(Aurora Borealis 3rd draft von LilyScribbles)
Hallo und herzlich willkommen zum Vote der Finalrunde des Saisonfinales 2019!
Beim Voting könnt ihr den einzelnen Abgaben zwischen 1 (nicht gut) und 10 (sehr gut) Punkte vergeben. Dabei sind auch halbe Punkte (wie 2.5) möglich. Wichtig ist dabei, dass ihr alle Abgaben bewertet. Da der Wettbewerb anonym ist, vergeben Teilnehmer beim Voten Punkte an alle Abgaben - auch an die eigene. Diese werden bei der Auswertung nicht beachtet. Stattdessen erhaltet Teilnehmer einen Punkteausgleich für ihre Unterstützung. Begründungen sind nicht verpflichtend.
Der Vote läuft bis zum Sonntag, den 26.1., 23:59 Uhr.
Verwendet bitte folgende Schablone für den Vote:
ZitatErschaffen wir nicht im Grunde jedes Mal, wenn wir etwas schreiben, eine ganze neue Welt? Wir beschreiben bizarre Universen mit Gedichten oder bauen uns Welten, in denen wir dann unsere Charaktere die aufregendsten Abenteuer erleben lassen. Und wer kennt es nicht, dass man sich manchmal in eine Fantasiewelt flüchtet, um wenigstens für eine Zeit dem Alltagsstress zu entgehen? In diesem Wettbewerb wird es eure Aufgabe sein, eine derartige Flucht in eine fremde Welt zu ermöglichen - für euch, für eure Leser oder für die Charaktere aus eurere Geschichte. Wichtig ist nur, dass eine fremde Welt in eurem Text eine Rolle spielt - wie diese aussieht, ist aber vollkommen euch überlassen. Gattungstechnisch seid ihr in dieser Runde ebenfalls vollkommen frei und dürft auch gerne verschiedene Textformen miteinander kombinieren.
Ich glaube an das eine Ding.
Ich weiß, es war schon immer so,
ich weiß, es wird auch immer sein.
Ich hab's nie hinterfragt, ich mein,
ich hab dadurch doch nichts verlor'n.
Ich glaub an Überzeugung X.
Fühl mich damit schon immer gut
und überhaupt nicht eingeengt.
Ich fühl mich eher dann bedrängt,
wenn man es hinterfragen tut.
Ich glaub an das, woran ich glaub.
Weil ich so bin, weil ich es will,
weil es sich einfach so gehört.
Und auch, weil ich mir selber schwör,
dass ich das niemals ändern will.
Doch wie wär's, wenn ich's mir erlaub?
Das eine Mal, das ist doch nix,
wenn ich's danach nie wieder bring.
Wenn ein Tabu vor mir zerspringt,
war Neugier im Verführungsmix,
die meine Standhaftigkeit raubt.
Ich wage einen zweiten Schritt
und alles scheint auf einmal neu.
Warum blieb ich dem Alten treu?
Ich nehm neue Erfahrung mit.
Ich glaub nicht an das eine Ding.
Und alles scheint gefährlich, fremd,
doch aufregend, verlockend, neu,
sodass ich mich daran erfreu,
wofür ich mich sonst nur geschämt.
Glaub nicht an Überzeugung X.
Das Neue ist nun meine Welt,
das Alte ließ ich hinter mir.
Und ist's auch nicht das Schlauste hier,
es ist der Weg, der mir gefällt.
Ich glaub an das, woran ich glaub.
Und wenn der Weg, den ich gewählt
hab, mich in mein Verderben führt,
dann weiß ich, dass es daher rührt,
dass ich mich ganz aus freien Stücken
endlich aus alteingefahrenen Mustern befreit hab.
Es war hell und dennoch nicht kalt. Aber auch nicht warm. Das Zimmer strahlte irgendwas dazwischen aus. Jedes Mal, wenn Katja ihren Großvater im Heim besuchte, hatte sie dieses Gefühl. Es war freundlich und irgendwie einladend, aber nicht zuhause.
Als sie an sein Bett trat, versetzte ihr der Anblick ihres Großvaters, der mit eingefallenen Gesichtszügen dalag, zu schwach, um aufzustehen, einen schmerzlichen Stich. Auch das war jedes Mal gleich.
„Hallo Opa“, sagte sie freundlich, setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Und er drückte sie. So wie immer. Katja war sich nicht sicher, ob sie über diese Routine glücklich sein sollte oder verzweifelt, weil das alles war, was ihr von dem Mann geblieben war, der sie großgezogen hatte.
Nachdem sie ihre Eltern früh bei einem Autounfall verloren hatte, waren es immer nur sie beide gewesen. Zwei Seelen in dieser großen Welt. Ihre Großmutter war schon kurz nach Katjas Geburt an Krebs verstorben. Und dennoch hatten sie und ihr Großvater ein schönes Leben gehabt. Er hatte ihr gezeigt, wie man in dieser verwirrenden Welt zurechtkam. Wann immer sie etwas nicht verstand oder nicht weiterwusste, war sie zu ihm gekommen. Und jetzt zerrte seine Demenz ihn fort von ihr. Weit weg, in eine ganz andere Welt, die sie nicht verstand und wahrscheinlich auch nie verstehen konnte. Eine Welt mit unheimlichen Gestalten und fröhlichen Festen. Eine Welt, die sie nicht sehen konnte. Aber immer dann, wenn er ihre Hand nahm, waren sie verbunden – so, als wären ihre Hände die Brücke zwischen den Welten.
„Katja“, sagte er nur, als er sie sah, doch seine Augen waren klar und wach. Zumindest wacher und klarer als sie ihn in den letzten Tagen und Wochen erlebt hatte. Fast hatte sie die Hoffnung schon aufgeben, noch einmal wirklich mit ihm zu sprechen.
„Du – du bist wach“, sagte Katja mit einem Lächeln, auch wenn fast die Worte ‚Du erkennst mich‘ aus ihrem Mund gekommen wären.
„Aber ja“, entgegnete der alte Mann, „auch wenn ich gestern Abend noch lange auf war.“
„Ach ja?“, fragte Katja und Klaus sah die Verwunderung im Gesicht seiner Enkelin aufblitzen. Daraufhin musste er lächeln und begann zu erklären: „Hier war gestern bunter Abend. Und sogar ich bin auf die Bühne gegangen. Ich! Kannst du dir das vorstellen?“
„Ähm, nein“, antwortete Katja.
Ein neues Detail aus seiner Welt. Aber das würde sie ihm nicht sagen. Immerhin würde die schöne Erinnerung ihm nicht schaden.
„Es gab auch Akrobaten“, berichtete Klaus weiter von seinen Erlebnissen, „und einen Clown mit Pferd. Und dann hab ich etwas vorgetragen. Wir hatten sehr viel Spaß.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Und weißt du was, wenn man einen Krüppel vor den Backofen setzt, kommt da noch lange kein Schwarzbrot bei raus.“
„Was?“, fragte Katja verdattert und musste unwillkürlich lachen. „Ich meine, nein, du hast recht. Aber wie kommst du da drauf?“
„Keine Ahnung“, entgegnete ihr Großvater mit matter Stimme und sein Blick wurde wieder etwas leerer, als reichte seine Kraft nur noch für kurze Phasen klarer Gedanken.
Katja wusste nie genau, was sie erwartete, wenn sie ihren Großvater besuchte. Er hatte gute Tage, schlechte Tage und alles dazwischen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass er heute einen guten Tag haben würde – trotz der Halluzinationen vom vergangenen Abend.
Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass der Mensch verlernt habe, einfach nur still zu sitzen und mit seinen Gedanken alleine zu sein. Und nie hätte sie dieser Aussage mehr zugestimmt als während der vielen Male, die sie einfach nur schweigend neben ihrem Großvater saß und seine Hand hielt. Es war während eines solchen Momentes gewesen, dass sie angefangen hat, sich vorzustellen, was er alles sah und dass dies vielleicht ja gar nicht so viel anders war, als das, was sie sah. Dass es vielleicht einfach nur eine andere Welt war. Die Menschen glaubten an so viel; warum dann nicht auch an das?
„Wer ist das?“, fragte Klaus nach einiger Zeit, als er hinter seiner Enkelin eine Gestalt entdeckte.
„Wer?“, fragte Katja reflexartig, als sie sich zum Fenster wand und niemanden entdeckte. „Ich weiß es nicht, Opa“, sagte sie dann, „ich sehe da niemanden.“
„Aber das heißt nicht, dass keiner da ist“, beharrte Klaus.
„Nein“, stimmte seine Enkelin dann zu.
„Nur weil du es nicht siehst, heißt es nicht, dass ich falsch liege.“
„Nein“, wiederholte Katja. „Du siehst mehr als ich.“
„Eine andere Welt“, erinnerte sich Klaus an die Gespräche, die sie schon darüber geführt hatten.
„Ja, genau, eine andere Welt“, sagte Katja mehr zu sich selbst. „Ich würde gerne irgendwann darüber schreiben.“ Die Worte waren aus ihrem Mund gekommen, ohne dass sie es wirklich beabsichtigt hatte, also setzte sie noch eine Erklärung hinterher: „Über das hier, über uns beide und über die Welt, die nur du sehen kannst. Ist das okay für dich?“
Wieder starrte ihr Großvater an Katja vorbei, beobachtete die fremde Person, den sie nicht sehen konnte, und Katja war sich nicht sicher, ob er ihre letzten Worte überhaupt noch gehört hatte.
„Elke“, flüsterte er.
„Nein, Opa, ich bin -“, versuchte Katja ihm zu sagen, dass sie nicht ihre Mutter war, als die Erkenntnis sie mit einem Schlag traf. Abrupt drehte sie sich um, aber natürlich sah sie nur eine Leere weiße Wand. „Wo ist sie?“
„In der Ecke“, antwortete Klaus, konnte aber seine Augen nicht von seiner Tochter lassen. Seine Stimme kam nur schwerfällig aus seinem Hals, auch wenn er nicht genau wusste, warum. Vielleicht waren es die ihn überwältigenden Emotionen, die sie brechen ließen. Ein Teil von ihm hatte immer gewusst, dass sie nicht mehr da war, jedes Mal, wenn er sie und Katja verwechselt hatte. Umso überwältigender war es, sie in diesem Moment sehen zu können.
Katjas Augen füllten sich mit Tränen. ‚Du weißt, warum sie hier ist, oder?‘, fragte sie in Gedanken, weil sie nicht die Kraft fand, es auszusprechen. Sie verstärkte den Druck ihrer Hand ein wenig. Ihre Stimme war kaum mehr als das Rauschen des Windes in der Ferne. „Du solltest zu ihr gehen.“
Es war eine Erkenntnis, die Katja immer Trost spenden würde. So sehr ihr Großvater ihr auch fehlte, sie wusste, dass er wieder mit seiner Familie vereint war.
Für Klaus wurde es immer schwieriger, die Augen offen zu halten. Alles was er wollte, war die lächerliche Strecke zwischen sich und seiner Tochter zu überwinden, aber er hatte es seit Tagen nicht geschafft, aus dem Bett aufzustehen. Wenn er geschlafen hatte, würde er wieder mehr Kraft haben. Also gab er dem Schlaf schließlich nach, ohne dabei Katjas Hand loszulassen. Er genoss ihre Nähe.
Er konnte nicht lange geschlafen haben, denn als er die Augen wieder aufschlug, saß Katja noch immer neben ihm. Nur anstelle seiner Tochter war eine andere Gestalt vor ihm aufgetaucht.
„Hey“, sagte er vorsichtig, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, seine Gedanken waren so klar, wie schon lange nicht mehr, „wenn du über uns schreibst, solltest du auf jeden Fall auch diesen Geist einbauen. Er ist bräunlich mit gelben Streifen und hat nur ein rotes Auge. Aber irgendwie wirkt er gar nicht unheimlich; fast freundlich.“
„Sie kann dich nicht hören“, erwiderte der Geist.
Verwundert starrte Klaus ihn an. Es war das erste Mal, dass jemand aus der anderen Welt mit ihm sprach. Dann drehte er sich zu seiner Enkelin. Sie saß nicht mehr einfach nur an seinem Bett. Sie lag über ihn gebeugt und weinte. Es war nicht nur so, dass sie ihn nicht mehr hörte, sie konnte ihn auch nicht mehr sehen. Es selbst war Teil dieser anderen Welt geworden. „Was passiert jetzt?“, fragte er den Geist, als ihn eine Welle der Angst überkam.
„Jetzt bringe ich dich zu deiner Familie“, entgegnete dieser und reichte Klaus seine Hand.
Nur diese wenigen Worte sorgten dafür, dass sich die Angst in Klaus‘ Herz in Freude wandelte. Nur der Anblick seiner Enkelin versetzte ihm einen Stich.
Er bedeutete dem Geist, dass er noch einen Moment bräuchte und beugte sich zu Katja hinunter. „Du weißt doch“, flüsterte er ihr ins Ohr, „nur weil du etwas nicht siehst, heißt das nicht, es ist nicht da.“ Und auch in seinen Augen sammelten sich Tränen, als er sich bereit machte, dem Geist zu folgen. „Ich hab dich lieb, meine Kleine.“
Und wann immer Katja an diesen Moment zurückdachte, war sie sich sicher, dass ihr Großvater ihre Hand noch einmal gedrückt hatte, ehe sie sich von ihm löste, wie um ihr zu sagen, dass alles gut werden würde. Dass er noch bei ihr ist. Nur nicht mehr hier, sondern in der Welt, die wir nicht sehen.
„Suchst du den Pfad, der dorthin führt,
Wo dein Leben schließlich endet?
Suchst du die Welt, so unberührt,
Die dein Schicksal doch nicht wendet?“
Der Ort, an den Alicia nach all den Jahren zurückgekehrt war, war nicht wiederzuerkennen, und auf eine perfide Art doch vertraut, wie sie bemerkte. Mehr denn je schienen die Orte, an denen sie vorbeikam, den Beschreibungen aus dem Gedicht zu ähneln. In ihrer Jugend hatte sie sich darüber gewundert, dass Manches mit der Wirklichkeit nicht exakt übereingestimmt hatte, doch jetzt verstand sie es: Das Gedicht hatte sich nicht auf die damalige Zeit bezogen, sondern auf die heutige.
Sie brauchte die Strophen gar nicht mehr in dem alten und zerfledderten Tagebuch nachlesen, das sie wie einen wertvollen Schatz fest umklammerte. Sie kannte sie auswendig – zumindest jetzt wieder. Es war seltsam, wie sie sie als Teenagerin gekannt, dann vergessen und sich jetzt wieder an sie erinnert hatte. Sie hatte das Gedicht nicht einmal mehr komplett nachlesen müssen, sondern nur die erste Strophe, und schon war die Erinnerung wieder dagewesen.
„Entlang geht’s an dem alten Fluss,
Vorüber an dem schwarzen Baum,
Nur weg von diesem Weltverdruss,
Hin zu dem Ort aus deinem Traum.“
Sie hatte nie verstanden, warum der Fluss „alt“ sein sollte. Jetzt sah sie es: Früher war es ein zwar nicht sonderlich tiefer, aber mehrere Meter breiter Bach gewesen, durch den das Wasser über abgeschliffene Kiesel strömte. Im Vergleich dazu wirkte das, was Alicia jetzt sah, wie ein schwächliches Rinnsal, wie ein Schatten des Flusses, dessen Murmeln sie früher so gerne gelauscht hatte, wenn sie diesen Weg über das Feld genommen hatte. Der Fluss war alt geworden und schleppte sich nur noch gerade so vor sich hin.
Früher war hier auf dem Feld grünes Gras gewachsen, doch jetzt stapfte Alicia nur über vertrocknete bräunliche Halme, denen sie vermutlich damit das letzte bisschen Leben nahm, das noch in ihnen gesteckt hatte.
Und dann war da der Baum – eine freistehende kleine Fichte neben dem Bachlauf. Alicia war sie nie wirklich schwarz vorgekommen, und sie hatte damals achselzuckend entschieden, dass es aber nun einmal der einzige Baum weit und breit war und daher gemeint sein musste. Jetzt war der Baum umgestürzt, trug keine Nadeln mehr und sein Stamm wirkte verdorrt, sogar verbrannt. Hatte hier ein Feuer gewütet? Oder hatte jemand den Baum einfach zum Spaß angezündet?
Alicia setzte sich einen Moment auf den Baumstamm und ließ den Blick über die Ebene schweifen. War das wirklich der Ort, den sie als Kind und in ihrer Jugend so sehr geliebt hatte? Wo war alles hin verschwunden, das saftig grüne Gras, die krähenden Rabenvögel, der manchmal zu starke Wind? Wo war das bisschen an Magie, das sie auch in ihrer eigenen Welt einst hatte finden können?
Alicia schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Alles ist tot, dachte sie. Und ich bald vielleicht auch. Aber das ist egal. Es war vermutlich so vorherbestimmt, nur wusste ich das nicht. Ich will sie nur noch einmal vorher wiedersehen.
Sie stand von dem toten Baumstamm auf und unterdrückte ein leichtes Schwindelgefühl, das sie dabei überkam. Sie musste weiter.
Nachdem sie dem Verlauf des Baches einige Minuten gefolgt war, konnte sie in der Ferne einen Felsen erspähen.
„Erreichst du nun den Vogelfels,
In Fantasie der Eule gleich,
Dann, ohne dass du dich noch hältst,
Fällst du hinunter in ihr Reich.“
Sie hatte den Felsen früher aufmerksam untersucht und schließlich eine eingeritzte Eule in seinem unteren Teil gefunden. Jetzt allerdings war die Form des Felsen verändert worden, und wenn man seine Fantasie ein wenig anstrengte, dann glich er selbst diesmal einer Eule. Wieder einmal stimmte das Gedicht in der Gegenwart besser als in der Vergangenheit. Wer hatte die Eule überhaupt in den Felsen geritzt? Die Autorin des Gedichts? Auf diese Frage würde sie wohl nie eine Antwort erhalten – das Gedicht hatte sie schließlich auch nur als Zettel in einem alten Konversationslexikon aus der Stadtbibliothek gefunden.
Alicia trat an den Felsen, legte ihre Stirn an das von der Sonne heiße Gestein und schloss die Augen. Bitte, dachte sie, nur noch einmal …
Und plötzlich war die Hitze verschwunden. Alicia öffnete die Augen und sah sich um. Das war der Ort, den sie so vermisst hatte, ohne es wirklich zu wissen. Für einen Moment war sie überwältigt von der Andersartigkeit, die sie hier sah. Sie stand vor eine Baumgruppe aus Bäumen mit blauer Rinde und blauen Blättern. Auf ihr Gesicht fiel eine Art von Sonnenschein, der sich irgendwie sanfter anfühlte als die heißen Strahlen der Sonne ihrer eigenen Welt.
„An jenem unbekannten Ort
Sind Bäume blau und Flüsse rot
Und lebt auch deine Welt hier fort,
Erscheint dir hier dein eig’ner Tod.“
„Silana?“, fragte Alicia und stutze kurz. Irgendwie hörte sich ihre eigene Stimme anders an.
Hinter einem der marineblauen Bäume trat ein älteres Mädchen hervor, vielleicht sechzehn Jahre. Sie hatte ein schönes makelloses Gesicht und schulterlange kastanienbraune Haare. „Du bist zurück“, sagte sie. Ihre Stimme klang neutral, als würde sie einen simplen Fakt feststellen, ohne ihn zu bewerten. Genau so gut hätte sie sagen können, dass sich die Erde um die Sonne drehte.
„Ja“, sagte Alicia. Sie war nervös. „Du … du bist keinen Tag gealtert.“
„Du doch auch nicht“, erwiderte Silana.
„Was? Ich bitte dich, ich bin …“ Alicia verstummte. Ihre Stimme. Das war nicht die heisere, kratzige Stimme einer alten Frau, sondern ihre Stimme, wie sie sich früher angehört hatte. Sie hielt sich ihre Hände vor die Augen: Die Falten auf ihren Handrücken waren verschwunden. Sie betastete ihr Gesicht und stellte fest, dass ihre Haut wieder so glatt war wie in ihrer Jugend. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Sie war wieder jung.
„Ist das eine Illusion?“ fragte sie. „Oder bin ich wirklich …“
„Diese Frage hat hier keinen Sinn“, antwortete Silana. Noch immer wirkte sie emotionslos, gar nicht wie das fröhliche und lachende Mädchen, das Alicia damals kennengelernt hatte.
Alicia schüttelte den Kopf. „Hör zu, es tut mir leid, dass ich … dass ich so lange nicht hier war.“
Silana lehnte sich an den Baum, hinter dem sie hervorgekommen war, und rutschte dann an seiner Rinde hinunter, bis sie auf dem Boden saß. „Setzt du dich zu mir?“, fragte sie.
Alicia setzte sich neben ihr, an den Baum gelehnt. Der Untergrund war von weichem, ebenfalls blauem Moos bedeckt.
Alicia war Silana so nahe, dass sie den Duft wahrnehmen konnte, der von ihr ausging. Er erinnerte an eine Mischung aus Jasmin und Lavendel.
„Für mich warst du nie lange weg“, sagte Silana. „Eigentlich waren es nur Sekunden.“ Alicia starrte sie an, und ihre Blicke trafen sich. Silana hatte große tiefbraune Augen, die zu ihren Haaren passten. In ihnen lag etwas, das Alicia nicht ausmachen konnte. War es Traurigkeit?
„Ich habe alles vergessen“, flüsterte Alicia. „Alles. Nachdem ich das letzte Mal zurückgegangen bin, ist irgendwie alles verblasst. Ich habe mein Tagebuch weggestellt und nie mehr darin geschrieben oder hineingesehen. Aber vor ein paar Tagen hatte ich dann diesen Traum, und ich habe mich wieder erinnert – nicht ganz, aber ich wusste, dass ich in mein altes Tagebuch schauen musste.“
Sie schüttelte wieder den Kopf. „Wie konnte ich das alles hier vergessen? Wie konnte ich dich vergessen? Ich meine, wie …“
„Das war mein Werk“, sagte Silana. „Ich habe einen Zauber über dich gelegt, damit du alles vergisst.“
Ihre Worte trafen Alicia wie ein heftiger Schlag gegen den Kopf. Sie fühlte sich für einen Moment benommen. Alles schien sich um sie herum zu drehen. „Was? Aber …“, begann sie, brach aber wieder ab. Mit einem Mal kochte Zorn in ihr hoch. „Wieso?!“, rief sie so laut, dass sie beinahe selbst überrascht war.
„Ich dachte, es würde dich beschützen“, sagte Silana.
„Was?“
„Die Prophezeiung, die dich hergeführt hat, sprach von deinem Tod. Ich hatte Angst, dass dir hier etwas zustoßen würde und dachte, dass du sicher bist, wenn du nicht mehr herkommst.“
Alicia öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Sie spürte, wie Silana nach ihrer Hand tastete, und zog sie weg. „Jahrzehntelang“, sagte Alicia schließlich, „habe ich immer gedacht, dass mir irgendetwas fehlt. Ich wusste nicht, was. Ich wusste nur, dass ich nicht vollständig war.“
Sie sah Silana an und war überrascht, Tränen auf ihrem Gesicht zu sehen. „Es tut mir leid“, sagte diese.
„Ja, sollte es“, bemerkte Alicia.
„Alicia“, sagte Silana, „ich habe dich geliebt. Und ich verstehe, wenn du mich hasst …“
„Ich dich hassen? Ich habe dich doch auch geliebt, verdammt nochmal! Deswegen …“ Alicia atmete tief durch und fuhr dann etwas ruhiger fort: „Deswegen macht es mich ja so wütend. Deswegen bin ich überhaupt wieder zurückgekommen, vor allem jetzt, wo …“ Sie konnte nicht weitersprechen. In ihrer Kehle brannte es. Die Tränen schossen aus ihren Augen, als alles wieder hervorbrach, was sie bisher verdrängt hatte. Sie schluchzte und schüttelte sich dabei heftig. Als Silana sie in den Arm nahm, wehrte sie sich nicht. Sie wollte eigentlich, aber in dem Moment war sie nur dankbar dafür, dass irgendjemand da war.
Es dauerte Minuten, bis sie sich wieder beruhigte und sanft aus Silanas Umarmung befreite. Sie schniefte einmal heftig. „Meine Welt stirbt“, sagte sie rundheraus.
„Was meinst du damit?“, fragte Silana.
„Kurz gesagt, sie hat sich aufgehitzt“, antwortete Alicia. „Und mit der Zeit haben sich die Leute dann um die Orte gestritten, an denen man noch gut leben konnte. Krieg. Ganze Länder sind zusammengebrochen, Lebensmittel und Trinkwasser wurden knapp. Tiere und Pflanzen sind verendet. Das Leben ist jetzt ein ewiger Kampf.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über das tränennasse Gesicht. „Es gibt keine Hoffnung mehr. Ich bin mittlerweile zu alt, um noch wirklich überleben zu können. Und ich dachte … Ich dachte, ich könnte dich noch einmal sehen. Also, nachdem ich mich an das Hier und an dich erinnert hatte, versteht sich.“
„Das Hier“ war der Name, den sie beide dieser Zwischenwelt gegeben hatten. Alicias Blick ging umher. Dieser Ort wirkte wie eine große Blase, mit einem kreisrunden Firmament. Früher, wenn Silana und sie umhergewandert waren, hatten sie beide festgestellt, dass sie immer wieder am Ausgangspunkt ankamen, selbst wenn sie noch so stur in eine bestimmte Richtung gingen. Sie sahen immer die gleichen Sachen: Die blaue Baumgruppe, das blaue Moos, die zwei roten Bäche, die sich in einem einzigen Strom vereinigten, der sich dann später wieder in die Bäche teilte, aus denen er entsprungen war. Auch jetzt konnte Alicia das Plätschern hören und fragte sich, ob der Fluss noch immer zwischen den verschiedenen Rottönen wechselte, so wie er es früher getan hatte.
Ihr Blick ging zurück zu Silana. „Ich kann nicht mit in deine Welt kommen, oder?“
Silana schüttelte den Kopf. „Wir können nur im Hier oder in unserer eigenen Welt sein. Ein Übertritt in die Welt der jeweils anderen ist nicht möglich. Aber wenn deine Welt stirbt, dann weiß ich nicht, ob das Hier weiter existieren kann.“
„Nun, sie stirbt ja nicht wirklich. Sie wird nur unbewohnbar.“
„Ich weiß nicht, ob das einen Unterschied macht“, sagte Silana traurig. „Wenn du meinst, dass sie stirbt, stirbt sie vielleicht wirklich.“
Wieder tastete ihre Hand nach der von Alicia, und diese ließ es diesmal geschehen, dass Silana sie ergriff.
„Vielleicht sterbe auch ich“, sagte Alicia. „Das Gedicht hat es prophezeit, wie du gesagt hast.“
„Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es nicht so ist. Aber ich weiß nicht, was passieren wird.“
Alicia lehnte ihren Kopf an Silanas Schulter. Sie spürte die Wärme, die von ihrem Körper ausging. „Vielleicht sterbe ich aber auch nicht jetzt. Das Gedicht nennt ja keinen Zeitpunkt. Aber ich glaube, es ist mir sowieso egal. Was mit mir passiert, meine ich. Ich bin alt, mein Leben hat ohnehin keinen Sinn mehr.“
Mit einem Mal frischte eine sanfte Brise auf. Es war so lange her, dass Alicia gefühlt hatte, wie ihr der Wind sacht durch die Haare streichelte. Sie sah zum Himmel der Zwischenwelt und zur goldenen Sonne hinauf, die wie an eine kreisrunde Decke gemalt wirkte.
„Möchtest du hierbleiben?“, fragte Silana.
„Ja“, flüsterte Alicia. „Alles ist besser als … das.“ Sie seufzte. „Tut mir leid, dass ich dich vorhin so angeschrien habe.“
„Du hattest jedes Recht dazu“, erwiderte Silana. „Mir tut leid, was ich dir angetan habe.“
„Es muss dir schwer gefallen sein“, sagte Alicia und seufzte noch einmal. „Hättest du es doch einfach gelassen …“
Sie blieben eine kurze Zeit einfach so sitzen. Zu hören war nur das leise Murmeln des Flusses, der irgendwo in der Nähe floss, und hin und wieder ein Zwitschern wie von Vögeln. „Gibt es hier jetzt Vögel?“, fragte Alicia schließlich. „Ich glaube, früher gab es keine.“
„Ich habe keine gesehen“, antwortete Silana. „Nur gehört.“
„Vielleicht sind sie unsichtbar.“
„Das ist möglich.“
„Silana?“
„Ja?“
„Ich bin müde.“ Tatsächlich fühlte Alicia, wie ihre Augenlider schwer wurden. Sie hob den Kopf, sah Silana kurz an und küsste sie dann. Es war ein langer Kuss, und Alicia genoss einfach für einen Moment dieses Gefühl, das ihr so lange gefehlt hatte. Sie fühlte, dass Silana ähnlich dachte. Vielleicht waren ihr die Sekunden, die Alicia fort gewesen war, wie eine Ewigkeit vorgekommen?
Als sie sich voneinander lösten, hatte Alicia das Gefühl, als könnte sie einschlafen. Es war so übermächtig, dass sie sich flach mit dem Rücken auf das weiche Moos legte.
„Ich glaube, ich muss kurz schlafen“, murmelte sie und gähnte. „Bist du hier, wenn ich wieder aufwache?“
Silana nickte. „Ich gehe nicht weg.“ Sie legte sich neben Alicia.
„Erinnerst du dich noch an den Rest vom Gedicht?“, fragte diese.
„Ja“, sagte Silana und fügte dann flüsternd hinzu:
„Die deine Welt, vor der du fliehst,
In der du Hoffnung nicht mehr siehst,
Vereint sich hier mit meiner Welt –
Bin ich’s nun, die dich hierbehält?“
„Die deine Welt, zu der ich floh,
In der die Menschen wurden froh,
Vereint sich hier mit meiner Welt,
In der mich nunmehr gar nichts hält.“
„Zwei Welten sind’s, und doch vereint,
Zwei Menschen sind’s, und einer weint.
Gemeinsam schufen sie das Hier,
Doch was wird hier aus dir und mir?“