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In diesem Thema habt ihr eine bestimmte Anzahl an Punkten zur Verfügung, die ihr den Texten im nächsten Beitrag geben könnt. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl ausreichend begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten.
Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf Medaillen. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zu den Wettbewerben.
Zitat von AufgabenstellungDas Thema dieses Wettbewerbs lautet:
Freie Erzählung
Wir nähern uns dem Ende der diesjährigen Wettbewerbssaison und möchten euch deshalb noch einmal die Möglichkeit geben euch auszuleben. Deshalb gibt es bei diesem Wettbewerb keine Themenvorgabe -- keine Einschränkungen! Eure einzige Aufgabe besteht darin eine Erzählung oder Kurzgeschichte zu schreiben. Ob ihr in dieser Pokémon vorkommen lasst oder nicht, steht euch ebenfalls frei.
Ihr könnt 7 Punkte verteilen, maximal 4 an eine Abgabe.
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Schreibt in die Schablone bitte ausschließlich die Zahlen eurer ID und der Punkte ohne zusätzliche Begriffe. Achtet dabei darauf, bei der Schablone zwischen Doppelpunkt und ID/Punktzahl ein Leerzeichen zu machen, damit die Auswertung über den Voterechner ohne Probleme erfolgen kann. Wenn ihr nicht wissen solltet, wie ihr eure ID herausfindet, könnt ihr dies unter anderem hier nachlesen.
Der Vote läuft bis Sonntag, den 15.10.2017, um 23:59 Uhr.
Pokémon
„Was ist das?“
„Ich habe mit dem Fetal Doppler den Herzschlag ihres Kindes verstärkt, um zu hören, ob alles in Ordnung ist.“
„U... und?“
„Es hört sich gut an, sehr schön laut und kräftig, ich vermute daher, dass Sie sich mindestens in der zwölften Schwangerschaftswoche befinden, gute Frau. Wollen Sie mit dem Ultraschall fortfahren?“
Aiko hatte Akito noch nie weinen sehen, generell hatte sie nur in seinem Blick ahnen können, hoffen, dass er sie liebte und nicht verlassen würde. Heute schien dieser Mann jede Träne zu weinen, die er in seinem Körper hatte, vor lauter Glück.
Auf einmal war da ein kleines Mädchen. Nicht auf einmal, es war nur alles so schnell gegangen, dass es sich für ihn so anfühlte. Für seine Freundin, die neben ihm lag, erschöpft atmete und trotzdem wachsame Blicke auf das kleine Bündel in seinen Armen warf, musste es sich wie die Unendlichkeit angefühlt haben. Aber in ihrem Blick lag nicht Reue dafür, dass sie sich diese Schmerzen aufgeladen hatte, kein bisschen. Da lag Glück, das er sich bis jetzt nicht hatte vorstellen können.
Sie hatten eine kleine, rote Kartoffel zur Welt gebracht. Ihre kleine, rote Kartoffel. Die schönste, kleine, rote Kartoffel der Welt. Mit der lautesten Stimme, die er je gehört hatte. Sie war federleicht, im Gegensatz zu der Verantwortung, die jetzt auf ihm und Aiko lag. Wie versorgt man dieses kleine Lebewesen, ohne ihm irgendwie weh zu tun?
„Akito?“, flüsterte Aiko neben ihm. Er war gerade wieder eingeschlafen, nachdem er das Wunder wieder in sein Bett gelegt und beruhigt hatte. Sie schrie schon wieder. Mit einer Kraft, gegen die ein Krawumms alt aussah. Und trotzdem hörte sie seine Stimme, so schien es jedenfalls, als er anfing, mit ihr zu reden, bevor er aufstand und sie aus dem Kinderbett zu sich holte. Als er sie auf dem Arm hatte, war nur noch ein glucksender Laut zu hören. Neben diesem kleinen Pochen ihn ihr, das ihn selbst beruhigte.
„Frechzigzachs“, murmelte der Exkriminelle lächelnd, strich über die rosa Wangen seiner Tochter. Ein einziges Wunder. Anders konnte er es sich nicht erklären, wie in so wenig Kind so viel Nahrung rein und raus kommen konnte. Noch dazu mit einem Geruch, den er noch nicht mal mit seinen Stinkbomben in seiner alten Schule erreicht hatte. Vielleicht sollte er diese mit seiner Tochter besuchen, als Rache für seine schlechten Mitarbeitsnoten damals. Er entschied, sein Kind dieses Mal, wirklich das letzte Mal, bei sich und Aiko schlafen zu lassen. Wirklich. Das wirklich letzte Mal. Während er sich das einzureden versuchte, strich er mit zwei Finger sanft hinter den Ohren des Babys entlang, das genießerisch die Augen schloss. Schließlich fing er an, ein Lied zu summen, spürte dabei, wie sich die Hand seiner Freundin fester um seine unbeschäftigte Hand schloss.
Es gab nicht viele Menschen, die Akito nicht nervig fand, egal, was sie taten. Seine herzallerliebsten Kollegen gehörten nicht dazu. Und er war froh, ihrem Geschwätz zu entkommen. Lieber lachte er mit seiner Tochter, als über sich lachen zu lassen. Er war, noch mit seinen Gedanken beschäftigt, schließlich an der Wohnungstür angekommen, hörte schon von drinnen Aikos Rufen.
„Nicht, Nein. Das kannst du nicht haben, Süße.“
Vorfreudig schloss er die Tür auf, öffnete das Portal in eine Welt des Chaos' die sich nur Menschen eröffnet, die mobile Kinder haben. Und ihre Tochter gehörte definitiv dazu.
„Hey meine Kleine, Papa ist wieder da“, rief er, beugte sich nach unten, um sie zu empfangen, das Lachen in seiner Stimme kostete ihn nichts, doch für sie bedeutete es alles. Er sah, wie ihr Gesicht rot wurde, ihre Fäustchen sich ballten, nicht bemerkend, dass sie den kleinen Finger ihrer Mutter noch umschlossen.
Und dann lief sie los.
Nun gut. Sie stolperte in seine Arme. Aber ohne Hilfe. Ihre kräftigen und doch irgendwie wabbeligen Beine hatten den Weg zu ihm geschafft, eine weitere Wundertat. Wie schon ihr Sammelbegriff für die beiden Personen, die sie wohl am meisten mochte. Nicht dass sie groß eine Wahl hatte.
„Mapa!“
Noch fester drückte er das kleine Mädchen an sich, gerührt von dem, was sie eben ganz alleine geschafft hatte, es war unglaublich, wie so ein kleines Herz so kräftig gerade für ihn schlagen konnte. Sie war unglaublich.
Manchmal vermisste er die Zeit, in der das Herz seiner Tochter fast nur für ihn und ihre Mutter geschlagen hatte, dann wieder war er über jedes einzelne Lächeln dankbar, das sie ihm schenkte, oder ihrem Team. Ihre kleine, rote Kartoffel war zu einem wunderschönen, jungen Mädchen herangewachsen und liebte das Pokémontraining. Mehr noch als sie beide. Und sie hatte ein Gespür dafür. Schon einige Zeit lang hielt er sich in Kämpfen nicht mehr zurück, weil er um ihre Stärke wusste, die sie mit ihrer Liebe und Konzentration kombinierte. Manchmal wirkte sie noch ungeduldig, aber die Erfahrung würde sie auch das lehren. Irgendwie. Irgendwie beschrieb ihren Erziehungsstil eigentlich ganz gut, obwohl er eigentlich stundenlang in Erziehungsratgebern gelesen und sich die Tipps von anderen Eltern angehört hatte. Das meiste war intuitiv. Unterstützend. Und doch irgendwie ganz anders, vor allem, wenn er seine ironischen Kommentare zur Gesellschaft etwas zu laut ausgesprochen hatte und sie erklären musste. Es stand in diesen komischen Flyern, das man seinem Kind nicht unbedingt alles schonungslos erzählen sollte, weil sie das verschreckte, aber sowohl er als auch Aiko waren in dieser Richtung aufklärerisch unterwegs, auch wenn die Kleine ihnen das nicht wirklich glaubte. Zum Glück.
„Papa, ich hab Angst vor der Schule“
„Vor der Schule brauchst du keine Angst haben, die ist sogar erdbebensicher, ich habs... getestet.“
„Papa! So mein ich das nicht. Da sind neue und andere Kinder. Was, wenn die mich nicht mögen?“
„Dann verpassen sie ihn ihrem Leben die Möglichkeit, eine tolle Person kennen zu lernen.“
„Ach Papa... danke.“
„Außer wenn es um Jungs geht, halt dich von denen fern, die sind gefährlich.“
„Und was, wenn da ein Junge genau so toll ist, wie du?“
„... Oh Arceus, ich muss dich in Sicherheit sperren vor denen.“
„Papa, bitte... ich weiß nicht, ob ich gut genug für diese Trainerschule bin“
„Aber ich weiß es. Du bist genau die eine Trainerin unter ihnen, die eines Tages Champ wird.“
„Danke.“ Plötzlich lagen ihre Arme um seinen Körper, erdrückten sie fast. Er spürte es wieder. Ihr Herz schlug in der Brust. Dann ließ sie seines fast anhalten vor Glück.
„Ich hab dich lieb, Papa.“
Auf einmal war da eine erwachsene Frau, wo eben noch seine kleine, rote Kartoffel war. Ihr wuscheliger, blauer Haarflaum war zu einer langen Mähne geworden, ihre Augen, die ihm zu Beginn noch dunkelblau entgegen geleuchtet hatten, waren smaragdgrün, ihr Körper war stark, trotzdem hatte er für ihn nicht seine Zerbrechlichkeit aus der Babyzeit behalten. Noch immer konnte er nicht glauben, dass er nächtelang mit ihr auf dem Arm herumgelaufen war, um sie zu beruhigen, bald würde allein schon ihre Anwesenheit Millionen Menschen beruhigen. Irgendwie hatten sie einen Champ erzogen, irgendwas mussten sie richtig gemacht haben. Oder sie hatten noch mehr Glück, als sie sich vorstellen konnten. Vielleicht war ihre Tochter auch schon perfekt gewesen, als sie geboren war. Quasi wie Fertigessen aus der Dose. Nur als Fünfsternemenü. Sie hatten es nur noch aufwärmen müssen. Und doch war sie ja irgendwie ein Teil von ihnen, irgendwelche ihrer Eigenschaften irgendwie vermischt. Natürlich war es auch anstrengend gewesen, vor allem in dieser gewissen Phase,in der er garantiert nicht so anstrengend gewesen war. Er hatte halt nur versucht, die Welt zu zerstören. Es war sehr viel schlimmer, sich einfach auf irgendwelche Parties zu schleichen, deren Zutrittsalter eigentlich noch zu hoch lag und das ohne elterliche Erlaubnis. Oder ihre Kleidung. Ein Weltraumanzug bedeckte wenigstens die prekären Körperteile, aber ein Bikini? Am liebsten hätte er an diesem Strandausflug jedem glotzenden und geifernden Typen die Augen blau gehauen, doch in der Zeit hätte sich ja ein anderer seiner Tochter nähern können.
Aber es war alles gut gegangen. Irgendwie, mit allem. Sie lächelte, drückte ihre beiden Eltern an sich. Und er erwiderte diese Umarmung, noch einmal wollte er das spüren, was ihn zu einem völlig anderem Menschen gemacht hatte. Es schlagen hören. Ihr kleines Herz.
Wie der wallende Stoff eines fein gewebten Tuches flackerte das Licht über den Waldboden, ließ Wurzeln, Stämme, Sträucher, Farne, altes Laub und so manch weiteren Bestandteil der Flora im Licht des sich neigenden Tages erstrahlen.
Das spontane Konzert verschiedener Singvögel mischte sich mit dem allgegenwärtigen Knacken und Rascheln im Geäst zu einer unvergleichlichen Symphonie, deren Regeln für kaum ein sterbliches Wesen nachvollziehbar sind.
Krisst sog gierig die würzige Luft des Haines in seine Nüstern und krallte die klauenbewehrten Zehen ungeduldig in den weichen Erdboden. Der junge Raptor hatte sich still im Gebüsch verborgen, doch sein in verschiedenen Grüntönen schillerndes Federkleid hob und senkte sich nervös. Er beschloss, noch einen Moment länger zu warten, bevor er sich seinem Auftrag gemäß in Bewegung setzen würde.
Das Reptil maß nicht ganz die Größe eines durchschnittlichen Menschen und erinnerte eher an einen überdimensionalen Truthahn als an ein gefährliches Raubtier. Feine Daunen überzogen seinen ganzen Körper und an den kurzen Armen zeigten sich zum Fliegen wenig geeignete Schwungfedern, während sein langer Echsenschwanz von einem prächtigen, gefiederten Fächer geschmückt wurde. Doch die langen, stahlgrauen Krallen an Fingern und Zehen ließen keinen Zweifel aufkommen, dass mit diesem Wesen nicht zu spaßen war. Die wie kleine Dolche im Maul aufblitzenden Reißzähne taten ihr Übriges, um den Eindruck der Harmlosigkeit schnell zu vertreiben, den der erste Eindruck auferlegte. Umso bemerkenswerter war die Hartnäckigkeit, mit der andere vernunftbegabte Rassen Krisst und seine Artgenossen zu unterschätzen pflegten.
Menschen im Besonderen.
Krisst lauschte noch einmal sorgfältig den verschiedenen Tönen, die zu ihm in das verschlungene Dickicht eines Brombeerstrauches drangen. Als er die Lage für sich zufriedenstellend erfasst hatte, schlich er mit grazilen Bewegungen zwischen den mit nur noch wenigen Früchten beladenen Zweigen hervor. Wieder blähte er die Nüstern – der Geruch nach verbranntem Holz und Schweiß, den die Menschen verströmten, war unverkennbar.
Umso mehr Vorsicht war geboten.
Mit sicheren Schritten glitt der Späher beinahe wie ein Schatten über verräterische Wurzeln und zerbrochene Äste hinweg und um zu dichtes Gestrüpp herum, dass durch ein unbedachtes Rascheln seine Anwesenheit hätte verraten können. Der geübte Jäger pirschte sich näher und näher an einen steilen Abhang heran, der wenige Schritte vor ihm wie eine tiefe Wunde in das Fleisch des Waldes schnitt. Krisst duckte sich tiefer, schob sich immer vorsichtiger, immer langsamer an den Ort seines Interesses heran und tauchte schließlich in ein breit gefächertes Wacholderdickicht ein, das bis an den Rand der Böschung reichte und in dem ihm sein Gefieder perfekte Tarnung verschaffte.
Mit schräg gelegtem Kopf blickten seine goldenen Reptilienaugen auf die schweigende Gesellschaft hinunter, die tatsächlich hier ihr Lager aufgeschlagen hatte.
Krisst zählte fünf Menschlinge unterschiedlichen Geschlechts, die sich dicht um ein kleines Feuer versammelt hatten, und ein Jungtier, dass sich dicht an eines der Weibchen schmiegte und mit fliehendem Blick seine Umgebung maß. Doch es konnte durchaus sein, dass sie sich für verborgene Wachposten entschieden hatten und die Gruppe in Wahrheit größer war. Er legte den Kopf noch etwas schiefer. Die Kleidung des Grüppchens wirkte zerrissener, als er es von ihrer Art kannte. Mitgenommen, schmutzig und erschöpft sahen diese Menschen aus. Und resigniert … als ob sie vom Schicksal derart gebeutelt worden waren, dass sie kaum noch kümmern konnte, was hier in der Fremde mit ihnen geschehen würde.
Er witterte.
Ja, verängstigt waren sie definitiv auch.
Die Echse machte außerdem ein schmächtiges Huftier aus, das mit zusammengebundenen Beinen an einer nahen Birke stand und nervös mit seinen langen Ohren zuckte. Esel nannten die Menschen diese Wesen, aber Krisst war sich nicht vollends sicher.
Vorsichtig zog er sich aus dem Gebüsch zurück, ohne auf sich aufmerksam zu machen, und schlich ein Stück rückwärts. Als er sicher war, dass er sich weit genug entfernt hatte, spannte er seine kräftigen, muskulösen Beine und setzte zu einem Sprint an, um den ein Gepard aus den fernen Goriad-Wüsten ihn beneidet hätte. Geschickt stieß er sich von einem umgestürzten Baumstamm ab, um einen dahinterliegenden Bach zu überspringen.
Schwer atmend machte er auf einer abseits gelegenen Lichtung Halt.
Zwei schnell aufeinanderfolgende Schnalzlaute sprangen zwischen seinen scharfen Zähnen hervor.
Einen Moment war es still, und Krisst zuckte ungeduldig mit den Zehen, die als unnützes Überbleibsel der Evolution an höherer Stelle seines weniger gefiederten Fußes hingen.
Plötzlich sprangen vier weitere Raptoren aus dem mannshohen Farndickicht hervor, das die Lichtung umgab, und sahen ihren Kameraden erwartungsvoll an.
Das größte dieser Wesen, ein Weibchen mit karmesinroten Federn über den hervorstehenden Wangenknochen, stieß eine schnelle Folge von Klicklauten aus.
'Wie lautet dein Bericht?', verlangte die Anführerin der Gruppe zu wissen.
Er antwortete, indem er die Zähne im geschlossenem Maul fünf Mal schnell aufeinanderschlug und fügte ein weiteres Klappern mit weit zurückgezogenen Lippen hinzu.
'Soweit sichtbar. In schlechtem Zustand. Vielleicht Kriegsflüchtlinge, schloss Krisst seinen knappen Bericht.
Die anderen zuckten nachdenklich mit den Köpfen hin und her. Einer der Kameraden peitschte heftig mit dem gefiederten Schweif über den Waldboden, dass das Laub in einer raschelnden Welle über den Boden stieb, und fauchte auf.
'Zur Kenntnis genommen', erwiderte die Anführerin des kleinen Rudels. 'Du willst kämpfen, Zesh, aber ich bin es, die entscheidet. Nicht du.'
Der Angesprochene zischte mit zu schlitzen verengten Augen, doch er kam nicht dazu, etwas zu erwidern.
Ein weiterer Raptor schaltete sich in das Gespräch ein.
'Bewaffnung?', fragte er mit einer Reihe komplizierter Zischlaute.
Krisst antwortete schnell und bereitwillig. Er betrachtete den Blutdurst Zeshs, der wütend funkelte, ohnehin mit wachsendem Missfallen und war froh darüber, auf eine abwägendere Stimme zu treffen.
'Schwerter, Dolche, eine Lanze, ein Bogen', erwiderte der Kundschafter, 'aber mindere Qualität. Viel Rost, soweit man sehen kann. Eher Fliehende als Revierräuber.
In letzter Zeit hatte es Übergriffe in benachbarten Territorien gegeben, Siedlungsversuche von Menschen, die von den heimischen Raptorengruppen zurückgetrieben worden waren. Entsprechend misstrauisch war auch Kirrar, ihre Anführerin, über das Auftauchen der Neuankömmlinge in ihrem Teil des ausladenden Waldes gewesen und hatte einen Späher entsendet, um die Lage besser einschätzen zu können.
Abwartend blickten die vier Männchen ihr Alphaweibchen an. Die einen neugierig, vor allem Zesh aber in gespannt erwartungsvoller Haltung.
Nachdenklich wippte sie ihren prächtigen Schweif hin und her, der allein ihr schon in jungen Jahren viele Avancen eingebracht hatte. Ihre schlanke, sehnige Gestalt und ihre Wendigkeit im Kampf taten ihr Übriges und sicherten ihr zudem die bedingungslose Treue ihrer Untergebenen.
Ihre geschlitzten Iriden glitten von einem zum anderen, sie wägte ab, schätzte ein.
Und entschied.
'Wenig direkte Gefahr für uns. Und das Territorium', verkündete sie knapp, 'doch da sind mehr. Passieren sie unbehelligt, strömt mehr Menschenvolk nach. Und überrollt uns.
Angewidert registrierte Krisst, wie Zesh erwartungsvoll die Zähne bleckte und mit den spitzen Krallen tiefe Furchen in die Erde grub. Es war augenscheinlich, welche Entscheidung Kirrar gleich verkünden würde, und es gefiel dem jungen Späher nicht besonders. Doch er würde gehorchen, zum Wohl des Rudels. Auch, wenn es einen ziemlich bitteren Beigeschmack hatte, dass jemand wie Zesh dadurch seinen Willen bekam.
'Dunkelheit. Dann sind sie blind. Dann schlagen wir zu.
Ein hoher, entschlossener Schnalzlaut schloss den Befehl des hübschen Weibchens, und der Rest der Gruppe klackerte zustimmend mit den Zähnen und wiegte die schlanken Köpfe hoch und runter. Kirrar schwieg und ragte stumm über ihnen auf.
Krisst meinte fast, Bedauern in ihren bernsteinfarbenen Augen aufblitzen zu sehen.
Der dunkelgraue Himmel döste vor lauter Nebel. Die Schwaden waren seit Wochen in der Stadt beheimatet. Morgens, wenn der Alltagstrott seinen Griff fest um die müden Arbeiter schlug, verzogen sie sich, aber pünktlich zum Feierabend waren sie wieder da und trübten die Sicht für Mensch und Tier.
Thomas war schon lange im Nebel zu Hause. Er sehnte ihn herbei, er half ihm, seine gnadenlose Eile ein wenig zu zügeln. Thomas war auf die Nacht angewiesen. Der Teufel war ein Schausteller. Er hatte sein schnelles Karussell mitten in Thomas' Heimatstadt aufgestellt, und Thomas musste jede Gelegenheit nutzen, um damit fahren zu können. Am Anfang war es ein Protest gewesen. Ein Protest gegen die Mutter, die ihre Überstunden nutzte, um den Vater zu vergessen und ihren Sohn durchzubringen. Ein Protest gegen die Umwelt, die ihn von der einen Ecke in die nächste hetzte. Die Mutter hatte nichts gemerkt, und so wurde der Protest verlängert. Tag für Tag. Doch irgendwann wurde aus dem Protest ein Zwang. Ein Verlangen nach der nächsten Nadel, die kurzzeitig Glück verströmte, aber die Welt letztendlich doch immer schlafend zurückließ.
Trotz der protestierenden Kälte, die ihn umgab, schwitzte Thomas. Der lebensrettende Zettel mit der ebenso wichtigen Zahl darauf sog sich voll mit Angst und Aufregung. Eine dunkelblaue Zwanzig war darauf, nur eine dunkelblaue Zwanzig. Genommen aus der schwarzen Brieftasche der Mutter. Aber der Diebstahl war längst ein Kick, der Thomas nicht mehr befriedigen konnte.
In der nächsten Sekunde fand Thomas sich auf dem Boden wieder. In seiner Hast hatte er nicht aufgepasst und das halbnackte Bein übersehen, das ausgestreckt auf dem Boden lag und in einen durchlöcherten Strumpf mündete. Sein Blick wanderte am Körper empor. Dort lag ein junges Mädchen, noch keine zwölf Jahre alt. Es schaute Thomas direkt ins Gesicht. Ihre grünen Augen schienen Thomas zu durchbohren. Er jedoch wusste nicht, wie er den Blick des jungen Mädchens deuten sollte, und wandte sich ab. Doch nach wenigen Schritten hielt er inne und blickte zurück.
„Was machst du da?“, wollte Thomas wissen. Er kam sich dämlich vor. Wer fragt schon ein kleines Kind in zerrissenen Kleidern nach seinem Wohlbefinden, wenn es auf dem viel zu kalten Gehweg einer schmutzigen Seitengasse liegt. Doch das Mädchen rügte ihn nicht. Es sah Thomas immer noch tief in die Augen. Dann öffnete es den Mund. Ein leiser Pfiff ertönte, bevor es sprach.
„Betteln.“, sagte es kurz angebunden. „Ich muss doch. Meine Mutter ist ja tot, und mein Vater kann sich nicht bewegen. Irgendwoher muss das Geld ja kommen, sagt er, also schickt er mich Tag und Nacht auf die Straße. Ein kleines Mädchen, meint er, wird keine Schwierigkeiten haben, an Geld zu kommen, wenn es bettelt.“
Thomas wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er machte einen weiteren zaghaften Schritt nach vorne, den er jedoch wieder abbrach.
„Wieso kann sich dein Vater nicht bewegen?“, fragte er schließlich.
„Das Auto des Nachbarn ist Schuld.“, antwortete das Mädchen knapp. „Der Nachbar war ja ein Trinker, mein Vater hat immer gesagt, er gehört nicht ans Steuer. Aber der Nachbar musste ja Geld verdienen, also fuhr er Tag und Nacht hinaus. Er hat meinen Vater zu spät gesehen. Seitdem kann er sich nicht mehr bewegen. Aber ich sorge gut für ihn.“
Thomas hielt die dunkelblaue Zwanzig immer noch fest in der Hand. Sie drohte aufzuweichen, und so lockerte er seinen Griff ein wenig. Er errötete leicht, was den dunklen Ringen unter seinen Augen ein seltsames Violett verpasste. Sein Blick blieb auf einem Schornstein in der Ferne haften, der jedoch keinen Rauch absonderte.
„Da.“, sagte Thomas, und er merkte ärgerlich, dass Bedauern in seiner Stimme lag. Er hielt dem jungen Mädchen den Zwanziger hin. „Den habe ich gefunden. Ich brauche ihn nicht. Du hast es viel nötiger. Mehr habe ich leider nicht. Aber es reicht für neue Strümpfe, Brot und Aufschnitt.“
Das Mädchen hielt den Zwanziger in der Hand und stutzte. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ Thomas sich nochmal von den wunderschönen grünen Augen mustern, dann machte er kehrt und lief ohne ein weiteres Wort zurück. Das Auto des Nachbarn fiel ihm ein und er verlangsamte seine Schritte. In der plötzlich aufkeimenden Abendsonne war der Weg viel leichter zu finden. Aus sicherer Entfernung blickte er noch ein letztes Mal zurück. Ein Schornstein qualmte. Offenbar hatte der Bewohner des rissigen Hauses nun doch zum Brennholz gegriffen. Thomas löste seinen Blick von der Szenerie und lief zurück nach Hause. Hoffentlich hatte seine Mutter die Zeitung mit den Stellenanzeigen noch nicht in den Müll geworfen.
Mit festem Drücken schwang die Tür nach innen auf und ließ mich ins Innere hinein rennen. Aufgeregt schlug mein kleines Herz in der Brust, welches in den letzten Tagen sonst bei allen eher schwer war. Die vergangenen Tage waren nicht einfach gewesen und der heutige Besuch sollte wenigstens für ein bisschen Trost sorgen.
Weil ich noch viel zu klein war, musste ich mich auf meine Zehenspitzen stellen, um die Türklingel zu erreichen. Meine Mama lächelte mir dabei zu, besaß aber immer noch den traurigen Ausdruck in ihren Augen. Wenn ich könnte, würde ich ihr die Trauer wegzaubern, aber weder war ich eine große Magiern noch reichte mein Kinderlächeln aus, um ihr schweres Herz zu erleichtern. Ich selbst war auch traurig, freute mich aber trotzdem, meine Oma besuchen zu können. Diese öffnete gerade die Haustür und ließ uns eintreten. Sofort rannte ich meiner Oma entgegen und schlang meine Ärmchen um sie.
»Oma!«, rief ich aus und lockte ein kleines Lächeln auf ihren Lippen hervor.
»Meine Kleine«, sagte sie und begrüßte noch meine Eltern. Derweil setzte ich mich auf die Couch im Wohnzimmer, wo meine Oma schon die Kekse auf den kleinen Tisch drapiert hatte.
»Nimm nur, nimm«, forderte sie mich wie immer auf und ich griff sogleich nach einem Keks, um ihn mir zwischen die Lippen zu schieben. Ich liebte Omas Kekse, was nur ein Grund war, warum ich so gerne zu ihr kam.
Mit einem leisen Ächzen setzte sie sich neben mich und wieder lächelte ich sie an. Meine Mama hingegen war noch beschäftigt in der Wohnung unterwegs. Irgendwas Wichtiges hatte sie mitgebracht, was sie in der Küche auf dem Tisch ablegte. Ich verstand diesen ganzen Erwachsenenkram nicht wirklich und blickte auf das Foto, welches über dem Fernseher an der Wand hing. Tiefe Falten zogen sich durch das lächelnde Gesicht, die Augen ganz schmal durch das Lachen zusammen gekniffen. Es war ein sehr schönes Foto. Eines, wo mein Opa sehr glücklich aussah. Ich mochte es sehr, blickte aber wieder zurück zu meiner Oma. Diese hatte sich gerade noch mit meiner Mama unterhalten, weswegen ich sie leicht am Arm an stupste. Ihre blauen Augen huschten in meine Richtung, als sie die Berührung wahrnahm und mit einer nebensächlichen Handbewegung strich sie eine graue Strähne aus ihrem Gesicht.
»Omaaaa«, begann ich. »Wie hast du eigentlich Opa kennengelernt?«, wollte ich von ihr wissen.
»Ach«, sagte sie und driftete zurück in ihre Erinnerungen. Gespannt sah ich sie an, denn ich liebte es, wenn meine Eltern oder meine Oma von alten Zeiten erzählten. Manches verstand ich nicht oder konnte es nicht nachvollziehen, aber vieles klang auch schön. Beispielsweise wusste ich auch, dass meine Eltern sich auf der Arbeit kennengelernt haben. Aber bei meiner Oma und meinem Opa hatte ich noch nie nachgefragt. Jetzt sah ich meine Oma interessiert an, als sie ihre Lippen öffnete und die ersten Worte formulierte.
»Damals besaßen wir nicht viel«, erzählte sie von den alten Zeiten. Wie es damals gewesen sein musste, war für mich - als Kind des Friedens - kaum vorstellbar. Meine Oma hingegen hatte noch das Ende des Krieges mitbekommen und auch die Zeit danach war wohl sehr schwer gewesen. Sie haben nie viel besessen, doch sie waren damit ausgekommen. Erfinderisch waren sie gewesen, um sich im Alltag auszuhelfen.
»Wir haben alte Stoffe zusammen geklaubt und daraus hübsche Decken genäht.« Schon lange waren diese alten Decken weg geworfen. Heutzutage konnte man alles kaufen, egal, was man brauchte. Aber in vergangener Zeit hatte es selbst an den einfachsten Dingen gefehlt.
»Eine dieser Decken habe ich dann immer zum Picknicken mitgenommen. Mein Korb war dann mit allerlei Selbstgebackenem gefüllt und selbstgemachter Limonade“, erzählte meine Oma weiter.
»Ich erinnere mich noch an deine Limos. Die hast du ewig nicht mehr gemacht«, warf meine Mama ein. Mit einem Nicken erzählte meine Oma weiter …
Als sie noch jung waren, haben sie viel Schabernack angestellt. Sie haben ihr Leben gelebt und das Beste daraus gemacht. Was sollten sie auch sonst tun? Von depressiver Nachkriegszeit war nicht die Rede. Es war gewiss nicht immer einfach, aber sie waren glücklich gewesen. Als sie eines Tages mit ihren Freundinnen picknicken wollten, fuhren sie auf ihren Fahrrädern zum See. Es war ein herrlich sonniger Tag gewesen und den Weg zum See haben sie viele Male schon genommen. Auch an jenem Tag fuhren sie die gleiche Strecke über die Hügel und dann den kleinen Abhang hinunter. Ob es daran lag, dass die Bremsen nicht mehr richtig funktioniert hatten oder weil sie einfach zu risikofreudig gewesen war, daran konnte sich meine Oma nicht mehr erinnern.
»Ich war dumm gewesen«, meinte sie zwischendurch und winkte mit der Hand ab, schüttelte den Kopf über sich selbst. »Was war ich dumm!«, betonte sie noch einmal und erzählte weiter. Mit dem Fahrrad fuhr sie den Abhang hinab. Der Weg war etwas holprig, sie musste über ein paar Steine fahren und ehe sie sich versah, lag sie auch schon im See. Das Fahrrad ebenso und der ganze Picknickkorb wurde überschwemmt. Was hatten ihre Freundinnen darüber gelacht und auch ich selbst konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Denn so wie es meine Oma erzählte, klang es lustig. Sie machte sich selbst nichts daraus. Damals hatte sie sich wohl geschämt, doch heute spielte das für sie keine Rolle mehr. Ihr Kleid war durchnässt gewesen und mit einem tiefen Seufzen ärgerte sie sich, dass ihre feine Dauerwelle ruiniert war.
»Seitdem«, erklärte meine Oma. »Fuhr ich nie wieder Fahrrad!« Ich war erstaunt über diese Aussage, denn immer hatte ich angenommen, meine Oma konnte es einfach nicht. Doch das dieses Ereignis dazu geführt hatte, verwunderte eigentlich auch nicht.
Sie erzählte weiter, dass an jenem Tag am See auch eine Gruppe junger Männer da gewesen war. Mit denen hatten sie dann die Zeit verbracht. Nun, aus dem schönen Picknick war nichts geworden, aber das war nicht weiter tragisch.
»Darunter war auch Opa gewesen«, sagte sie und lächelte. Jetzt kam wohl der interessanteste Teil, doch eine weitere Aussage überraschte mich.
»Ich hab ja den Sportler gewollt!«, meinte sie und meine Mama lachte auf.
»Aber der Opa hat halt mich ausgesucht«, zuckte meine Oma mit den Schultern und ließ es so stehen. Unter den jungen Männern war mein Opa gewesen, der knapp sechs Jahre älter als meine Oma war. Er schien gleich ein Auge auf sie geworfen zu haben, obwohl sie selbst an den sportlichen Junggesellen interessiert gewesen war. Dabei musste man erwähnen, dass auch mein Opa nicht ganz unsportlich war. Meine Mama hatte immer erzählt, wie er damals in seiner Jugend sogar Handstand auf dem Fahrrad vollführt hatte. Für mich klang das immer unglaublich, weil mir die Vorstellungskraft dafür fehlte, wie man das machen konnte. Doch auch meine Oma bestätigte diese Aussage und lächelte bei dieser Erinnerung. Ja, mein Opa hat viel getan, war ein lustiger Mann gewesen, denn er hatte auch viele Späße gemacht. Er war musikalisch gewesen und hatte verschiedene Instrumente gespielt. Seine Familie hatte aber für ihn einfach alles bedeutet. Handwerklich war er auch geschickt gewesen. Ich erinnerte mich, wie er aus Holz kleine Schubkarren und Wagen gebastelt hatte. Ein kleiner Holzwagen, wo ich eines meiner Spielzeugpferde davor anspannen konnte. Im Nachhinein stellte ich erstaunt fest, dass mein Opa wirklich viele Talente gehabt hatte. Mir war das noch nie so bewusst gewesen wie gerade jetzt. Jetzt, wo wir über Opa redeten und sinnierten, was er alles in seinem Leben so getan hatte. Viel hatte er selbst nie erzählt, besonders nicht aus Kriegszeiten. Nur meine Mama hatte einmal erwähnt, dass der Vater meines Opas ein Kriegsheld war und irgendwo im Nachbarland sogar eine Statue von ihm gab. Irgendeine Art Andenken, weil er so vielen Flüchtlingen geholfen hatte, damit sie nicht ermordet wurden. Ich konnte mir das kaum vorstellen und dachte nicht so viel darüber nach. Aber zu wissen, dass es Helden in meiner Familie gab, war manchmal überwältigend … unvorstellbar. Nichtsdestotrotz war dieser Held früh gestorben und mein Opa ohne Vater aufgewachsen.
Gemeinsam blickten wir wieder auf das Foto über dem Fernseher. Meiner Oma entwich ein kleines Schluchzen und ich rückte näher zu ihr hin, um ihr Trost zu spenden. Dass mein Opa nicht mehr da sein sollte, wollte mir selbst nicht richtig in den Kopf gehen. Wir alle erwarteten insgeheim, dass er gleich die Tür vom Schlafzimmer öffnete und ins Wohnzimmer kam. Aber er kam nicht. Er konnte nicht mehr. Dort, wo er jetzt war, würde er es bestimmt gut haben. Vielleicht sah er auch lächelnd zu uns herab und erinnerte sich mit uns an die alten und schönen Zeiten. So wie ich es gerne tat und mich an all die Familienfeste erinnerte, wo er gelacht hatte. Wo er der Erste war, der das Tanzbein geschwungen hatte. Wie er manchmal meinen Hut nahm und ihn sich selbst aufsetzte … Das war mein Opa gewesen.
Ich würde ihn nie vergessen.
Denis Desbiens, Ode à Cassandre. A, H, C, D.
Bezeichnungen, Worte. Worte! Was haben die schon mit Tönen gemein? Wie könnte man den stumpfen Klang eines ausgesprochenen ‚C‘ mit dem hellen Gesang des Tones vergleichen, für den dieser Buchstabe steht? A-Moll? Als Wort klingt es wie ein Husten. Die Harfe macht daraus eine Emotion, ein singendes Gefühl, das in Kopf und Herz dringt. Victoria spürt es über die Innenseite ihres Magens streichen. Es kriecht als Gänsehaut über ihren Arm, fließt von ihrem Kopf aus den Nacken hinab, bis hin zu ihrem Rücken. ASMR.
Sie spielt mit geschlossenen Augen. Das tut sie immer. Sie will die Musik spüren, den Gesang der zitternden Saiten, die Töne, die durch die Poren ihrer Fingerspitzen in ihre Blutbahnen fließen. Gewohnt leicht lastet das Gewicht der Harfe auf ihrer Schulter. Das Instrument bewegt sich in dem sanften Takt ihrer eigenen Bewegungen, fast so, als würde es auf ihr spielen und nicht andersherum. Wie oft hat man ihr gesagt, sie sei zu klein gewachsen für eine so große Konzertharfe? Sie hat den Gedanken dahinter nie verstanden.
Victoria öffnet die Lider – ganz ausnahmsweise – ohne auf ihr Instrument oder ihre Finger zu sehen. Lächelnd wendet sie den Kopf.
„Gefällt es dir?“, fragt sie.
Ben reagiert nicht. Seit einer Stunde sitzt er auf dieser einfachen Holzbank, ganz still, fast regungslos. Stumm. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt der Harfe. Er hat nur Augen für sie.
Victoria beendet ihr Spiel. Sie legt die Hände an die Saiten, damit sie zu schwingen aufhören. Mit der Bewegung verklingt auch die Musik. Ben sieht auf. Sie winkt.
„Gefällt es dir?“, fragt sie noch einmal.
Er legt fragend den Kopf schief. Sie seufzt. Noch ein Versuch. Sie spricht jetzt langsam, deutlicher. Jedes Wort schmiegt sich an ihre Lippen, präsenter in seiner tanzenden Bewegung als in seinem Ton. Ein bisschen wie eine Harfe, die in einem Orchester untergeht, obwohl ihre Größe und ihr Schein so bewundernswert sind, dass sich der für ein paar Stunden lang nutzlose Sehsinn der Zuschauer auf sie richtet. Egal, ob die Augen tatsächlich ihre Schönheit genießen wollen oder ob sie nur den Bewegungen des Dirigenten auszuweichen versuchen, die nicht nur die Instrumente, sondern auch das Lachen mancher Zuschauer zum Erklingen bringt.
Ben hängt an Victorias Lippen. Er nickt stumm, so leicht und zart wie eine Nelke im Sturm. In seinen mandelbraunen Augen glänzt eine unausgesprochene Bitte. Victoria lächelt jetzt wieder; mütterlich. Ein weiteres Mal wendet sie sich der Harfe zu. Ihre Fingerspitzen schmiegen sich an das Instrument wie an einen Liebhaber. Aus dem Augenwinkel heraus sieht sie, dass sich Bens Körper erwartungsvoll anspannt. Das Bild flackert noch ein paar Sekunden hinter ihren sich schließenden Lidern, dann verschwimmt es vor den ersten Tönen der erklingenden Musik. Sie widmet sich einem etwas lebhafteren Stück. Ben liebt es, wenn die Saiten schneller schwingen. Track Nummer acht von John Weinzweigs Fifteen Pieces for Harp. Nicht gerade kreativ, der gute Herr Weinzweig. Zumindest was die Namengebung angeht, wenn die denn wirklich seiner eigenen Phantasie entsprungen ist und nicht der des Plattenlabels. Kein Komponist kreiert Worte. Und doch ist da immer dieselbe Frage, die sich dem Musiker stellt: Was liest du? Noten, Noten, Noten.
Warum lernst du sie auswendig, Victoria? Warum liest du sie nicht?
Druckerschwärze hinter waagerechten Gitterstäben. Sie klingen nicht. Schrift ist stumm. Wie soll darin Musik leben?
Gar nicht. Niemals. Das stimmt nicht! Sie ist nicht zu klein für die Harfe!
Victoria spielt jetzt schneller. Schneller, als die Noten es fordern, schneller, als sie es erlauben, genauso schnell wie Ben es mag. Sie überspringt ein ‚A‘, zerrt stattdessen an einem ‚H‘. Die hohe Halle schluckt jeden Ton und spuckt ihn wieder aus, schleudert ihn von Wand zu Wand, verbietet ihm zu verklingen. Schon singen sie im Kanon, die sterbenden Töne, der älteste vom jüngsten abgelöst. Die Harfe gebärt sie. Sie braucht Victoria nicht. Sie ist nur ihre Hebamme.
Victoria öffnet die Lider, ein zweites Mal ganz ausnahmsweise, ohne auf das Instrument oder ihre Finger zu sehen. Sie wendet den Blick. Ben ist ganz still. Stumm. Wie immer. Der Klang der Musik umtanzt ihn nebelartig, wagt aber nicht, den Jungen zu berühren.
„Gefällt es dir wirklich?“, schreit sie stumm, über den leisen Lärm hinweg.
Er reagiert, reißt die Augen weiter auf.
Ein falscher Ton. Ihre Hand rutscht ab, als ihr das Geräusch in den Finger beißt. Das Kreischen der unkontrolliert zitternden Saiten zerreißt die verklingende Melodie, beansprucht gierig den gesamten Saal für sich. Ben strahlt bei dem Anblick der gestürzten Obertonreihe, ganz verzückt von der Andersartigkeit des disharmonischen Lärms. Victoria lächelt erleichtert. Es ist nicht schlimm. Es ist immer noch Musik.
Ihre Hände fassen wieder nach der Harfe, ihre Augen nach den Lidern, ihr Fleisch nach der Musik, wickelt sich ein in eine Haut aus Tönen. Ihr Herz schlägt Für Elise. A, B, A, C, A.
Etwas stimmt in Victorias Spielen ein. Ein Geräusch, nicht falsch, nicht fremd, nur anders, ein Trommeln von Schritten. Sie spürt Bens tonlosen Gesang, als er sich neben sie setzt, auf den glatten Boden. Seine Kleidung streift ihr Bein, ihr Fuß verliert die Noten aus den Augen, ihre Fingerspitzen sehen auf, irritiert. Die Beständigkeit von Beethovens Stück verschwimmt, es stirbt hinter ihren geschlossenen Augen. Humus für ein neues Lied. Das Lied hinter den Lidern. Endlich.
Victoria öffnet die Augen, ein drittes Mal ganz ausnahmsweise, ohne zu der Bank zu sehen. Dieses Mal schließt sie sie nicht wieder. Sie beobachtet Finger, die ein neues Lied tanzen, auf einem aufmerkenden Instrument. Sie sieht, was Ben nicht hören kann. Er hat Recht. Der Anblick der schwingenden Saiten ist tatsächlich wunderschön.
The Eagle Flies Alone
dt.: „Der Adler fliegt allein“
Mia rannte. Beide Hände fest um den Gurt ihrer Tasche gekrallt lief sie über die nasse Straße, bahnte sich ihren Weg durch sich bildende Pfützen und vorbei an Geschäftsleuten, Trainern, Spaziergängern, Schülern – der Regen verwischte ihre Gesichter und verwandelte alle in undeutliche, graue Schemen, die fluchend oder einfach stumm an ihr vorbei hasteten. Mit gesenktem Kopf bog sie um die nächste Ecke, ohne auf die Straßenschilder zu achten. Den Weg kannte sie auswendig.
Als sie die Haustür erreichte, war ihr T-Shirt schon völlig durchnässt. Hier und da schimmerte Licht aus den Fenstern des Altbaus, doch die meisten waren verhangen. Sie flüchtete sich unter das alte Vordach, zog den Reißverschluss ihrer Tasche auf und begann zwischen ihren Schulbüchern zu kramen. Kaltes Wasser lief ihr über die Stirn und in den Nacken. Der Zopf, den sie zu Hause noch mühsam geflochten hatte, klebte jetzt nass und schwer an ihrem Rücken. Seufzend zog sie ihren Schlüsselbund hervor und schloss die Tür auf. Sie hätte sich eine Jacke mitnehmen sollen, aber mit einem solchen Platzregen hatte sie nicht gerechnet.
Im Erdgeschoss roch es nach Pfannkuchen und frischer Farbe, das Treppenhaus war wohl neu gestrichen worden. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und das beständige Prasseln des Regens verwandelte sich in ein dumpfes Rauschen im Hintergrund, das von etwas anderem übertönt wurde – Musik. Aus einem der oberen Stockwerke klangen die Töne einer E-Gitarre bis zu ihr hinunter. Sie erkannte die eigenwillige Melodieführung, noch ehe sie auf der Mitte der ersten Treppe war, und musste trotz ihrer nasskalten Kleidung lächeln. Sie hatte damit gerechnet, dass er zu Hause sein würde, trotzdem freute sie sich darüber.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend lief sie in den dritten Stock, bemüht, möglichst schnell an den anderen Wohnungen vorbeizukommen, bevor einer der Nachbarn sie bemerken und sich über die laute Musik beschweren könnte. Sie konnte ihre Klagen ja irgendwonachvollziehen, aber sie hatte keine Lust, Verständnis und Geduld aufzubringen, wenn es um ihren Freund und seine Musik ging. Schon gar nicht, wenn sie dabei tropfend in einem kalten Treppenhaus stehen musste. Doch diesmal hatte sie Glück.
Auf dem obersten Treppenabsatz hielt sie einen Moment inne, um ihren Atem zu beruhigen. Die Musik war hier am Deutlichsten, immer noch dumpf, aber laut genug, um das Stück zu erkennen, das er spielte. Eines seiner Lieblingslieder.
In der Ecke neben der linken Tür lehnte eine zusammengerollte Abdeckplane hinter zwei Farbeimern, offenbar hatten die Maler ihre Arbeit für eine Mittagspause unterbrochen. Der Farbgeruch war penetrant. Sie bückte sich, um die beiden Eimer beiseite zu schieben, die jemand direkt vor die Tür gestellt hatte, fischte den richtigen Schlüssel aus ihrem Bund und schob ihn ins Türschloss. Eine Gänsehaut zog sich über ihre nassen Arme. Allmählich wurde ihr kalt.
Im Flur war es dunkel, natürlich. Sie drückte die Tür mit dem Fußballen wieder zu und tastete nach dem Lichtschalter. Die blassgrauen Schatten wichen einem nüchtern weißen Lichtschein. An der Garderobe hingen zwei Jacken über einem Paar sehr großer Hausschuhe. Samuel war also nicht da.
Sie streifte ihre eigenen Schuhe ab, stopfte ihren Schlüsselbund wahllos in eine Tasche ihrer Jeans und folgte der Musik durch den schmalen Flur. In jedem Zimmer waren die Wände zur Hälfte weiß und zur Hälfte blau. Es war ein Blauton, der nicht so recht zur Farbe im Treppenhaus passen wollte, doch hier drinnen fand sie ihn schön. Vielleicht etwas kühl, aber die nüchterne Ordnung, nach der die ganze Wohnung eingerichtet war, hatte etwas Beruhigendes. Auch wenn ihr das erst aufgefallen war, als Lenn es ihr gesagt hatte.
Vor der letzten Tür auf der linken Seite blieb sie stehen. Bei der Lautstärke würde er sie kaum hören, trotzdem klopfte sie kurz. Im Zimmer war es so kalt, dass sie unwillkürlich fröstelte. Das Fenster stand offen, wahrscheinlich schon seit dem Morgen. Sich mit den Händen über die Arme reibend trat sie ein und versuchte die Tür möglichst leise zu schließen. Lenn saß am Fenster, rücklings gegen den Rahmen gelehnt, seine Gitarre auf dem Schoß. Hinter ihm fiel der Regen in langen Fäden senkrecht nach unten, unablässig und dicht wie ein Schleier.
Er schien sie nicht zu bemerken, sondern spielte einfach weiter, während sie zu ihm hinüber ging und die Lautstärke am Verstärker etwas nach unten drehte, bis sich das Prasseln des Regens aus den Klängen der E-Gitarre schälte. Lenn mochte es, wenn die Musik ihn völlig einschloss und von allen anderen Geräuschen abschirmte, doch ihr taten davon auf Dauer nur die Ohren weh.
Da sie wusste, dass er sie sehr wohl bemerkt hatte und früher oder später aufhören würde, um sie zu begrüßen, unterbrach sie ihn nicht, sondern wandte sich nur um und öffnete die Tür zu seinem Kleiderschrank. Sie brauchte dringend etwas Trockenes zum Anziehen. Und ein Handtuch für die Wasserflecken, die sie überall hinterlassen hatte.
Sie wischte sich die nassen Hände an einem trockenen Teil ihrer Kleidung ab und begann seine Sachen nach etwas zu durchsuchen, das warm genug war. Im Gegensatz zu ihr war Lenn ein Winterkind, im Januar geboren und fror wahrscheinlich nur in einem Schneesturm. Mit einem unterdrückten Grinsen schob sie ein paar T-Shirts und dünne Hosen beiseite, abgelenkt von den langsam verhallenden Akkorden hinter ihr. Dann verstummte die Musik ganz, und der Regen wirkte mit einem Mal laut.
„Mia.“
Ein warmes Kribbeln durchlief sie und sie wandte sich um. Lenn rutschte von der Fensterbank, hob den Gurt seiner Gitarren über den Kopf und lehnte sie neben sich an die Wand. Sie mochte die Art, wie er sie ansah, sein freudiges, immer ein wenig schüchternes Lächeln, als könnte er nicht so recht glauben, dass sie wirklich bei ihm war.
„Hi, Lenn. Lass dich nicht stören.“ Sie zögerte eine Sekunde, doch dann verscheuchte sie die Sorge aus ihrem Lächeln und deutete nur auf den Schrank. „Hast du was Warmes zum Anziehen? Ich finde deine Wintersachen nicht.“
Er nickte, löste sich vom Fensterrahmen und kam zu ihr herüber. „Liegt alles ganz hinten. Willst du duschen? Deine Lippen sind blau.“
„Denke schon.“
Lenn fuhr mit einer Hand über ihr nasses Haar. Zwischen seinen dunklen Brauen stand eine besorgte Falte. „Geh schnell. Du frierst.“
Sie nickte zustimmend, blieb aber stehen. Jetzt, da er direkt vor ihr stand, sah sie deutlich die Schatten unter seinen Augen. Sie griff nach seiner Hand und schob ihre Finger zwischen seine. Lenns Haut war eiskalt. Er musste seit dem Morgen am offenen Fenster gesessen haben.
„Du hast schlecht geträumt, oder?“ Sie versuchte, die Frage möglichst beiläufig zu stellen. Ein Zug um Lenns Mund zuckte. Die Schatten unter seinen Augen schienen nach oben zu wandern.
„Ja.“
Sie wartete, doch er sprach nicht weiter, strich nur abwesend mit der Daumenspitze über ihr Handgelenk. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nicht so wichtig. Geh duschen, ich such dir was raus.“
Sie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen, als er seine Hand aus ihrer zog.
Als sie aus dem Bad kam, stand Lenn neben der Tür. Sie nahm den Pullover, den er ihr reichte, und betrachtete den Aufdruck auf der Rückseite, um ihn nicht ansehen zu müssen. Zwei hellgraue Augen starrten sie an, von einem Wolf oder einem anderen Tier. Der Rest war schwarz, aber vor allem trocken und warm.
„Danke.“ Sie zog ihn sich über den Kopf, schlug die Ärmel um, bis ihre Hände wieder aus dem Stoff auftauchten, stülpte die Kapuze über das Handtuch, in das sie ihre nassen Haare gewickelt hatte, und lächelte unsicher.
Lenn schwieg. Er hatte die Arme verschränkt und sah auf einen Punkt irgendwo neben ihrem Kinn.
„Es war nicht der Traum“, murmelte er schließlich. „Mehr das Gefühl danach. Ich weiß nicht genau.“ Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. „Sam hat gesagt, er entschuldigt mich.“
Einen Moment lang starrte sie ihn überrascht an. Dann blinzelte sie rasch und schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon okay. Ich hätte nicht fragen sollen.“
Lenns Haltung entspannte sich. Er zupfte eine Haarsträhne unter ihrem Handtuch hervor und wickelte sie um seinen Zeigefinger. „Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.“
„Ich weiß.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Danke.“ Dann stutzte sie plötzlich. „Moment, du nennst Samuel 'Sam'?“
Lenn grinste. „Er meinte, ich kann ihm einen Spitznamen geben, statt ihn 'Papa' zu nennen. Mit Sam konnte er sich abfinden.“
Sie musste lachen.
Doch als sie ein paar Minuten später mit einem Sandwich in der Hand neben ihm auf dem Bett saß, den Kopf an seine Schulter gelehnt, dachte sie noch einmal daran zurück.
„Er hat dich echt gern, oder?“
Sie spürte Lenns Nicken an ihrem Haar. Er hielt ihre freie Hand in seiner und strich mit den Fingerkuppen über ihre Haut.
„Wir verstehen uns gut.“
Mia lächelte.
„Es geht dir besser, seit du bei ihm bist.“
„Ja.“
Eine Weile lang herrschte entspanntes Schweigen.
„Mia?“
„Hm?“ Sie wandte den Kopf, wischte sich ein paar Brotkrümel aus dem Mundwinkel und sah hoch in Lenns Gesicht. Seine grauen Augen strahlten auf eine Weise, bei der ihr vor Glück ganz warm wurde.
„Schön, dass du da bist.“
Ein Schleier der Stille lag über der kleinen Lichtung. Kein Laut war in dieser Nacht zu hören, nicht ein Windhauch, der die Gräser rascheln ließ. Leuchtende Käfer schwirrten umher und ließen das Gras leuchten.
Plötzlich durchbrach ein Laut die Stille. Ein kleines Wesen huschte über die Lichtung. Im Schein des Vollmondes schimmerte sein Gefieder in allen Farben. Panisch sprang es auf und ab, schlug Haken, versuchte alles, um seinem Verfolger zu entkommen. Kurz sah es sich um. Erleichtert merkte es, dass es auf der Lichtung noch alleine war, und sprang ins Unterholz des nahen Waldes. Hier war es schwieriger, gefunden zu werden.
Kaum war das bunte Wesen verschwunden, betrat schon etwas anderes die Lichtung. Er bewegte sich so langsam durch das Gras, dass dieses trotz seiner Bewegungen kaum einen Laut machte. Die Leuchtkäfer umkreisten ihn und ließen sein weißes Fell bläulich glänzen. Sein Name war Flauschus IV und er war ein hochrangiger Adliger. Vorsichtig streifte er durch die Ebene und versuchte dabei, die Witterung seiner Beute wieder aufzunehmen. Er suchte nach feinsten Geruchsspuren und hörte ganz genau hin. Irgendwo in der Ferne war ein Rascheln. Es war nicht auszuschließen, dass dies die Spur war, die er suchte. Er schlich nun also in Richtung des Waldes.
Bei jedem kleinsten Geräusch zuckten seine Ohren, versuchte er, dieses einzuordnen, um einzuschätzen, ob es für ihn relevant war oder nicht. Der Wald war lauter als die kleine Lichtung, hier wehte ein Wind durch die hohen Büsche und ließ die Blätter fast durchgehend rascheln. Überall war hier Leben. Nur die leuchtenden Käfer waren zurückgeblieben. Stattdessen huschten kleine Säugetiere über den Waldboden und versteckten sich in winzigen Höhlen zwischen den Wurzeln der Bäume. Doch diese waren Flauschus egal. Es gab nur ein Wesen, das er fangen wollte.
Der Wald wurde dichter, sodass man das Mondlicht hier nur noch erahnen konnte. Dennoch war dieser Ort nicht dunkel, denn hell leuchtende Ranken kletterten an den Stämmen der Bäume empor und schwangen sich um die Äste. Sie erhellten den Wald, ließen ihn einmal in blauem, einmal in violettem Licht erstrahlen. Nachts schien es dank ihnen hier heller zu sein als tagsüber.
Flauschus bewegte sich nun schneller vorwärts, er wusste, dass der Wald ihm genug Schutz bieten würde. Hier war es so laut, dass seine immer noch leisen Schritte in der Geräuschkulisse fast unbemerkt untergingen. Er konnte sich hier nicht mehr verraten. Anders seine Beute. Ihr wildes Hüpfen und Hecheln war für ihn glasklar zu erkennen. Stetig folgte er seiner einzigen Spur. Er kletterte über umgefallene Baumstämme und durchquerte Haufen von am Boden liegendem Laub. Dann jedoch führte ihn sein Weg zu einem breiten Bach. Er wollte nicht ins Wasser. Er hasste das Wasser. Es war kalt und nass. Es gehörte sich nicht für einen Adligen wie ihn, ins Wasser zu springen. Er sah sich am Ufer um. Gab es denn keinen Weg hinüber?
Flauschus beschloss, dem Bach etwas zu folgen, bis sich eine Chance anbieten würde. Das Rascheln seiner Beute rückte langsam in die Ferne, verschwand zwischen den aufgeregten Lauten der Waldbewohner, als diese den hochrangigen Gast erkannten. Endlich fand er eine Stelle, an der der Bach nicht so tief war. Ein großer Stein in der Mitte ließ außerdem einen passierbaren Weg entstehen. Flauschus nahm etwas Anlauf und schaffte es mit zwei präzisen Sprüngen, das Hindernis zu überwinden. Endlich hatte er die andere Seite erreicht und konnte wieder versuchen, die Witterung aufzunehmen.
Genau hörte er hin, drehte seine Ohren in alle Richtungen, doch er konnte seine Beute nicht mehr hören. Etwas frustriert bewegte er sich in die Richtung, von der er glaubte, dass sie die richtige war. Er streifte durch den nächtlichen Wald, ließ sich von den leuchtenden Ranken den Weg leiten, stets darauf bedacht, nicht zu sehr aufzufallen, sollte er in die Nähe seines Zieles kommen. Doch er konnte sie nicht mehr hören. Überhaupt war es überraschend still geworden, ohne, dass es ihm aufgefallen war. Was war nur passiert? Es machte ihn nervös. Nicht nur war es beunruhigend, dass das Leben im Wald schwieg, es bedeutete auch, dass jeder seiner Schritte für die Umgebung umso lauter klang. Jedes zertretene Blatt, jeder zerknickte Ast klang in seinen Ohren wie ein Donnerschlag. Verunsichert blieb er stehen.
Mit einem Mal durchschlug ein Knall die Stille. Dem Wald entfuhr ein erschrockener Schrei. Flauschus sprang auf und versteckte sich zwischen zwei eng beieinander stehenden Bäumen. Zitternd kauerte er da, wie ein Häufchen Elend. Er wusste, dass dieses Verhalten eines Adligen wie ihm nicht würdig war. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er war starr vor Schreck. Er hatte keine Ahnung, was dieser Knall war. War es etwas Gefährliches? Jagte es ihn? Wollte es ihn verletzen?
Plötzlich raschelte es im Unterholz vor ihm. Das kleine gefiederte Wesen hüpfte vor seiner Nase herum. Schnell sprang Flauschus auf und auf das Wesen zu. Dieses reagierte blitzschnell und hüpfte davon. Er folgte ihm so schnell er konnte, doch es war ihm immer einen Schritt voraus. Es rannte auf das Ende des Waldes zu, wo ein sehr helles Licht schien. Flauschus rannte ihm hinterher, in das Licht hinaus.
Vor dem Sofa saß eine Frau auf dem Boden und streichelte den weißen Kater, als er herausgekrochen kam. „Ach Flauschi, was versteckst du dich schon wieder unter dem Sofa?“, fragte sie. Er strich um sie herum. Früher hatte er Menschen gruselig und furchteinflößend gefunden, immerhin waren sie so viel größer und stärker als er und manchmal auch noch bewaffnet. Doch er hatte gelernt, dass manche Menschen freundlich waren. Diese Frau war einer von ihnen. Sie hatte ihm ein schönes Zuhause gegeben und nahm ihm sogar das Jagen ab. Hier war ein schöner Ort für eine Katze. Hier konnte er ein glücklicher Kater sein.
Halb neun, abends. Die große, hölzerne Standuhr tickte unermüdlich vor sich hin und war das einzige, das die Stille in diesem Haus durchbrach. Ein Dalmatiner saß vor der Eingangstür und wartete auf das, was jeden Moment durch diese Tür kommen würde. Klug wie er war, wusste der gehorsame Canidae, dass sein Besitzer jeden Moment heimkommen würde. Das zu erkennen war natürlich absolut nicht schwierig gewesen - denn der altbekannte (Die Betonung lag hier auf alt.) Motor des Oldtimers hatte sich bereits schon von weitem angekündigt. So saß er nun da, während sein Schweif in hoher Geschwindigkeit abwechselnd hin und her auf dem blitzblanken Laminatboden schlitterte. Nicht einmal Hundehaare oder Pfotenabdrücke verunreinigten den Boden, den man sogar fast schon als Spiegel nutzen konnte. Wenn man sich die Zeit nahm und sich genauer umsah konnte man sogar bemerken, dass eigentlich nichts darauf hindeutete, dass hier ein Haustier lebte. Ausnahmslos alles war auf Hochglanz poliert und ordentlich. Selbst ein Hundenapf war nirgends vorzufinden. Ein wahrlich seltsamer Lebensraum für ein solches Haustier. War es etwa derartig gut erzogen? Oder war es einfach nur hier eingebrochen und wollte nur wieder raus? Fragen über Fragen, die wohl jeden Moment beantwortet werden würden.
Plötzlich ertönten vor der Eingangstür Geräusche. Jemand stand wohl vor dieser und hatte gerade seinen Schlüssel in das Schloss gesteckt und drehte diesen qualvoll langsam entgegen den Uhrzeigersinn, um den Riegel im Inneren der Tür nach innen zu schieben. Der Hund konnte sich kaum noch halten, da er jedes noch so leise Geräusch mit seinen Ohren vernahm. Endlich war es so weit! Die Türklinke bewegte sich langsam nach unten nachdem der Schlüssel wieder entfernt worden war. Als die Tür sich nun endgültig geöffnet hatte, sprang der Hund in die Arme seines Besitzers. „Ich hab‘ dich soooooooo unendlich sehr vermisst, Meister!“ Der Dalmatiner stand auf seinen beiden Beinen und umarmte mit seinen Armen den Grizzlybären, der in der Türschwelle stand. Dieser blieb jedoch standhaft stehen und ließ sich nicht umwerfen, was er hauptsächlich seinem größeren Körperumfang zu verdanken hatte. Mit einem Lächeln umarmte er nun den anthropomorphen Hund und strich ihm über sein schwarzes Lederhalsband. „Na mein Kleiner? Scheint wohl als ob du mich so sehr vermisst hast, dass du gleich noch geputzt hast.“ Der Bär schnupperte kurz in die Luft. „Und wie es scheint, hast du auch gleich was gekocht, sogar mein Lieblingsessen. Womit habe ich das denn verdient?“ Ohne eine weitere Antwort küsste der Dalmatiner seinen Meister innig, was ihm ein wenig schwer fiel aufgrund des Größenunterschiedes zwischen den beiden. „Das reicht mir als Antwort. Was gibt es denn als Dessert?“ Wie aus Zustimmung schien nun der Magen des Bären zu knurren. „Das wirst du dann sehen.“ Flüsterte der Hund zwinkernd. „Da will der Wauwau mich wohl mit Essen ködern, hm? Das werden wir ja sehen, ob das klappen wird, Süßer.“ Eine gewisse Vorahnung war vorhanden, und mit dieser ging das Paar nun essen.
Was danach geschah, sollte man sich lieber nur vorstellen. Und nicht etwa, weil der Autor faul ist, sondern weil er wenigstens etwas Anstand besitzt und die Leute schon mit genug Cringe durch den bisherigen Verlauf der Geschichte überhäuft hat. (Und weil es vermutlich nicht jugendfrei sein würde.)
Lori hielt die Augen geschlossen, während sie unterhalb der Wasseroberfläche dahinglitt. Der Fluss warf sie hin und her wie eine leblose Puppe und alles, was sie hörte, war das dumpfe Grollen und Gurgeln des Wassers um sie herum. Sie konnte nicht atmen, obwohl der Drang in ihr immer stärker wurde, einfach nach Luft zu schnappen. Dabei wusste sie, dass sie ihm nicht dauerhaft würde widerstehen können. Vielleicht wäre es ja auch gar nicht so schlimm, diese Welt einfach zu verlassen …
Etwas griff nach Lori und riss sie mit einem gewaltigen Ruck aus dem Wasser heraus. Sie prustete und spuckte, sog gierig die lebensrettende Luft ein. Als sie ihre Augen öffnete, machte es ihr das Wasser, das von ihren Haaren in sie hineinlief, zunächst sehr schwer, etwas klar zu erkennen. Ein wenig getrübt sah sie knapp unter sich den tosenden Fluss, über den sie nun hinweg schwebte, hin zur rechten Uferseite. Dort stand vor einer Gruppe von Bäumen eine kleine, grüne Gestalt.
Im nächsten Moment jedoch verlor Lori vor Erschöpfung das Bewusstsein.
Als sie wieder erwachte, lag sie auf weichem, von Gras bewachsenem Erdboden. Sie starrte nach oben in einen blauen und nur mit wenigen Schäfchenwolken bedeckten Himmel. Eine hellbläulich scheinende Sonne warf ihre wärmenden und trocknenden Strahlen auf Loris immer noch nasse Kleidung.
„Uff“, machte Lori, schloss die Augen wieder und richtete sich auf, langsam und vorsichtig. Ihr tat alles weh und ihr Kopf schmerzte fürchterlich. Sie nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln für was auch immer sie sehen würde, wenn sie die Lider wieder aufschlug. Als sie das schließlich tat, gab es jedoch ohnehin nichts, was allzu schockierend gewesen wäre: Sie saß einfach am Ufer eines Flusses, mit einer Baumgruppe zur anderen Seite. Ein wenig den Flusslauf hinunter sah sie jedoch steil abfallende, weißfelsige Klippen, wo der Fluss offenbar in einem Wasserfall endete - das Tosen des Wassers war deutlich zu hören.
Wäre bestimmt nicht schön gewesen, da runterzusegeln, dachte sich Lori.
Sie drehte ihren Kopf, um hinter sich zu sehen und stieß einen überraschten Laut aus, als sie die recht ungewöhnliche Person erblickte, die hinter ihr stand. Ganz offenbar war das die Gestalt, die sie noch gesehen hatte, als sie über den Fluss geschwebt war. Und während sie noch darüber nachdachte, war sie sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich von einer Person sprechen konnte: Das Wesen hatte starke Ähnlichkeit mit einem Affen, auch wenn die aufrechte Haltung und der Körperbau recht menschlich wirkten. Glattes grünes Fell bedeckte den ganzen Körper der Kreatur, aus dessen Gesicht zwei große, bernsteinfarbene Augen sie neugierig ansahen. Loris Blick wanderte nach unten; tatsächlich schienen auch die Füße mehr denen von Affen zu entsprechen.
„Äh, hallo“, sagte Lori und stand auf, wobei sie das Wesen um etwa anderthalb Köpfe überragte. Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt weiter sagen sollte.
„Kannst du sprechen?“, fragte sie unsicher.
Der vorstehende Mund im Gesicht des Affen öffnete sich und eine tiefe, männlich klingende Stimme brachte tatsächlich menschliche Worte hervor: „Ja, das kann ich.“
„Okay“, sagte Lori und nickte. „Cool.“
Eine unangenehme Pause trat ein. Lori war nie gut darin gewesen, mit anderen Menschen auszukommen; und mit einem sprechenden grünen Affen zu reden war noch einmal eine ganz andere Sache. Nun, aber zumindest konnte er auch reden.
„Mein Name ist Mitor“, stellte sich der Affe vor.
„Angenehm. Lori.“
„So jemanden wie dich habe ich noch nie gesehen“, sagte Mitor. „Woher kommst du und warum bist du im Fluss gewesen?“
„Ähm, das ist eine ziemlich lange Geschichte“, erwiderte Lori. „Und ich fürchte, auch noch ziemlich kompliziert. Sagen wir – ich komme aus einer anderen Welt, um es kurz zu machen.“
Mitor legte den Kopf ein wenig schief. Lori wusste, die Antwort würde jedem komisch vorkommen. Aber zumindest wirkte er nicht feindselig, was keine Selbstverständlichkeit war, wie sie inzwischen wusste. Bestimmt war mindestens die Hälfte ihrer Tode auf aus Furcht und Hass motiviertes Fremdverschulden zurückzuführen.
„Wie gesagt, die Details sind ein bisschen komplexer“, sagte Lori. „Ich kann sie dir gerne später erzählen, aber vorher würde ich gerne wissen: Hast du etwas damit zu tun, dass ich nicht abgesoffen bin?“
Mitor nickte.
„Okay, und wie hast du das angestellt?“
Zur Antwort machte Mitor eine kleine Handbewegung, woraufhin sich ein Stein, der im Gras gelegen hatte, in die Luft erhob.
„Oh, ein Telekinet“, sagte Lori. „Ja, hab ich schonmal gesehen, so was. Dann war es ja gut, dass du zufällig in der Nähe warst.“
Mitor schüttelte den Kopf und sagte: „Nicht zufällig. Ich habe gespürt, dass hier etwas geschehen würde.“
„Sieh mal einer an, auch noch ein Hellseher“, murmelte Lori und fügte hinzu: „Ähm, gibt es noch mehr von, also, deiner Sorte? Du weißt schon …“
Sie hatte nicht den Eindruck, dass sie es schaffte, sich höflich auszudrücken und lief daher rot an.
„Nein“, sagte Mitor. „Ich bin und war schon immer der Einzige hier. Abgesehen von den Reisenden.“
Lori horchte auf. „Reisende?“, wiederholte sie fragend.
„Ja“, bestätigte Mitor. „Manchmal kommen Reisende hierher. Aber sie gehen meistens wieder. Nur bist du die erste deiner Art, die hier vorbeikommt.“
Lori seufzte. Ja, sie war wahrlich eine Pionierin wider Willen.
„Ja, okay. Und die anderen, ähm, Reisenden, wie genau sind die hierhergekommen? Nicht so wie ich, nehme ich an? Also, keiner musste aus dem Fluss gefischt werden?“
Mitor schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein. Manche von ihnen haben seltsame Apparate, die sie mit sich herumtragen, andere sagen, sie hätten bestimmte magische Objekte benutzt. Wieder andere haben gar nichts dergleichen bei sich und reden allein von der Kraft ihrer Gedanken, die ihnen die Reise ermöglicht.“
„Tja, viele Wege führen in eine Welt mit einem telekinetisch begabten grünen Aff… Ich meine, zu Mitor“, murmelte Lori.
„Was ist dein Weg?“, fragte Mitor, die fast ausgesprochene Unhöflichkeit übergehend.
„Ähm …“, machte Lori, „Also, im Prinzip ist es … Sterben.“
Mitor zog eine sehr buschige Augenbraue hoch.
„Das verstehe ich nicht“, gab er zurück.
„Na, das überrascht mich aber jetzt“, meinte Lori ironisch. „Es ist einfach so: Wenn ich in einer Welt sterbe, wache ich in einer anderen auf. Ich weiß nie, in welcher, ich weiß nie, wo genau jeweils, aber dass ich in irgendeiner neuen Welt aufwache, ist todsicher – im absurdesten Sinne des Wortes.“
„Interessant“, meinte Mitor.
„Wohl eher nervig“, erwiderte Lori. „Ich suche noch nach jemandem, der etwas dagegen machen kann.“
„Wie kommt es, dass dir dieses Schicksal zuteilgeworden ist?“
„Ich habe nicht den leisesten Schimmer“, seufzte Lori. „Weißt du, wo ich herkomme, gibt es viele Vorstellungen vom Leben nach dem Tod. Manche reden davon, dass wir in irgendeinem Paradies landen, wo Engelchen auf den Wolken sitzen oder so. Nun, als ich dann gestorben bin – also zum ersten Mal – dachte ich einfach, das sei jetzt das Nachleben. Nur war es das irgendwie nicht. Es fühlte sich nicht anders an, ich war immer noch ich und alles. Es war immer noch das Leben, nur halt woanders. In einer anderen Welt. Und keine Ahnung, vielleicht ist das einfach das, was passiert, wenn man stirbt.“
„Vielleicht“, murmelte Mitor nachdenklich.
„Du weißt nicht zufällig besser darüber Bescheid?“
Mitor verneinte dies und Lori seufzte wieder. Sie war jetzt schon ziemlich lange umhergewandert – sie wusste gar nicht, wie viele Tode sie bereits gestorben war. Manchmal hatte sie relativ lange gelebt, hatte gelegentlich Freunde und manchmal sogar Familie gehabt, aber irgendwann war es immer Zeit für sie, weiterzuziehen.
Bei dem Gedanken kam ihr plötzlich eine Idee, die sie sogleich laut aussprach: „Hey, vielleicht kann mir ja einer der anderen Reisenden weiterhelfen, die du erwähnt hast, was meinst du?“
„Möglich“, meinte Mitor. „Wenn einer kommt.“
„Wann war denn der letzte hier?“, fragte Lori argwöhnisch.
„Vor einundvierzigtausenddreihundertundsiebenundneunzig Tagen“, kam die prompte Antwort.
„Okay“, sagte Lori. „Und wie viel Zeit lag zwischen dem und dem davor?“
„Vierundfünfzigtausendsechsundzwanzig Tage.“
Loris Gesicht fiel ein wenig ein. Sie würde wohl eine Zeit hier warten müssen, wobei sie ja nicht einmal wusste, wie lange hier überhaupt ein Tag dauerte. Wenigstens fand sie hier etwas Besseres als den Tod, dachte sie, auch wenn sie sich für gewisse natürliche Prozesse offenbar etwas würde einfallen lassen müssen.
„Okay“, schloss Lori. „Ich bleibe dann erst einmal hier und warte, in Ordnung?“
„Wenn du möchtest, gerne“, antwortete Mitor.
„Danke.“
Ein lautes Grollen ertönte und Lori wurde bewusst, dass es ihr Magen war.
„Ähm“, machte sie verlegen, „gibt es hier vielleicht irgendwo etwas zu essen?“
"Du solltest es dir immer im Voraus überlegen, wenn du dir etwas wünschst", sagte er mir immer, "denn manchmal, wenn man an seine Träume glaubt, kann es sein, dass diese in Erfüllung gehen."
Es ist, so denke ich zumindest, bereits eine halbe Ewigkeit vergangen, seitdem ich diese Worte das letzte Mal hörte. An manchen Tagen bilde ich mir zwar ein, dass ich sie soeben vernahm, doch nach wenigen Augenblicken wird mir erneut klar, dass dies unmöglich ist. Es mag schwer zu verstehen sein, doch es ergibt alles einen Sinn, wenn die Zeit dafür kommt.
Es ist so ruhig hier oben; ich bekomme eine zarte Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Aber zugleich muss ich gestehen, dass dieser Ort wunderschön ist – er wird seinen Ruf auf Erden gerecht, wenn ich mir einmal die Freiheit nehmen darf, dies zu behaupten. Nicht alle bekommen die Gelegenheit, im Wolkenschloss zu wohnen – ich bin mir darüber im Klaren und auch froh, dieses Privileg bekommen zu haben, denn nun bin ich von all dem Schmerz befreit.
Die dichten Wolken lösen sich voneinander und lassen ein gewaltiges Loch im Erdboden zurück. Ich wundere mich zuerst – was soll das bedeuten? – bis ich mich mit vorsichtigen Schritten nähere und hinunterschaue. Dieser Mann, der dort in seinem Haus auf dem bequemen Sofa sitzt – ist es die Möglichkeit? Sein Anblick faziniert mich; ich fühle eine tiefe Verbundenheit zu ihm, obwohl ich ihm keinen Namen zuordnen kann. Ich lege mich auf den weichen Boden hin und strecke meine Hand zu ihm aus – so weit, dass ich plötzlich aus allen Wolken falle und auf die Erde stürze. Ich stehe direkt hinter ihm; er hat mich nicht bemerkt.
Ich stütze mich hastig auf und verstecke mich hinter eine weiße Bücherwand, die den Raum in zwei Hälften teilt. Es scheint so, als lese er viel. Er liest sogar just in diesem Moment, wie ich erst jetzt bemerke. Das Buch, das er liest, hat einen schwarzen Einband und ist wohl bereits etwas älter, wie die sichtbaren Wasserflecken verraten. Plötzlich steht er auf.
"Wer ist da?", ruft er in den Raum, während er sein Buch auf den kleinen Rundtisch neben dem Sofa ablegt, "Hallo?" Ich quetsche mich hinter einer engen Lücke zwischen dem Regal und der Wand, um unerkannt zu bleiben.
"Ist da jemand?", wiederholt er mit seiner tiefen Stimme und schaut sich im Raum um. Sein Blick wandert zuerst von der alten Glasvitrine, in der er Gläser aufbewahrt, zu den verrosteten Heizkörpern, bis er schließlich seinen Blick auf die Bücherwand konzentriert.
"Was machst du hier?", fragt er sich, während er mir deutlich in die Augen schaut. Ich frage mich einen Moment lang, ob ich ihm antworten soll, bis er mir näher kommt und seine Hand zur Begrüßung hinhält, als wolle er einen alten Freund Hallo sagen. Ich komme aus meinem Versteck hervor.
"Ich weiß es nicht", antworte ich ihm, was ihn nicht zufriedenzustellen scheint.
"Wie, du weißt es nicht?", fragt er erneut nach, "Wir haben uns solange nicht mehr gesehen und nun weißt du nicht, was du hier machst?" Ich überlege, was ich ihm antworten soll.
"Ich war schon einmal hier?", denke ich laut nach, "Ich habe dich schon Mal besucht?"
"Ja, du wohntest hier einst", sagt er mit ruhigem Ton, "mit mir." Mein Atem stoppte.
"Wie?", reagierte ich fassunglos, "Wie konnte ich das nur vergessen?" Das Licht der Sonne sucht sich seinen Weg durch das Loch in den Wolken und scheint durch das Wandfester direkt auf mein Haupt.
"Ich erinnere mich", flüstere ich leise vor mich hin, als ich mich an meinen letzten Besuch erinnere, "Es ist viel Zeit seitdem vergangen."
"Meinst du?", kontert er, "Die Zeit ist endlos und unvorhersehbar – es ist schwierig, sie einzuordnen." Seine Aussage verwirrt mich und doch kommt sie mir aus irgendeinen Grund bekannt vor. Mein Kopf beginnt seltsamerweise wehzutun – normalerweise vollkommen unmöglich – und ich schließe meine Augen, um mich auf den Schmerz zu konzentrieren. Ich atme einmal tief ein und darauf einmal tief aus, bevor ich meine Lider wieder öffne und erkenne, dass er verschwunden ist.
"Hallo?", rufe nun ich in den leeren Raum, "Wo bist du hin?" Ich nähere mich den alten Schrankvitrinen und begutachte die alten Gläser, von denen einige schon einen milchigen Schimmer besitzen, aber immerhin mit einem goldenen Glasrand verziert sind. Am Fenster fliegt plötzlich ein Vogel vorbei, eine Blaumeise, die meine Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Er versteckt sich in einem kleinen Vogelhäuschen aus Holz, das direkt vor dem Fenster aufgestellt worden ist und dies augenscheinlich schon seit mehreren Jahren, wie der dunkelgrüne Moos auf dem Dach verrät. Der Vogelfutterkolben ist bereits leer und hängt nur noch als loser Plastikdraht vor dem Eingang des Vogelhäuschens.
Und dann höre ich es Schnarchen – jemand schnarcht im Nebenzimmer, das scheinbar das Schlafzimmer des Mannes ist. Ich schleiche mich an die weiße Tür heran und versuche, die Türklinke leise und unbemerkt nach unten zu drücken, um sie einen Spalt zu öffnen. Es gelingt mir schließlich und ich habe einen direkten Blick in das Zimmer. Über dem Bett, das im Mittelpunkt steht, ist ein wunderschönes Gemälde einer Waldlandschaft. Links und rechts steht je ein Nachtschrank mit einer altmodischen Touchlampe drauf. An der Wand befindet sich ein großer Kleiderschrank, der an seinen Ecken bereits abgenutzt ist und aus dem zwei Motten hinausfliegen.
Ich verliere mich für einen Moment, doch dann kehre ich zu meinem eigentlichen Motiv zurück und gehe dem Schnarchen auf die Spur. Kaum ist Zeit vergangen, nachdem ich anfangen habe, mich diesem zu verpflichten, sehe ich ihn, wie er im Bett liegt und schnarcht. Er atmet zuerst unruhig, doch dann wird sein Atmen mit jedem neuen Atemzug ruhiger und langsamer bis er schließlich gar nicht mehr atmet. Vollkommene Stille. In diesem Moment sehe ich wie Bild für Bild, Falte für Falte sein junges Gesicht prägt und es in das eines alten Mannes mit Glatze verwandelt. Ich frage mich, was geschehen ist, bevor ich mich dazu entscheide, nach ihm zu sehen. Doch bevor ich dies in die Tat umsetzen kann, löst sich sein Körper auf und lässt ein leeres Bett zurück. Ich starre in die Leere, bis mir wieder alles einfällt – wer er war und wer ich bin. Die Zeit ist gekommen, um zu verstehen.
"Ich wünschte, ich könnte dir noch sagen, dass ich dich all die Zeit liebte und dich nicht vergessen habe wie die anderen Dinge", flüsterte ich leise vor mich hin, "denn du bist unvergesslich."
"Du solltest es dir immer im Voraus überlegen, wenn du dir etwas wünschst", sagt mir eine Stimme, "denn manchmal, wenn man an seine Träume glaubt, kann es sein, dass diese in Erfüllung gehen." Ich drehe mich um und schaue ihm, sein jüngeres Ich, das ich einst kennenlernte, in seine ausdrucksstarken kastanienbraunen Augen. Er streckt seine Hand aus.
"Nimm meine Hand", bittet er mich, "Es ist Zeit, zu gehen."
"Wohin?", frage ich neugierig nach, "Wohin gehen wir?"
"An einen wundervollen Ort", antwortet er mir, "wo wir für immer zusammen sein werden."
Ich nehme seine Hand – wir stehen wie früher Hand in Hand in unserer Wohnung und können uns auf nichts anderes konzentrieren als auf uns selber. Das warme Sonnenlicht der Sonne strahlt vom Wolkenschloss aus durch das Wolkenloch auf uns nieder und zieht uns wie Motten vom Licht an. Ich sehe ihn an, während ihm weiche, weiße Flügel wachsen – auch mir wachsen welche, wie ich kurz darauf bemerke. Wir fliegen Hand in Hand auf das Licht, dem Ungewissen, hinzu und verschwinden zwischen den dichten Wolken.