen Seelen, die heute ihr Leben lassen müssten, waren bereits mit der Schlinge um den Hals und gefesselten Händen aufgestellt.
Ihre Verbrechen waren in meinen Augen alle nicht so dramatisch. Das Kind ganz rechts war die Tochter eines Mannes, der ein halbes Brot für sie gestohlen hatte, um sie ernähren zu können. Die Frau in der Mitte war von ihrem Mann schwanger geworden, obwohl es ihr nicht erlaubt gewesen war und sie sich für das Kind von einem der Mitläufer des Herrschers bereithalten sollte. Und ebendiesen Herrscher hatte der Junge links einfach nur in pubertärem Leichtsinn beleidigt.
Besagter Herrscher stand neben den dreien, lässig an den Hebel gelehnt. Ihm schien das absolut nichts auszumachen, diese drei Menschen jetzt einfach umzubringen, schließlich machte er das ja regelmäßig.
Heute Abend würde er beim Essen wieder damit angeben und uns erzählen, wen er für nächste Woche alles vorgesehen hat.
Ja, leider wurde ich diesen Widerling, der sich nach dem Krieg zum Herrscher über unsere Stadt erklärt hatte, nicht los. Er war nämlich mein Stiefvater. Ein von allen Beteiligten ziemlich ungewollter Stiefvater.
Als vor vier Jahren der Krieg endete, war totale Anarchie. Jeder mordete, raubte oder vergriff sich an wem auch immer es ihm gerade passte. Dann tauchte er auf, zusammen mit einer Gruppe an Mitläufern und gestohlenen Handfeuerwaffen, mit deren Hilfe er schnell die Oberhand gewann, sich selbst zum Herrscher erklärte und alle möglichen Regeln aufstellte, die er gerade passend fand.
Dabei hatte er auch ein Auge auf meine Mutter geworfen. Nachdem sie aber nicht auf seine Annäherungsversuche einging, hatte er sie schließlich vergewaltigt, meinen Vater hinrichten lassen und meiner Mutter mit dem Tod ihrer Kinder gedroht, wenn sie sich ihm weiter widersetzen würde. Natürlich wollte sie das Leben von mir und meinem jüngeren Bruder nicht aufs Spiel setzen und hat sich ihm ergeben. So lebensfroh, wie sie davor war, wurde sie aber nie wieder. Im Gegenteil, inzwischen ist sie nicht viel mehr als eine seelenlose Hülle, die einfach nur tut, was von ihr erwartet wird und mit leerem Blick vor sich hinstarrt. Sie musste sogar ein weiteres Kind von diesem Bastard austragen. Alles nur für unsere Sicherheit.
Fliehen konnte man nicht. Um die Stadt herum wurde eine Art Zaun errichtet, der permanent von seinen Mitläufern bewacht und zusätzlich mit Kameras beobachtet wurde. Bald sollte der Zaun sogar unter Strom gesetzt werden, um ihn noch sicherer zu machen.
Jeder, der versuchte zu fliehen, wurde an Ort und Stelle zu einem Krüppel geschossen und musste mit ansehen, wie seine Familie am Galgen hingerichtet wurde, bevor auch er ihnen folgte. Sie hatten sich wirklich Mühe damit gemacht, geeignete Exempel zu statuieren, damit sich niemand mehr traute, von hier wegzurennen.
Und es wirkte auch. Egal, wie viel Angst die Leute hier hatten, die Angst um das Leben einer ihnen nahestehenden Person war größer.
Ich hörte einen gequälten Aufschrei. Der Vater des Mädchens kämpfte sich durch die Menschenmenge nach vorne und wollte den Galgen stürmen. Die Mitläufer hatten sich sofort auf ihn gestürzt, ihn auf die Knie gezwungen und hielten ihm eine Waffe an den Kopf. Der Herrscher sah auf ihn herunter, als wäre er Dreck.
„Warum? Warum lasst ihr sie für meinen Fehler bezahlen? Sie ist doch nur ein Kind …“, schluchzte der Mann hervor. Der Herrscher schnaubte.
„Wenn du nicht genug Essen verdienen kannst, dass du stehlen musst, um sie zu ernähren, dann hat sie in unserer Gesellschaft keinen Platz.“ Seine Stimme klang so widerlich abgehoben und kalt.
Niemand wagte es, zu widersprechen. Jeder wusste, dass es nur ein Vorwand war, um den armen Mann leiden zu lassen, aber niemand wollte in seine Situation kommen.
Ich sah eine Frau mit stummen Tränen den Jungen auf dem Galgen anstarren. Sie musste seine Mutter sein, doch selbst sie traute sich nicht, zu widersprechen.
Es war beängstigend, wie still der Platz werden konnte. Nur das leise Schluchzen des Vaters war zu hören.
Dann wurde der Hebel gezogen.
Ich erinnere mich nicht mehr gut daran, was damals passiert war. Meine Eltern hatten angerufen, aufgelöst, panisch, mein Freund hatte mich traurig angesehen. Irgendwo aus einem Fernseher drang die Meldung zu mir, dass wenigstens das Überleben der Menschheit sichergestellt worden war, auch wenn der Teil, der weiterleben würde, seine Heimat verloren hatte.
Dann war die Hölle losgebrochen und ich hatte das Bewusstsein verloren.
Als ich wieder aufgewacht war, war ich allein gewesen. Mein Gesicht war von Staub bedeckt gewesen, meine Lippe hatte geblutet und mein Fuß, der unter einem Teil des zertrümmerten Sofas eingeklemmt gewesen war, hatte sehr wehgetan. Wie betäubt war ich aufgestanden, hatte das Haus verlassen und war durch die Straßen gewandert, vorbei an den Ruinen von Häusern, in denen meine Nachbarn gewohnt hatten, vorbei an toten Pflanzen, toten Tieren und toten Menschen. Überall hatten Trümmer und Schutt gelegen.
Schließlich hatte ich mich auf eine Bank gesetzt, die wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war, und hatte ins Leere gestarrt. Ich muss wohl stundenlang dagesessen haben.
Selbstmord war das Erste gewesen, das mir in den Sinn gekommen war, und so stand ich später auf der Fensterbank unseres Hauses und sah in die Tiefe.
Aber ich hatte mich nicht getraut. Noch immer hatte ich am Leben gehangen.
Was war die Erde ohne Menschen, und was war die Menschheit ohne die Erde? Gerne hätte ich mit jemandem darüber gesprochen, aber es war ja niemand mehr da, mit dem ich hätte reden können.
Ich schob einige Trümmer des Supermarkts beiseite und suchte unter ihnen nach etwas Essbarem. Ich fand ein paar Konserven und außerdem einige Kakerlaken, die zu langsam waren, um mir zu entwischen. Ich verstaute Letztere in einer Plastikdose, um sie später zu essen, und packte die Konserven auf den Bollerwagen, den ich hinter mir herzog. Dann machte ich mich auf den Nachhauseweg.
Ich hatte eines der weniger zerstörten Häuser im Erdgeschoss von Trümmern befreit und mich dort eingerichtet – viel hatte ich nicht tun müssen, denn die Einrichtung in der Dreizimmerwohnung war im Wesentlichen intakt geblieben. Meine neuen Vorräte verstaute ich in den Küchenschränken, anschließend überprüfte ich das Wasser in meinen Kanistern. Es war noch genug für die nächsten Tage da, aber bald würde ich wieder Wasser aus einem der Flüsse oder Kanäle holen müssen.
Auf dem Herd machte ich mir einen Erbseneintopf warm und briet ein paar Kakerlaken in einer Pfanne. Es hatte mich einige Zeit gekostet, die Photovoltaikanlage nutzbar für die elektrischen Geräte zu machen, aber mittlerweile hatte ich Strom, mit dem ich kochen und Filme sehen konnte.
Schließlich ging ich mit meinem Essen von der Küche ins Wohnzimmer schob eine DVD von Vier Fäuste gegen Rio in den Player des Fernsehers. Ich setzte mich auf die Matratze, die ich gegenüber dem Fernseher an die Wand gelegt hatte, kuschelte mich in eine Decke und versuchte, über das Geschehen auf dem Bildschirm zu lachen, während ich den Eintopf und als Snacks zwischendurch ein paar gebratene Kakerlaken aß.
Nach dem Ende des Films wurde es bereits dunkel. Ich spielte ein wenig auf meiner Gitarre herum, die ich immer griffbereit neben der Matratze liegen hatte, dann stöpselte ich die Stromzufuhr des Fernsehers zu einer Stehlampe um und las in ihrem Lichtschein ein wenig in Eine Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls.
Ich hatte nicht wirklich eine Ahnung, warum ich es las, denn ein derartiges Buch war mittlerweile bedeutungslos. Der Autor beschrieb, wie eine gerechte Gesellschaft auszusehen habe, aber es gab keine Gesellschaft mehr. Nicht hier jedenfalls. Und trotzdem – wenn ich es las, hatte ich manchmal das Gefühl, als würde es mich genau darüber hinwegtäuschen. Es war, als würde ich hier mit jemandem sprechen können, der immer voraussetzte, dass es irgendwo auf dieser Welt noch Menschen gab, und beides ließ mich mein Alleinsein für eine kurze Zeit vergessen.
Nachdem ich beim Lesen müde geworden war, lehnte ich mich zurück und schloss die Augen, in der Hoffnung, bald einzuschlafen.
In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von Nikita.
Ich hatte das Gefühl, in meinem kleinen Wohnzimmer aufzuwachen. Ich setzte mich auf und sah im Licht des Mondes, das durch ein Fenster hereinfiel, jemanden auf einem Stuhl am Küchentisch sitzen. Seltsamerweise war ich nicht so überrascht, wie ich eigentlich hätte sein müssen, sondern nur ein wenig verwundert.
„Hallo?“, fragte ich leise. „Wer bist du?“
Die Gestalt auf dem Stuhl drehte sich zu mir um. Es war eine junge Frau, vielleicht in meinem Alter. Ihre Haut war dunkel, und es schien, als sei sie indischer Abstammung. Schwarzes gekräuseltes Haar fiel über ihre Schultern. Sie trug einen saphirblauen Pullover und eine graugrüne Cargohose. Sie lächelte freundlich, doch irgendwie traurig.
„Ich bin Nikita“, sagte sie mit einer ruhigen Stimme. „Es freut mich, dich kennenzulernen.“
„Ist das ein Traum?“, fragte ich.
„Ich glaube schon“, antwortete Nikita. „Wie heißt du?“
„Katha“, erwiderte ich.
„Freut mich, Katha“, sagte Nikita.
„Ja. Mich auch“, murmelte ich.
Nikita stand auf und setzte sich neben mir auf die Matratze. „Wo sind wir hier?“, fragte sie.
„In Papenburg“, sagte ich. „Eine Stadt im Nordwesten Deutschlands.“
„Das ist weit weg“, meinte Nikita.
„Was meinst du damit?“, fragte ich. „Wir sind doch hier.“
Nikita schüttelte den Kopf. „Du vielleicht. Ich nicht.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ich bin nicht hier“, erwiderte Nikita. „Ich bin irgendwo in der Ukraine. Glaube ich zumindest.“
„Aber …“ Ich brach ab. Es war doch nur ein Traum. Es hatte keinen Sinn, nach einem Sinn zu suchen.
„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Nikita. „Haben noch andere Menschen überlebt?“
„Nein“, sagte ich. „Ich bin die Einzige hier.“
Nikita seufzte. „Ich bin weit gewandert“, sagte sie. „Ich habe auch niemanden getroffen. Abgesehen von dir.“
„Du bist nicht wirklich hier“, widersprach ich.
„Nein“, flüsterte Nikita. Wieder lächelte sie traurig. Ihre schönen dunklen Augen sahen mich durchdringend an.
„Kommst du etwa hierher?“, fragte ich.
„Vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich dich finden kann.“ Sie nahm meine Hand und drückte sie kurz. „Aber ich komme auf jeden Fall wieder. Versprochen.“
„Was …“, begann ich, doch sie unterbrach mich.
„Es tut mir leid, aber unsere Zeit ist um“, sagte Nikita. „Halte durch, Katha.“
Ich spürte, wie meine Augenlider schwer wurden. Im nächsten Moment war ich eingeschlafen.
Am nächsten Morgen war ich mir nicht sicher, was passiert war. Ich hatte von dieser Frau geträumt, an deren Namen ich mich nicht erinnern konnte. Seltsamerweise fühlte ich mich heute irgendwie noch einsamer als sonst.
Der Tag verging wie jeder andere. Ich sammelte Vorräte und durchstreifte die zertrümmerten Häuser nach Dingen, die ich vielleicht gebrauchen konnte. In einem früheren Einkaufzentrum schnitt ich mir vor einem Spiegel ein wenig die Haare und probierte anschließend ein paar neue Sachen an, während ich die Schaufensterpuppen nach ihrer Meinung fragte.
Nachmittags war ich wieder zuhause, räumte die Sachen weg, die ich gefunden hatte, spielte auf meiner Gitarre herum und las wieder ein Buch. Eine Theorie der Gerechtigkeit hatte angefangen, mich zu langweilen, und so las ich stattdessen Das Zeichen der Vier, einen Sherlock-Holmes-Roman. Schon seltsam: Verbrechen waren letzten Endes ein Zeichen von Zivilisation, denn niemand konnte etwas verbrechen, wenn sonst keiner da war, der es verurteilte.
An diesem Abend hatte ich Schwierigkeiten, einzuschlafen. Vielleicht lag es am Buch, vielleicht war es einfach die Tatsache, dass es mir heute nicht so gut gelang, das Gefühl des Alleinseins zu verdrängen. Irgendwann fielen mir aber die Augen zu.
Diesmal saß Nikita direkt neben mir. „Hallo“, sagte sie freundlich.
„Hallo“, erwiderte ich lahm. „Ich hatte dich ehrlich gesagt komplett vergessen.“
„Das macht nichts.“ Da war wieder ihr trauriges Lächeln.
„Was ist deine Geschichte?“, fragte ich.
„Meine Geschichte?“
„Ich meine … Hattest du Familie?“
Sie nickte. „Sie sind alle tot.“
„Das tut mir leid“, murmelte ich. „Das muss schrecklich gewesen sein. Für mich war es das jedenfalls.“
Nikita nickte.
„Wo hast du gewohnt?“, fragte ich.
„In Jaipur“, sagte Nikita. „Mein Vater war Chemiefabrikant, meine Mutter Verlegerin. Wir waren zusammen, als es … als es passierte.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Ich legte den Arm um sie und streichelte ihre Schulter. „Es tut mir leid“, sagte ich noch einmal.
Es vergingen ein paar Sekunden, ehe Nikita wieder sprach: „Was ist mit deinen Eltern?“
„Sie haben mich angerufen, als der Bericht im Fernsehen übertragen wurde.“ Ich kämpfte gegen die Tränen an, aber meine Augen wurden dennoch feucht. „Ich war bei meinem Freund. Es … ging alles so schnell.“ Ich lachte bitter. „Weißt du, meine Eltern waren beide Lehrer. Ich habe es immer gehasst, wenn sie mich korrigiert haben. Jetzt aber … Ich vermisse es irgendwie.“
„Und dein Freund?“, fragte Nikita.
„Tobi“, machte ich. „Um ehrlich zu sein … Ich wollte mit ihm Schluss machen.“ Ich stockte kurz. „Ich meine, er hat mir viel bedeutet, aber … Ich habe gemerkt, dass es zwischen uns doch nicht so passt.“
„Ich verstehe“, sagte Nikita.
„Das fühlt sich so unfassbar scheiße an“, sagte ich. Ein Kloß machte sich in meinem Hals breit. „Er ist gestorben, während ich eigentlich die Absicht hatte, ihn demnächst abzuservieren. Weißt du, was das Beschissene daran ist?“
Nikita schüttelte den Kopf.
„Dass ich danach manchmal fast erleichtert bin“, sagte ich heiser. Eine Träne kullerte meine Wange hinab. „Weil er tot ist, musste ich nicht mit ihm darüber sprechen. Und dann hasse ich mich dafür, das gedacht zu haben, weil … Nun, weil ich ihn halt trotzdem irgendwie mochte, verstehst du? Nur eben nicht mehr … so.“
Ich schluchzte und drückte mein Gesicht in Nikitas Schulter. Sie nahm mich in den Arm. „Alles gut“, flüsterte sie. „Daran ist nichts Falsches. Das war einfach nur ein blöder Zufall. Du musst dich nicht schlecht dafür fühlen, dass du ihm nicht wehtun wolltest.“
Ich konnte nicht sagen, wie dankbar ich für ihre Worte war. Wann immer ich an Tobi gedacht hatte, war ich mir wie ein schlechter Mensch vorgekommen. Und da es niemanden gegeben hatte, mit dem ich darüber reden konnte, hatte ich es verdrängt.
„Ich muss zugeben“, fuhr Nikita fort, „ich weiß nicht, was du durchmachen musst. Ich hatte nie einen Freund.“
Etwas an der Art, wie sie das sagte, wirkte merkwürdig auf mich. „Wie meinst du das?“, fragte ich, ein Schniefen dabei unterdrückend.
„Nun, ich …“, begann Nikita, brach aber ab. „Es tut mir leid“, fuhr sie nach einer Pause fort. „Aber wir haben keine Zeit mehr. Ich hoffe, wir sehen uns morgen.“
„Ja“, flüsterte ich. „Das hoffe ich auch.“
Meine Augen fielen wieder zu.
Am nächsten Tag erinnerte ich mich deutlich lebhafter an Nikita, auch wenn die Erinnerung nach dem Aufwachen rasch verblasste.
Ich versuchte, ein Bild von ihr zu zeichnen, aber Zeichnen gehörte nicht zu meinen Stärken. Am Ende kam etwas heraus, das wie eine schlechte Karikatur wirkte, die ein Kind in der ersten Schulklasse hingekritzelt hatte. Ich behielt die Zeichnung trotzdem und hängte sie als Erinnerungshilfe mit einem Magneten an den Kühlschrank.
Solange es Tag war, änderte sich nichts an meiner Lebensweise. Auch weiterhin durchstreifte ich die Stadt nach Essbarem, füllte meine Wasservorräte auf und las oder schaute Filme.
In der Nacht allerdings begegnete ich nun jedes Mal Nikita. Wir redeten die meiste Zeit nur miteinander, darüber, was wir alles früher getan hatten, über unsere Erinnerungen an die Zeit vor der Katastrophe und was wir seitdem getan hatten. Nikita erzählte mir, dass ihr Vater dafür gesorgt hatte, dass sie neben Englisch auch Deutsch lernte, denn einige seiner Handelspartner kamen aus Deutschland.
Ich merkte, dass unsere Gespräche mir mehr und mehr dabei halfen, das Geschehene zu verarbeiten, und ich glaubte, Nikita ging es ähnlich. Sie berichtete mir, dass sie bald in Deutschland sein würde, und ich freute mich sehr darüber.
In der Nacht darauf passierte etwas Wundervolles.
Auch dieses Mal erschien Nikita direkt neben mir. Ich fühlte, dass irgendetwas anders war, nicht nur mit ihr, sondern auch mit mir. Es war, als pochte etwas in meiner Brust, etwas, das raus wollte.
Keiner von uns sagte etwas. Stattdessen lehnte sich Nikita vor und küsste mich. Ihre Lippen waren warm und sanft und ich erwiderte ihren Kuss, als sei es das Natürlichste auf der Welt.
„Hattest du deswegen nie einen Freund?“, flüsterte ich, nachdem wir uns kurz voneinander gelöst hatten.
Sie nickte. „Hauptsächlich deswegen, ja. Meine Eltern wussten nichts davon. Es war klar, dass sie … dagegen sein würden.“ Sie lächelte wieder auf diese Art, die eher wie ein Zeichen von Trauer wirkte.
Ich küsste sie wieder und strich ihr dabei mit der Hand durch das schwarze, lockige Haar.
Ich wusste nicht, ob wir in dieser Nacht wirklich aus Liebe miteinander schliefen. Vielleicht waren wir auch einfach nur zwei Menschen auf dieser Welt, die viel zu lange nicht die Nähe eines anderen menschlichen Wesens gespürt hatten und sich daher genau danach sehnten.
Letzten Endes war das aber egal, denn in der nächsten Zeit glaubte ich, dass, falls es in dieser Nacht nur das Verlangen nach Nähe gewesen war, allmählich mehr daraus wurde. Ich vermisste Nikita immer schmerzlicher am Tag, und in der Nacht war ich umso glücklicher, sie in meine Arme schließen zu können.
„Ich bin bald bei dir“, sagte Nikita eines Nachts. „Morgen sollte ich deine Stadt erreichen.“
Sie würde über die Papenburger Straße kommen – oder vielmehr über das, was davon noch übrig war. Ich versprach ihr, am Küstenkanal auf sie zu warten.
Am nächsten Tag saß ich mit wild klopfendem Herzen auf der Haube eines kaputten Autos an der Stelle des Küstenkanals, wo die Papenburger Straße ihn kreuzte, und hielt nach Nikita Ausschau. Irgendwann im Laufe des Tages begann ich, Angst zu bekommen. Was, wenn es doch alles nur Träume gewesen waren? Etwas, das sich mein Unterbewusstsein ausgedacht hatte, um mit der Einsamkeit fertig zu werden?
Mein Herz verkrampfte sich unangenehm bei diesem Gedanken und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Es konnte unmöglich alles einfach nur ein Traum gewesen sein. Ich erinnerte mich an Nikita, an ihr trauriges Lächeln, ihre schönen dunklen Augen und an ihre sanften Berührungen, und das so lebhaft, als sei sie in all den Nächten tatsächlich hier gewesen.
Und dann sah ich plötzlich in der Ferne jemanden über einige Trümmer klettern, die auf der Straße lagen. Ich sprang aufgeregt auf und lief los, der Gestalt entgegen, die ebenfalls losrannte. Als wir uns näherkamen, wurde die Person deutlicher für mich sichtbar und ich erkannte, dass es wirklich Nikita war, die genauso aussah wie in meinen Träumen. Atemlos fielen wir uns schließlich in die Arme und sahen uns für einen Moment an, wie um uns zu versichern, dass die jeweils andere keine Illusion war.
Dann küssten wir uns, und es fühlte sich an wie im Traum.
„Katha“, hauchte Nikita. „Ich bin so froh, dass es kein Traum war.“ In ihrem Lächeln lag diesmal keine Spur von Traurigkeit, auch wenn Tränen in ihren Augen standen.
Ich drückte sie fest an mich. „Ich bin auch froh, Nikita“, flüsterte ich.
Die Menschen waren tot oder hatten die Erde verlassen. Aber Nikita und ich waren immer noch da, durchstöberten die Trümmer, erzählten uns Geschichten und machten hin und wieder Ausflüge in andere Städte.
Wir waren die letzten Menschen, die auf der Erde lebten, und die letzten, die sich dort liebten.
Ich bin in einer grauen Welt gelandet. Zerstörte Gebäude sind alles, was ich sehe. Große Brocken Beton, die auf aufgebrochenen Straßen am Boden liegen. Rostige Stahlpfeiler, die aus den Überresten einer Zivilisation ragen. Es stinkt. Dicker Staub liegt auf allem; der Straße, den Ruinen, in der Luft. Der Himmel hat eine abartige grau-gelbliche Farbe.
Ich bewege mich vorsichtig vorwärts. Meine Fußspuren bleiben im staubigen Boden sichtbar, der wohl seit langer Zeit keinen Windhauch mehr erfahren hat. Irgendwo hier muss eine Ultrabestie sein. Ich muss sie besiegen, in meine Dimension zurückkehren und das Wurmloch verschließen, bevor sie meine Welt erreichen kann. Das ist das Einzige, was zählt, und ich sollte keine Zeit verschwenden.
Ich klettere über eine etwa brusthohe Mauer und finde mich in etwas wieder, was wohl einmal ein Innenraum war. Zersprungene Bilderrahmen liegen am Boden vor einem zerstörten Tisch. Ich werfe einen Blick darauf. Die Bilder sind vergilbt und lange ausgebleicht, doch ich erkenne noch, dass sie wohl eine ehemals glückliche Familie in einer nahezu paradiesischen Umgebung zeigen. Die Personen sehen irgendwie vertraut aus. Ich kann nicht genau sagen, woher ich sie kenne, doch etwas an ihnen wirkt so, als hätte ich sie einmal sehr gut gekannt.
Ich lege das Bild wieder zurück. Nun ist keine Zeit für so etwas. Vorsichtig springe ich einen kleinen Vorsprung hinunter und gehe weiter voran. Das Geräusch meiner Schritte hallt von den kahlen Wänden des Ganges wider, durch den ich mich gerade vorwärts bewege. Kein anderes Geräusch ist zu hören, nur meine Schritte.
Ich habe keine Ahnung, wohin ich eigentlich unterwegs bin in dieser trostlosen Dimension. Ich gehe nur dem nächsten schwachen Lichtschein entgegen, den ich erkennen kann. An einer Wand hängt ein Poster, das ich mir nun genauer ansehe. Es ist ein Kraftwerk darauf abgebildet, umgeben von grünen Wäldern. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll oder ob es etwas mit dem Zustand dieses Ortes zu tun hat. „Hundertprozentig sicher! Unsere Energie wird Ihr Leben mit Licht erfüllen!“, lese ich den Slogan laut vor mich hin.
„Wer bist du und wie kommst du hierher?“
Erschrocken drehe ich mich um. Hinter mir steht auf einmal eine Person. Ich habe sie nicht kommen gehört und habe keine Ahnung, wie sie sich so einfach anschleichen konnte. Es ist ein älterer Mann, der einen dicken Schutzanzug mit Gasmaske trägt, doch sein Gesicht ist erkennbar. Er wirkt wieder so vertraut.
„Hala?“, frage ich vorsichtig. Er sieht zwar nicht exakt so aus, aber die Ähnlichkeit ist nicht von der Hand zu weisen.
Der Blick des Fremden wandelt sich zu etwas, das ich nicht deuten kann. „Woher kennst du den Namen meines Großvaters?“, fragt er. „Er ist seit dreißig Jahren tot!“
„Unmöglich“, hauche ich. „Tali?“ Mein Blick wandert über sein Gesicht. Er hat tatsächlich eine sehr große Ähnlichkeit zu meinem besten Freund, nur sieht er eben sehr viel älter aus. Sein Ausdruck ist leer und resigniert.
„Du solltest nicht hier sein“, sagt er streng. „Das ist ein Sperrgebiet. Es ist gefährlich.“
Ich seufze. „Ich weiß. Aber ich muss.“ Ich bewege mich weiter durch den Trümmerhaufen dieses Ortes, Tali folgt jedem einzelnen meiner Schritte. Es scheint ihm wirklich nicht zu passen, dass ein Fremder hier ist, doch ich darf mich nicht davon abhalten lassen, meine Mission zu erfüllen.
Wir erreichen einen offenen Platz, der wiederum von eingefallenen Gebäuden umgeben ist. Eine surrende Leuchttafel zeigt flackernd Bilder einer schöneren Welt, einer Vergangenheit. Grüne Wälder, blauer Himmel, weißer Strand. Eine wunderschöne Stadt. Und ich erkenne den Ort.
„Ist das … ist das hier etwa Hauholi?“, wende ich mich direkt an meinen unfreiwilligen Begleiter.
Er nickt stumm.
„Was ist hier geschehen?“, frage ich.
„Ich kann dir nicht sagen, was genau womit zusammenhing“, setzt Tali an, „aber Kapu-Riki hat uns irgendwann nicht mehr besucht, und als eines Tages eine Ultrapforte aufging und Schlingking herauskam, standen wir ohne Schutz da. Es hat alles verwüstet.“
„Schlingking“, wiederhole ich. „Wo ist dieses Schlingking jetzt?“
„Ich kann nicht zulassen, dass du es herausforderst“, sagt Tali, als könnte er meine Gedanken lesen. „Es hat mir alles genommen. Meinen Opa, meine Freunde, meine Pokémon, meine Heimat. Geh in deine eigene Welt zurück und bitte die Inselpatrone um Hilfe. Noch besteht Hoffnung.“
Ich schlucke. „Aber ich weiß, dass ich es besiegen kann“, sage ich und versuche, überzeugt zu klingen.
„Keine Chance, das lasse ich nicht zu“, sagt er bestimmt. „Geh heim.“ Murmelnd fügt er noch hinzu: „Und sorg dafür, dass es nie ein Kraftwerk gibt.“
Ich wende mich ab und gehe weiter. Ich verstehe nicht, warum er mich nicht zu der Ultrabestie lassen will. Wir beide haben doch alle Gegner gemeinsam besiegt. Niemand konnte sich uns in den Weg stellen. Wir haben gemeinsam sogar schon Ultrabestien bekämpft. Warum hat er so viel Angst vor einem einzigen Pokémon?
Ich klettere über einige Brocken. Keine Ahnung, wohin ich gehe, aber so groß ist diese Stadt nicht, dass sich dieses Pokémon hier ewig vor mir verstecken könnte. Ich steige über einige umgestürzte Stahlbalken und gehe weiter durch ein Haus, dem das komplette Dach fehlt. Tali folgt mir nur noch zögerlich. Vielleicht bin ich auf dem richtigen Weg.
Plötzlich höre ich Geräusche. Geräusche von umfallenden Wänden. Ich schaue durch einen Spalt in der Hauswand, hinter der ich mich gerade befinde.
Dort ist es. Dort ist es tatsächlich! Ein riesiger, schwarzer Körper, der fast vollständig aus einem Maul zu bestehen scheint. Es stopft wahllos Steinbrocken und Metall in sich hinein und bahnt sich so einen Weg durch die Stadt.
Ich suche nach dem besten Weg, um diesem Gegner endlich gegenübertreten zu können, da packt mich Tali plötzlich am Arm.
„Tu's nicht“, fleht er mich an, „bitte.“
„Aber ich muss“, gebe ich zurück.
Er lässt mich wieder los, sein Gesichtsausdruck ist zutiefst verzweifelt. „Verstehst du denn nicht?“, fragt er. „Ich habe alles an diese Bestie verloren. Ich habe dich an diese Bestie verloren.“
Ich halte einen Moment lang inne. Die Version von mir aus dieser Welt ist im Kampf gegen dieses Monster gefallen? Mit einem Mal verstehe ich.
„Vielleicht hast du recht“, sage ich leise. „Es wäre besser, zu gehen.“
Tali nickt, er wirkt ehrlich erleichtert. „Ich zeige dir den schnellsten Weg zur Ultrapforte, durch die du gekommen bist. Da vorne ist ein Tunnel, der noch fast intakt ist. Er führt genau dorthin.“
Wir wenden uns zu gehen, als die Erde um uns bebt. Die bisher schützende Häuserwand bricht innerhalb von Sekunden in sich zusammen. Schlingking. Es steht genau vor uns.
„Lauf“, schreit Tali panisch. „Worauf wartest du noch? Lauf!“
Wir rennen los, doch die Bestie ist uns dicht an den Fersen. Für sie gibt es keine Hindernisse. Was im Weg steht, wird gefressen. Wir kämpfen uns weiter durch die Stadt und erreichen schon den Tunnel, den Tali erwähnt hatte. Doch anstatt hindurch zu kriechen, bleibt er davor stehen.
„Was ist?“, frage ich. „Kommst du nicht?“
„Nein“, sagt er knapp. „Ich werde Schlingking heute noch besiegen.“
„Du wirst was?“
„Wir sind nicht schnell genug, wenn wir da durchkriechen. Bring dich in Sicherheit. Ich komm schon zurecht.“
Ich stocke. „Aber du kannst doch nicht–“
„Doch. Und jetzt geh bitte. Ich habe nichts mehr zu verlieren.“ Er dreht seinen Kopf zu mir. „Du schon.“ Er wirft einen Pokéball, woraufhin sein Silvarro neben ihm erscheint. „Mein erstes und mein letztes Pokémon. Bitte lass es in deiner Welt nie so weit kommen.“
Ich nicke und krieche los. „Danke.“ Hinter mir höre ich die Geräusche eines Kampfes. Seine Ausmaße und sein Gewicht sind mir kaum bewusst. Hoffentlich schafft er es. Ich wünsche ihm so sehr, dass er dieses Monster besiegen und seine Heimat wiederaufbauen kann.
Als ich bei der Ultrapforte in meine Heimat ankomme, werfe ich noch einen letzten Blick zurück. Ich sehe aufgewirbelten Staub, fliegende Attacken.
Ich hoffe, er schafft es.
Und mit einem Sprung durch das Wurmloch lande ich wieder in meiner Welt. Der Himmel ist blau, der Wald ist grün, die Pokémon sind laut und lebendig.
Alles ist so, wie es sein sollte. Alles ist so, wie es bleiben sollte. Und nun liegt es an mir, dafür zu sorgen.
Ich hole meinen Pokédex aus der Tasche und wähle im Telefonspeicher Talis Nummer aus. Er hebt ab und begrüßt mich so energiegeladen und überaus positiv, wie ich ihn am besten kenne.
„Du wirst nie glauben, was ich gerade erlebt habe“, sage ich. „Aber komm erstmal her. Wir müssen zu Kapu-Riki.“
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