Willkommen zum Vote der ersten Runde unseres schnellen Schreibturniers!
Die Aufgabenstellung lautete:
Wir treffen uns thematisch diese Runde "Am Bahnhof" und dabei dürft ihr euch aussuchen, ob ihr einen Pokémon-Bezug haben wollt oder nicht. Ob ihr überhaupt ankommt in dem Glücksspiel namens Fahrplan oder ihr auch eine ganz andere Interpretation von der Begrifflichkeit findet, denn ein Bahnhof ist in der Kunst schon auf vielerlei Arten umgesetzt worden und manchmal warten wir auf einen Zug, manchmal vielleicht auch auf ganz andere Dinge. Es bleibt ganz euch überlassen, was ihr für euch entdeckt, solange es dabei um ein Werk der Epik handelt, also eine Geschichte in Textform, und die maximale Wortbegrenzung von 2000 Worten eingehalten wird. Natürlich müsst ihr diese Grenze nicht ansatzweise ausschöpfen. Von Drabble bis Kurzgeschichte ist alles möglich. Also ran an die Wagons und Abfahrt!
Die wichtigsten Informationen zum Vote findet ihr hier kurz zusammengefasst:
- Voten könnt ihr bis zum 10.09., um 23:59 Uhr.
- Vergebt für jede Abgabe Punkte zwischen 1 (gefällt mir nicht) und 10 (gefällt mir sehr gut).
- Es ist auch möglich, halbe Punkte (z.B. 2,5 Punkte) zu nutzen.
- Dieser Wettbewerb findet anonym statt. Vergebt deshalb bitte auch für eure eigene Abgabe Punkte. Punkte, die ihr an eure eigene Abgabe vergebt, werden nicht gezählt. Stattdessen erhaltet ihr einen Punkteausgleich.
- Begründungen sind nicht verpflichtend, aber gerne gesehen. Wenn ihr eine Begründung schreiben möchtet, findet ihr in unseren Tipps zum Voten ein paar Anregungen. Für einen begründeten Vote könnt ihr zudem eine Medaille vom Typ Fee beantragen.
- Nutzt für euren Vote bitte die folgende Voteschablone:
Abgabe 01: xx/10
Abgabe 02: xx/10
Abgabe 03: xx/10
Abgabe 04: xx/10
Abgabe 05: xx/10
Abgabe 06: xx/10
Abgabe 07: xx/10
Abgabe 08: xx/10
Abgabe 09: xx/10
Abgabe 10: xx/10
Abgabe 11: xx/10
Abgabe 12: xx/10
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Langsam balanciere ich auf einer Schiene entlang, immer einen Fuß vor den anderen. Ich genieße die Ablenkung, die ich mir zugestehe. Keine Gedanken.
„Sei vorsichtig“, ruft Mina zu mir herüber. Sie hat es sich im weichen Gras bequem gemacht und lehnt mit dem Rücken gegen den Bahnsteig.
Leichtfüßig springe ich über einen dünnen Baum, der wohl im letzten Sturm über die Gleise gefallen ist. Zwar schwanke ich ein bisschen beim Aufkommen, aber dann drehe ich mich um und grinse meine Freundin an. „Was soll passieren? Soll ich umknicken und mir den Knöchel brechen?“
„Zum Beispiel“, erwidert sie, doch ich springe trotzig wieder zurück. Mina verdreht die Augen. „Wir werden auch nicht jünger …“
„So alt sind wir auch wieder nicht!“
Trotz der leichten Worte hing die Nervosität zwischen uns, also mache ich mich auf den Weg zu ihr zurück, drücke mich am Bahnsteig nach oben und lasse meine Beine baumeln. Früher, als noch die Züge ins Unbekannte fuhren, hatte ich das alles immer mal machen wollen. Ich würde mich nicht davon abhalten lassen, es jetzt zu tun.
Die Geschäftigkeit genau wie die Trostlosigkeiten scheinen heute weit weg. Das frische Grün des Grases, das die Gleise eingenommen hat, die jungen Blätter der Bäume … Heute ist alles hier so friedlich. Ich schließe die Augen, lasse mein Gesicht von der Sonne wärmen und versuche, mich auf den Gesang der Vögel zu konzentrieren. Doch immer wieder schleichen sich andere Bilder in meinen Kopf.
„Er sollte langsam mal kommen, oder?“ Minas Stimme zittert leicht, also öffne ich die Augen, um sie beruhigend anzusehen.
„Es waren zehn Jahre. Da kommt es auf ein paar Minuten nicht an.“ Ich versuche, unbeschwert zu klingen, aber ich erinnere mich nur zu gut an das letzte Mal, als ich an diesem Bahnhof auf Len gewartet habe.
Unruhig tigerte ich in der kleinen Eingangshalle auf und ab. Ruß und Staub, die ich dabei aufwirble brannten mir in der Lunge. Bei jedem Geräusche zuckte ich zusammen. Ich wusste, dass es viel sinnvoller wäre, mich zwischen den Geröllhaufen mit Mina und den anderen zu verstecken. Aber ich konnte nicht. Und ich würde dort nur verrückt werden.
„Jin?“
Abrupt drehte ich mich um und entdeckte eine kleine Gestalt vor den Trümmern eines Ladens, der früher einmal süßes Gebäck und andere Leckereien verkauft hatte. Inzwischen hatte er seinen Zauber eingebüßt, was wohl nicht zuletzt daran lag, dass die Decke eingestürzt war und alles Schöne unter sich begraben hatte.
„Lisa, was machst du denn hier?“, fragte ich und trat sofort ein paar Schritte auf sie zu. Das kleine Mädchen wirkte winzig vor den riesigen Trümmern des Bahnhofs. Die Sonne stand tief und die Schatten des Zwielichts ließen es fast wie einen Geist erscheinen, trug es doch noch immer das helle Nachthemd. Seit der Evakuierung.
„Du machst dir Sorgen“, antwortete Lisa, ohne wirklich zu antworten. Sie konnte nicht älter als sieben sein, aber in ihren blaugrünen Augen lag eine Weisheit, die von einem Leben in Schlachten und Kriegen zeugte. Wir alle hatten zu schnell erwachsen werden müssen.
Als ich vor ihr ankam, ging ich in die Hocke, um ihr direkt in die Augen sehen zu können. Sofort fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert, wie verloren ich mich gefühlt hatte, selbst als dieser Bahnhof noch nicht in Trümmern lag. Schnell schob ich die Erinnerung beiseite und konzentrierte mich wieder auf das Mädchen vor mir. „Mina macht sich bestimmt auch Sorgen, wenn sie merkt, dass du nicht mehr da bist.“
Lisa machte einen Gesichtsausdruck, der mir zwar zustimmte, aber gleichzeitig zeigte, dass ihr das gerade nicht wichtig war. „Auf wen warten wir?“, fragte sie schließlich.
„Sein Name ist Len“, begann ich zu erklären. Warum sollte ich auch nicht. Ich musste nur darauf achten, aufmerksam zu bleiben. „Er findet einen Weg hier raus.“
Ein einziger Blick in Lisas Augen sagte mir, dass sie mir nicht glaubte. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Der Schotter um uns, der Staub, der durch die Luft wirbelte, der Geruch von Qualm, der nie ganz verschwand, nichts davon ließ viel Optimismus zu. Aber ich vertraute Len. Ich wusste, dass er es schaffte.
„Wir sind zusammen hier angekommen, weißt du? Len, Mina und ich. Bevor der Kampf bis hierher vorgedrungen ist. Damals stand Len vor uns und hat gesagt, wir würden Zug fahren. Er hätte einen Ort gefunden, an dem wir sicher waren. Dies war unser Endbahnhof.“
Ungläubig sah Lisa sich um. Vielleicht versuchte sie den Ort als sicheren Hafen zu sehen. Ob sie sich überhaupt an funktionstüchtige Züge erinnern konnte?
„Hattet ihr auch keine Eltern?“, flüsterte sie schließlich.
Ich schüttelte den Kopf, weil ich es nicht schaffte, die Lüge auszusprechen. Meine Eltern waren einverstanden – ich hatte mich trotzdem davongestohlen. Und ich wurde das Gefühl nicht los, sie niemals wiederzusehen.
Tröstend legte Lisa eine Hand auf meinen Arm und ich musste Lächeln. Sie versuchte immer noch Trost zu spenden, egal wie einsam und verwirrt sie sich selbst fühlen musste.
„Len kommt. Und er findet einen Weg“, versicherte ich noch einmal. „Und jetzt bringen wir dich zurück zu den anderen.“
Es war mühsam, zu dem Gleisbett zu gelangen, in dem sich Mina mit den anderen Kindern des Waisenhauses versteckt hielt. Wir mussten über verschiedene Trümmerhaufen, aber auch noch fast intakte Abgrenzungen klettern und ich begann mich zu wundern, wie Lisa diesen Weg überhaupt alleine geschafft hatte. Vielleicht kam auch das vom zu schnellen Erwachsenwerden.
Minas Augen wurden riesengroß, als sie uns schließlich entdeckte. Alle anderen Kinder hatte sie vorsorglich hinter sich geschoben, bereit mit ihnen über einen anderen, versteckteren Weg zu fliehen.
„Lisa!“, flüsterte sie mit schulderfülltem Blick. „Ich hatte gar nicht bemerkt, dass jemand fehlte …“
„Ist ja alles gut gegangen“, spielte ich die Situation herunter, die tatsächlich deutlich schlimmer hätte enden können. „Jetzt wird Lisa aber eh hier bleiben. Nicht wahr?“ Erwartungsvoll sah ich das Mädchen an, das bedeutungsvoll nickte und schließlich in der Menge der anderen Kinder verschwand.
Ich wollte mich schon wieder umdrehen, da hielt Mina mich zurück. „Jin, es ist dunkel.“
„Dann findet er uns nicht, wenn ich bleibe“, hielt ich dagegen, doch sie ließ nicht locker.
„Du solltest nicht im Dunkeln über die Trümmer klettern. Was ist, wenn du umknickst?“ Mina war schon immer die vorsichtigste von uns.
„Ich werde aufpassen“, versprach ich, dann wandte ich mich los und machte mich auf den Weg zurück in die Bahnhofshalle.
Tatsächlich dauerte es länger als mit Lisa zusammen, weil ich mich immer weniger auf meine Augen verlassen konnte. Außerdem hielt ich häufiger inne, um zu lauschen. Aber alle Geräusche schienen von außerhalb des Bahnhofs zu kommen.
Die Dunkelheit ließ den Bahnhof wie ein Monster erscheinen. Nichts mehr erinnerte an den lebhaften Ort, an dem wir vor Jahren angekommen waren. Ein bisschen erinnerte er mich an einen Zombie. Gestorben, aber noch nicht ganz tot. Zumindest hofften wir, dass er uns noch einmal ein Tor in eine neue Welt sein konnte.
Ich wusste, es war töricht, einfach wieder in der Eingangshalle zu warten. Ohne Deckung, ohne Verteidigung. Aber mit Len hatten wir nur den Bahnhof als Treffpunkt ausgemacht. Also würde er vermutlich durch die Eingangshalle kommen. Wenn er denn an diesem Tag überhaupt noch kam. Immerhin hatten wir nicht gewusst, wie schnell wir das Waisenhaus hatten evakuieren müssen.
Wo vorhin noch Ruhelosigkeit gewesen war, drückte nun die Erschöpfung und ich ließ mich auf einem der Trümmer des eingestürzten Daches nieder.
Len würde kommen. Und er hätte einen Plan. Ich vertraute ihm mit meinem Leben. Das hatte ich immer. Die letzten Jahre hatten uns zusammengeschweißt. Mina, Len und ich, wir waren wie Geschwister. Er würde kommen.
Ich wusste nicht, wie lange ich einfach nur dasaß. Mir war klar, dass ich zu Mina zurückkehren sollte. Es war nicht sinnvoll, wenn wir beide die ganze Nacht wach blieben. Meine Lider fühlten sich bereits schwer an, auch wenn an Schlaf nicht zu denken war. Langsam erhob ich mich, zögerte meine Rückkehr noch etwas hinaus, da hörte ich plötzlich ein Geräusch.
Sofort schnellte mein Blick zu den zerbrochenen Resten der gläsernen Eingangstür. Mein Körper entspannte sich schon, ehe mein Gehirn realisiert, wessen Silhouette es dort sah. „Len“, flüsterte ich so laut, wie ich mich traute, und ohne wirklich mitbekommen zu haben, wie ich zu ihm gelangt war, lag ich in seinen Armen.
„Jin“, seufzte er mit einer Erleichterung in seiner Stimme, die mir das Herz brach.
Ich wusste nicht, ob er Schmerzen hatte. Gute oder schlechte Neuigkeiten. Ich gestattete uns einfach diesen Moment. Schließlich war er der erste, der sich von mir löste.
„Wo sind die anderen?“
„Versteckt.“ In der Dunkelheit konnte ich seine Gesichtszüge kaum ausmachen und traute mich kaum zu fragen: „Hast du einen Weg?“
Ich spürte sein Lächeln mehr, als dass ich es sah, dann nahm er meine Hand und drückte sie fest. „Eine alte U-Bahn-Strecke zum Hafen und hilfsbereite Fischer“, antwortete er. „Es wird gefährlich, aber ihr werdet das schon schaffen. Die Einzelheiten erkläre ich, wenn wir bei den anderen sind.“
„Moment, stopp. Du kommst nicht mit?“
„Jin …“
„Len!“ Das konnte er nicht ernst meinen. Wir konnten uns doch nicht trennen. Wir waren ein Team. Wir gehörten zusammen.
„Ich kann hier noch so viel helfen.“ Er merkte, dass ich widersprechen wollte und kam mir zuvor: „Ich erkläre alles, wenn wir bei Mina und den Kindern sind.“
Langsam nickte ich und führte ihn über die Trümmer. Wir schwiegen den ganzen Weg über, aber ich war trotzdem nicht richtig bei der Sache. Einmal knickte ich tatsächlich mit dem Fuß weg, aber der Schmerz verging schnell wieder. Anders als das Stechen in mir, weil Len uns verlassen wollte.
„Du hast es geschafft!“ Erleichtert fiel auch Mina Len um den Hals, als wir endlich bei ihr ankamen.
Dann beschrieb Len noch einmal, wie genau wir zum Hafen kämen und dort die richtigen Fischer fänden. „Ihr solltet sofort bei Sonnenaufgang aufbrechen, um so schnell wie möglich in die Tunnel kommen und weniger lange leicht sichtbar zu sein. Ich werde hier bleiben und weiter bei der Evakuierung helfen“, schloss er seinen Bericht.
„Du kommst nicht mit?“, fragte nun auch Mina.
„Tut mir leid.“ An der Art, wie er unseren Blicken auswich, merkte ich, dass er es ernst meinte. Dann aber fügte er mit fester Stimme hinzu: „Ich weiß einfach, dass ich hier so viel mehr tun kann.“
Stumm schüttelte ich den Kopf und Mina traten die Tränen in die Augen. Aber inzwischen hatten wir beide erkannt, dass wir ihn nicht umstimmen könnten. Er hatte ja recht. Wir taten alle, was wir konnten.
„Was ist, wenn …“ Mina schaffte es nicht, die Frage zu beenden. Ich verstand es sehr gut. Ich hatte mir nicht einmal erlaubt, daran zu denken.
„Wird nicht passieren“, versicherte Len, auch wenn wir alle wussten, wie leicht diese Zeit ihn Lügen strafen könnte. „Wir treffen uns einfach wieder. Wenn das alles vorbei ist. Hier, im Reich der Neuanfänge. Es wird nicht mehr lange dauern.“
„Das wird nicht so einfach“, entgegnete ich. „So schnell geht das nicht.“
„In zehn Jahren“, sagte Mina entschlossen. „Da muss alles vorbei sein. Heute in zehn Jahren treffen wir uns wieder hier.“
Manchmal habe ich noch immer Angst, dass der Frieden trügt. Aber die frische Luft und die sanfte Brise versichern mir, dass es wirklich vorbei ist.
„Er wird kommen“, sage ich. Aber jetzt, da ich still sitze, holt mich die Unruhe doch wieder ein. Weder Mina noch ich haben es in den letzten Jahren geschafft, Len ausfindig zu machen. Uns blieb immer nur die Hoffnung auf diesen Tag. Nur was, wenn ich mich irre?
Mit einem Mal springt Mina auf die Beine. „Jin!“, ruft sie noch, dann rennt sie die Gleise entlang, auf denen ich eben noch balancierte. Im nächsten Moment erkenne ich den Grund ihrer Aufregung in Form einer einsamen Gestalt, die uns entgegen kommt. Sie humpelt ein wenig, aber sie ist am Leben.
Wieder merke ich kaum, wie ich zu ihm gelange, ich merke nur, wie wir alle ineinander verschlungen auf die Gleise sinken. Meine Wangen sind überdeckt mit Tränen.
Lens Stimme ist rau, aber so vertraut in meinen Ohren, als er flüstert: „Endlich zuhause.“
Es stank nach Rauch, Taubenmist bedeckte das Pflaster. Eine Leuchtreklame brummte sich hinter uns leise in den Schlaf, ihr greller Schein erhellte das rote Gesicht neben mir. Meine kalten Lippen brachten endlich die Worte hervor, die im Stechen meiner Brust so lange gewartet hatten:
„Wann sehen wir uns wieder?“
Die Atemwolke seiner Antwort wehte mit dem Fahrtwind davon und das Zischen der Wagons ließ keine Silbe blicken. Der Moment war endlos. Es kribbelte in meinen heißen Ohren. Die Zeit stand still. Es trommelte in meinen dumpfen Fingern. Taubblind musste ich seine Antwort spüren, als der Schnellzug in der Ferne verschwand.
Unsere Zeit war abgelaufen. Wir wussten, dass dieser Tag kommen würde. Wir hatten unser Möglichstes getan, diese unumstößliche, grausame Wahrheit zu verdrängen.
Nun stehen wir hier. Ich drücke dich fest an mich, halte dich umschlungen. Wenn ich könnte, würde ich dich nie wieder loslassen. Doch wir wissen beide, dass das nicht möglich ist. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich bekomme kein Wort heraus; selbst wenn mein Leben nun davon abhängen würde. Ich unterdrücke die Tränen, die meine Sicht bereits verschwimmen lassen. Deine weichen Haare kitzeln mein Gesicht und ich atme deinen Duft ein. Ich drücke dich fester an mich. Du schaffst es, gefasster zu sein als ich, dabei bist du es doch, die mich verlässt, zurückkehrst in deine Heimat, doch dein Zuhause alleine lässt.
Ich kann es nicht mehr halten. Ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle, die Tränen laufen heiß über meine Wangen. Deine Hände fahren sanft über meinen Rücken. "Ich liebe dich", flüsterst du in mein Ohr, "alles ist gut. Denk dran, ich mache nur einen kurzen Besuch, bald bin ich bald wieder zuhause." Eine bittersüße Lüge, die es nicht schafft, die ersehnte Linderung zu bringen. Uns beiden ist schmerzlich bewusst, dass unsere Zeit zu zweit begrenzt ist.
Ich will dir antworten. Doch ich schaffe es nur, meinen Kopf zu bewegen. Ich will nicht, dass du gehst. Ich will nicht wieder alleine sein. Ich will keine Abschiede mehr. Ich will keine Telefonate mehr. Ich will keine Tränen mehr, keinen Trost. Ich will dich berühren, wann immer es geht– wann immer ich mich danach sehne. Ich will für dich da sein, wann immer du mich brauchst. Ich will dich für immer bei mir haben. Ich–…. ich hasse diese Distanz.
Du löst dich sanft von mir und deine Hand wandert zu meiner Wange. Mit deinem Daumen streichst du mir liebevoll die Tränen aus dem Gesicht, während dir doch selbst welche hinablaufen. Ich bewundere deine Stärke. Eine Stärke, die ich nicht habe. Ich lege meinen Kopf auf deine Schulter und lasse los. Ich weine, halte mich nicht mehr zurück.
Ein Lautsprecher knackst und eine undeutliche Stimme ertönt: "Gleis 1 Einfahrt: ICE nach Frankfurt. Vorsicht bei der Einfahrt." Ich schreie innerlich. Alles in mir verkrampft sich. Ich weiß, dass es unumgänglich ist. Dieser Zug wird hier halten, du wirst einsteigen und dann auf unbestimmte Zeit von mir getrennt sein.
Ich versuche, stark zu sein. Ich weiß, dass du damit genauso kämpfst wie ich. Mein Kopf hebt sich. Ich reibe meine Hände über mein Gesicht. Ich schlucke und schniefe. Heulen ist keine schöne Angelegenheit. "Ich liebe dich auch", schaffe ich zu sagen, "ich hasse Züge."
Du lächelst. Ich liebe dein Lächeln. Zauberhaft und wunderschön, genauso wie du. "Aber ohne Züge wäre ich nicht zu dir gekommen – und sie werden mich immer wieder zu dir zurück bringen, versprochen.“ Deine Stimme ist so fest und süß. Ich begreife nicht, wie du es schaffst, noch zu sprechen, aber der Klang macht mich glücklich. Deine Stimme, dein Duft, deine Berührungen, deine Anwesenheit – all das macht mich so glücklich wie nichts auf der Welt.
Ich schlucke und drücke dich wieder an mich. Ich spüre den kalten Fahrtwind des Zuges an meinem Rücken. Es donnert, knackt und quietscht. Der Reiter der Trennung ist eingetroffen. Erneut rollen die Tränen über meine Wangen.
Piepend öffnen sich die Türen des Zuges. Menschen strömen heraus. Sie stören mich. Es ist mir egal, ob sie mich verheult sehen, aber sie sind laut, aufdringlich, stören unsere letzten Augenblicke in inniger Zweisamkeit.
Noch einmal drückst du dich an mich, bevor du dich von mir löst. Ich spüre deine Wärme nicht mehr. Du bückst dich nach deiner Tasche. Ich nehme deine freie Hand und führe dich zur Tür. Du steigst ein. Ich halte dich fest, solange ich kann. Langsam gleiten unsere Finger auseinander. Du bist im Zug und ich am Gleis. Ich gehe die Schritte mit dir. Beobachte dich durch die Fenster, bis du einen Sitzplatz gefunden hast. Du siehst mich und lächelst. Deine Hände formen ein Herz. Ich mache es dir nach. Mein Lächeln zittert unter dem Druck der Tränen. Ich versuche, stark zu sein. Es mir nicht anmerken zu lassen. Ich will dir den Abschied nicht noch schwerer machen. Ich versuche, zu schlucken, doch mein Hals ist zugeschnürt. Du wirfst mir einen Kuss zu und ich erwidere ihn.
Knackend dröhnen die Lautsprecher. "Gleis 1 Abfahrt: ICE nach Frankfurt. Vorsicht bei der Abfahrt." Es piept wieder und die Türen schließen sich. Qualvoll langsam beginnt der Zug sich zu bewegen. Ich folge ihm. Ich will dich noch so lange sehen, wie ich kann. Doch der Zug ist schneller als ich. Mein Blick folgt ihm, bis ich ihn nicht mehr erkennen kann.
Eine unglaubliche Leere und Trauer erfüllt mich. Ich atme durch den Mund. Alles in mir ist taub. Am liebsten würde ich an Ort und Stelle einfach zusammenbrechen. Doch auch ich muss zurück in meine Wohnung. Ein leeres „Zuhause“ ohne Zuhause. Kalt und still wird der Ort sein und ich alleine darin.
Ich drehe mich um, um das Gleis zu verlassen. Während ich gehe, hole ich mein Handy aus der Tasche. Mit verschwommenem Blick sehe ich die Nachricht auf meinem Display: "Kopf hoch, bald sehen wir uns wieder, hier am Bahnhof ♡“
Ich stehe am Gleis und beobachte den herannahenden Zug, wohlwissend, dass er nicht halten wird. Er fährt durch, wie es alle anderen Züge vor ihm und nach ihm tun werden, als würde dieser Bahnhof, dieser Halt, gar nicht auf ihrer Karte existieren. Es tut weh. Vor langer Zeit schon kam mir die Erkenntnis, nachdem ich eins ums andere Mal vergeblich hingeeilt bin, sobald meine Ohren einen Zug vernommen haben. Damals wie heute eilen die Züge ohne ihre Geschwindigkeit zu reduzieren durch den Bahnhof. Ich bin die einzige Person, die ihn zu kennen scheint. Nie ist jemand Anderes hier. Kein Fahrgast, keine Schaffner, keine Punker, keine Junkies. Es ist friedlich, aber einsam. Nur ich bin hier. Tagein, tagaus beobachte ich die gewaltigen Fahrzeuge, die ihre Strecke befahren und diesen Bahnhof passieren, ihn aber nie direkt besuchen. Weshalb gibt es nur mich auf diesem riesigen Bahnhof? Wieso nur kommt sonst niemals jemand her? NWenn nicht gerade ein Zug vorbeifährt, ist es hier sehr ruhig. Um den Bahnhof herum ist dichter Nebel, der mir die Sicht auf die sonstige Umgebung verwehrt. Wie sieht es wohl außerhalb des Bahnhofs aus? Ich weiß es nicht. Gibt es dort Bäume und Landwege oder Hochhäuser und Menschenmengen? Letzteres wirkt kaum vorstellbar. In den Zeiten, in denen hier nichts fährt, drehe ich meine Runden auf dem Bahnhof und kontrolliere - als wäre es von Bedeutung - die Snackautomaten, die Mülleimer und staube die Sitzbänke mit dem Zipfel meines Oberteils ab. Jedes Mal wird es dadurch dreckig, doch sobald ich mich abends schlafen lege und am anderen Morgen erwache, ist es wieder sauber. Verwunderlich, aber ich kann es lediglich hinnehmen und hinterfrage es nicht mehr. Die Pflanzen der Bahnhofshalle bekommen niemals Wasser und doch leben sie weiter, erstrahlen in ihrer Pracht.
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Dieser Zug hält niemals an und befährt immer dieselbe Strecke. Ich bin der einzige Fahrgast. Dabei ist dies ein schäbiges Abteil und nicht eines der Ersten Klasse. Wie lange wir schon fahren, ist mir unbekannt. Immerzu sehe ich dieselben Bäume und Wege, sehe dieselben Häuschen an mir vorbeiziehen. Bisher war das jedenfalls so. Doch seit einiger Zeit ist es anders. Plötzlich sehe ich an einem verlassenen Bahnhof jedes Mal eine Person stehen. Ich kenne sie! Ich erkenne die gedrungene Gestalt mit den flatternden Klamotten; offensichtlich ist es hier stets windig.
Sie steht am Bahnsteig und beobachtet den Zug, jedoch ohne größere Interesse im Gesicht, wie ich bemerke, als wir dem Bahnhof näherkommen. Und dennoch wirken ihre Augen bittend, beinahe flehentlich, als sie den Zug von oben bis unten ansieht, jedes Abteil in Augenschein nimmt. Nur mich kann sie nicht entdecken, obwohl unsere Augen sich kreuzen, sich die meinen in ihren verhängen. Doch wie oft dieser Zug auch hier einfährt. Jahr für Jahr vergeht, in welchem ich nur warten kann, dass sie mich endlich bemerkt, obgleich es sinnlos ist. Anfangs ging ich, sobald dieser Bahnhof in Sicht kam, immerzu mit klopfendem Herzen ans Zugfenster, welches sich merkwürdigerweise nicht öffnen lässt, sodass meine Rufe ungehört bleiben und hoffte auf ein Ende dieser ewig langen Fahrt. Dennoch erscheint mir die Tatsache, dass ich sie auf dem Bahnhof sehen kann, wie ein Lichtblick, ein Trost dieser endlosen Reise. Vielleicht, wenn ich nur lange genug ausharre, ereignet sich etwas Neues? Wie lange wird dies dauern? Oder ist diese Hoffnung nur ein Ergebnis einer Illusion, beruhend auf meinen innigsten Wunsch, nach 50 Jahren wieder mit ihr vereint zu sein?
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In einem Krankenhaus:
"Doktor, Doktor! Die beiden Patienten scheinen aufzuwachen!"
"Wie ist das möglich? Nach so langer Zeit?"
"Da, ihre Augen öffnen sich!"
Überwältigt betrachten Arzt und Krankenschwester, wie die Patienten aus dem langen Schlaf erwachen und wie ihre Hände trotz ihres geschwächten Zustandes berühren, als hätten sie sich innigst danach gesehnt, wieder zueinander zu finden.
Fandom: Pokémon
Das silbrige Leuchten der Mondsichel ließ die Regentropfen wie kleine Kristalle aufleuchten, bevor sie sich in den Pfützen auf der Straße sammelten. Mein Keuchen und die hastigen Schritte auf dem Pflaster wurden vom Lärm des herabprasselnden Schauers verschluckt. Ich spürte die Nässe kaum, die durch meine dünne Kleidung sickerte. Nur nicht auf den feuchten Steinen ausrutschen, dafür war keine Zeit. Außer Atem bog ich aus einer Seitenstraße und erreichte endlich den Bahnhofsvorplatz. Ganz kurz blieb ich stehen, vergewisserte mich, dass unter dem goldenen Lichtschein der Straßenlaternen keine Fußgänger zu sehen waren. Der Platz war vollkommen menschenleer.
Ich schlich mich zu einem Seiteneingang und durchquerte eilig die Halle zu den Gleisen. Vorsichtshalber hielt ich meinen Kopf gesenkt, auch wenn ich bezweifelte, dass irgendein später Reisender auf ein kleines Mädchen aufmerksam werden würde. Dennoch klopfte mein Herz so laut, dass ich fürchtete, man könnte es durch die Wände des Bahnhofs hören. Ein einsamer Zug stand auf Gleis 13, durch die Scheiben sah ich ein paar schlafende Passagiere im Inneren. Ohne aufgehalten zu werden erreichte ich den allerletzten Bahnsteig und huschte über die Gleise. Obwohl ich eine Weile nicht hier gewesen war, kannte ich den Weg noch genau. In einer Ecke entdeckte ich die Nische, die gerade groß genug war, um mich hindurchzuschieben. Sogleich umfing mich Dunkelheit und ein modriger Geruch. Nach ein paar Schritten betrat ich ein kleines Gewölbe, in dessen Mitte ein alter, schwach erleuchteter Bahnwagong stand. Die Feuchtigkeit über diesen stillgelegten Bahngleisen schlug sich auf den rohen Steinen der behelfsmäßig zugemauerten Torbögen nieder. Langsam näherte ich mich und stieg die Stufen zur Tür hoch. Gedämpfte Stimmen drangen nach draußen zu mir. Ich sparte mir die Zeit zum Klopfen und drückte vorsichtig die Tür auf.
Der Innenraum war kaum noch als Zugabteil zu erkennen - vielmehr erinnerte er an eine chaotische Wohnung. Auf den Sitzbänken lagen abgewetzte Kissen und Decken und überall standen verschiedenste Möbelstücke herum - ein schiefer Schaukelstuhl, ein antikes Grammofon, wackelige Stapel aus einzelnen Schubladen. Sämtliche einigermaßen ebene Oberflächen waren mit Zeitungen, leeren Verpackungen und Unmengen anderer Gegenstände bedeckt. Ein Psiau schlief in einem Wäschekorb. Es war genauso wie letztes Mal, als ich hier gewesen war.
Als ich eintrat, hörte ich eine vertraute Stimme. Vor mir stand ein Mädchen mit langen schwarzen Locken und sprach mit einem Jungen, der an einem Tisch über Bergen von Papier saß. Er hielt eine Zeitung nach oben. "Hast du schon gehört? Vor ein paar Tagen soll es ein heftiges Zugunglück mit dem TMV gegeben haben!" Das Mädchen schüttelte resigniert den Kopf. "Statt Zeitungen solltest du lieber Essen besorgen", entgegnete sie mit einem sanften, aber bestimmten Ton. Dann wurde der Junge auf mich aufmerksam und schnappte nach Luft. Das Mädchen wirbelte herum. Ihre feindselige Mine wich jedoch einem überraschten Lächeln, als sie mich erkannte. "Was machst du denn hier?", grüßte sie mich und nahm meine Hände in ihre. Ich holte tief Luft, um mich wieder etwas zu fangen. Inzwischen wanderte der Blick des Mädchens prüfend über mich und registrierte meine schwere Atmung und vermutlich auch die ganzen blauen Flecken auf meiner Haut. Mit zittriger Stimme gelang es mir schließlich zu antworten. "Kann ich eine Weile hierbleiben?" Das Mädchen schien nicht verwundert zu sein. "Deine Eltern streiten wieder?", fragte sie mitfühlend und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich nickte schwach. "Ich halte das nicht mehr aus. Seit mein Vater zurück ist, ist es nur noch schlimmer geworden..."
"Natürlich darfst du hierbleiben, ist doch klar", erwiderte das Mädchen und umarmte mich. Ich lehnte meinen Kopf erschöpft gegen ihre Schulter. "Danke, Matière."
Die nächsten Nächte verbrachte ich in diesem Versteck, zusammen mit den anderen Kindern, die von zuhause fortgelaufen waren. Ich fügte mich in den Alltag der sogenannten Illumina-Gang ein und half im Haushalt und bei der Versorgung. Wenn ich im stillgelegten Zugabteil erwachte, fühlte ich mich merkwürdigerweise mehr zuhause als in meinem Kinderzimmer. Jeden Morgen legten alle Kinder gemeinsam einen Eid ab, dass wir niemals einem Erwachsenen von diesem Ort erzählen würden und dass wir das Wohl der anderen stets über unser eigenes stellen würden. Ich wusste, dass sie sich auf meine Hilfe verließen und dass ich auf sie zählen konnte. Wir waren praktisch eine Familie. Es war ein schönes Gefühl.
Tagsüber zog ich durch die Straßen und sammelte alles ein, was brauchbar war. Wir durchsuchten Abfallcontainer, Sperrmüllsammlungen und Flohmärkte. Geld hatte kaum jemand von uns, meist schlugen wir uns mit gefundenen oder stibitzten Kleinigkeiten durch. Wir hatten nicht viel, und doch wollte ich um keinen Preis nach Hause zurückkehren. Meine Mutter würde mich sowieso nicht suchen, wahrscheinlich erwartete sie einfach, dass ich nach ein paar Tagen wieder zurückkam. Wie die letzten Male. Und wenn nicht, war es ihr vermutlich auch egal.
Am Seiteneingang des Bahnhofs fiel mir nach wenigen Tagen ein kleines Mähikel auf, das dort dicht an die Wand gedrängt am Boden lag. Offenbar besaß es keinen Trainer, doch als wildes Pokémon würde es sich sicher nicht in dieser Nähe zu Menschen aufhalten. Einmal näherte ich mich ihm neugierig, woraufhin es ängstlich auf die Hufe sprang und mir mit einer Rasierblatt-Attacke drohte, bis ich mich zurückzog. Dennoch drehten sich meine Gedanken immer häufiger um das verlassene Pokémon. Warum saß es dort immerzu ganz allein? War es von seinem Trainer ausgesetzt worden...?
"Schon möglich", meinte Matière, als ich ihr davon erzählte. "Manchen Trainern geht es nur um die Stärke der Pokémon. Vielleicht wurde es zuhause nicht genug geliebt. Genau wie du."
Also beschloss ich, mich um das Mähikel zu kümmern. Im alten Bahnwagong lebten bereits mehrere Pokémon, die ein ähnliches Schicksal dorthin geführt hatte wie die Kinder. Sie alle waren verstoßen worden, weil sie nicht den Ansprüchen genügt hatten. Jeden Tag brachte ich dem kleinen Mähikel Reste des Essens vorbei, die in der Basis übrig geblieben waren. Anfangs wollte es davon nichts anrühren, doch bald schon verputzte es seine Tagesration gierig. Abgesehen von der wild wuchernden Schafgarbe vor dem Eingang des Bahnhofs konnte das Mähikel hier wohl kaum Futter finden.
Ich gab ihm den Namen Millefeuille und versuchte bei der täglichen Fütterung immer ein Stückchen näher an meine neue Freundin heranzukommen. Ihr Vertrauen zu mir baute sich nur quälend langsam auf, doch ich zwang mich, geduldig zu bleiben. Jeden Tag setzte ich mich einige Stunden in ihre Nähe und redete mit ihr. Ich erzählte ihr von Zuhause, von meinen Eltern und der Schule, vor der ich ebenfalls geflohen war. Von meinen Ängsten, gefunden und zurückgebracht zu werden, wo mein Vater mich wieder für schlechte Noten ohrfeigen würde und meine Klassenkameraden über meine zerschlissene Kleidung lästerten. Wo ich nichts anderes tun konnte, als mich in meinem Zimmer zu verstecken, wenn meine Eltern sich wieder anschrien und der Lärm mein Trommelfell zu zerfetzen drohte. Hier hinter dem Bahnhof war alles ruhig. Ich lehnte mich zurück, ließ mich ins weiche Gras fallen und schloss die Augen.
Etwas Feuchtes an meiner Nase weckte mich. Ich schlug die Augen auf und starrte direkt in zwei neugierige Mähikel-Augen über mir. Vor Schreck zuckte ich ein wenig zusammen, woraufhin Millefeuille ebenfalls erschrocken zurücksprang und sich wieder in ihre Ecke verkroch. Dennoch spürte ich eine überwältigende Euphorie in mir, als ich mich aufrichtete. So nah war sie mir bisher noch nie gekommen! Vorsichtig streckte ich die Hand nach ihr aus und wartete still ab. Ein paar Momente vergingen, in denen das Mähikel unsicher mit den Hufen scharrte und ängstliche Blicke in meine Richtung warf. Ich konnte ihr ansehen, wie ihre Neugier mit der Angst kämpfte. Doch dann trat sie zögerlich ein paar Schritte auf mich zu und schnupperte interessiert an meinen Fingerspitzen. Ich hielt den Atem an und erwiderte den Blick ihrer dunklen, glänzenden Augen, die mir zum ersten Mal völlig ohne Misstrauen entgegensahen. Ganz sanft streichelte ich über ihr Mäulchen und murmelte beruhigende Worte. Nach dieser ersten Berührung fiel ein Teil ihrer Angst von Millefeuille ab und schon bald begrüßte sie mich mit einem freudigen Mähen, wenn ich sie besuchen kam. Noch wollte ich sie nicht in die Geheimbasis der Gang bringen, weil ich befürchtete, dass die Unruhe und die vielen Kinder sie zu sehr verstören würden. Also beließ ich es vorerst dabei, täglich ein paar Stunden bei ihr zu verbringen. Wie sich herausstellte, war das kleine Mähikel sehr verschmust und ließ sich gern das flauschige Fell von mir bürsten, während wir in den Strahlen der Herbstsonne badeten. Wenn ich bei ihr war, fühlte ich mich so sorglos und glücklich wie schon lange nicht mehr. Es war alles perfekt... für diesen Moment.
Wir saßen auf der Wiese hinter dem Bahnhof, als ich eine Stimme in der Nähe hörte. Ich hielt in der Bewegung inne, mit der ich Millefeuille gestreichelt hatte, und sah alarmiert auf. Erneut ertönte die Stimme, die vermutlich einem Mann gehörte - diesmal deutlich näher. Er rief nach Mähikel. Vermutlich befand er sich bereits hinter der Ecke. Panisch rappelte ich mich auf und schob meine Arme ohne Zögern unter Millefeuilles Bauch. Mit Mühen hob ich sie hoch und taumelte unter der Last in Richtung eines Gebüschs, hinter dem ich uns beide eilig versteckte. Gerade rechtzeitig, bevor ein älterer Herr um die Ecke bog und die Wiese betrat. Er sah sich suchend um und rief erneut. Auf einmal spannte sich Millefeuille neben mir an und ließ ein lautes Mähen ertönen. Mit erleichtertem Gesicht wandte der Mann sich zu uns. Bevor ich Millefeuille daran hindern konnte, war sie aus dem Gebüsch hervorgesprungen und lief dem fremden Mann in die Arme, wo sie herzlich gegrüßt wurde. "Da bist du ja, mein Kleines. Wie geht es dir? Es tut mir so leid..." Meine Hände verkrampften sich. War das etwa der Trainer des kleinen Mähikel? Wo kam er auf einmal her? Er durfte Millefeuille auf keinen Fall einfach mitnehmen, sie war doch meine Freundin! Aber daran hindern konnte ich ihn auch nicht, sonst würde ich entdeckt werden und man würde mich nach Hause schicken... Mit einem Schlucken dachte ich an den Eid der Illumina-Gang, das Wohl anderer immer über das eigene zu stellen. War mir mein Wohl jetzt wichtiger als das von Millefeuille?
Als der Mann das Mähikel hochheben wollte, wand Millefeuille sich aus seinem Griff und tapste mit einem nachdrücklichen Mähen ein paar Schritte in meine Richtung. "Nanu, was hast du denn?", fragte der Mann verwundert und näherte sich. Bevor ich es verhindern konnte, hatte er mich gesehen. Doch zu meiner Überraschung grüßte er mich freundlich und fragte mich, ob ich mich mit dem Mähikel angefreundet hatte. Verwirrt nickte ich. "Mähikel sieht sehr gesund aus, ich danke dir!", erwiderte der Herr. "Vor ein paar Tagen wurde ich in einen Zugunfall verwickelt, nachdem ich Mähikel hier zurückgelassen hatte. Ursprünglich wollte ich es am Abend wieder abholen, aber dann wurde ich ins Krankenhaus gebracht und da ich keine Familie habe, konnte sich niemand Mähikel annehmen. Ohne deine Hilfe würde es ihm viel schlechter gehen! Aber wie bist du denn überhaupt herangekommen? Normalerweise ist es sehr schüchtern." Ein wenig verlegen stellte ich mich vor und erklärte dem Mann, wie ich Millefeuille gefunden hatte. "Millefeuille ist also sein Name? Mir ist leider noch kein hübscher Name für Mähikel eingefallen, aber dieser gefällt mir!" Ein kurzes Lächeln huschte über mein Gesicht, dann fragte ich mit zitternder Stimme: "Werden Sie sie jetzt mitnehmen?" Der Herr nickte bedächtig. "Millefeuille sollte nicht hierbleiben, wenn es kälter wird. Aber weißt du was?" Er kramte kurz in seiner Tasche und holte einen Zettel hervor, auf den er schnell etwas kritzelte und ihn mir dann in die Hand drückte. Darauf stand eine Adresse. "Hier. Wenn du möchtest, kannst du uns gern mal besuchen kommen!" Ein wenig überwältigt nickte ich, doch dann begann sich ein Strahlen auf meinem Gesicht auszubreiten. "Das werde ich tun, danke!" Ich streichelte Millefeuille noch einmal zum Abschied und flüsterte ihr ins Ohr: "Wir werden uns bald wiedersehen, keine Sorge." Ich würde sie vermissen, ganz sicher, doch bei ihrem Trainer würde es ihr besser gehen. Schließlich besagte der Eid der Illumina-Gang, dass man das Wohl anderer über das eigene stellen sollte. Als die beiden die Wiese verließen, winkte ich ihnen fröhlich und hüpfte davon in Richtung Bahnhof, zurück nach Hause.
Rika schnaufte, als sie das letzte Stück des Weges bestritt. Ihr geplanter einwöchiger Urlaub in diesem ihrer Meinung nach verschlafenen Dorf war für sie bisher sehr entspannend gewesen. Besonders die Wanderstrecken in der Umgebung luden dazu ein, sich inmitten der Natur einfach gehen zu lassen und die Sorgen des Alltags zu vergessen.
So ergab es sich, dass sie am vierten Tag einen Abstecher zu einigen verlassenen Gebäuden in der Umgebung wagte. Ein schon lange nicht mehr genutzter Bahnhof war sicherlich nicht das Ausflugsziel Nummer Eins, bot für Rika aber den perfekten Ort, um zu fotografieren. Sie konnte gar nicht zählen, wie viele tolle Aufnahmen sie bereits in der Natur gemacht hatte. In der Stadt wäre das in dieser Art und Weise niemals möglich gewesen. Ein verlassener Bahnhof würde die perfekte Einleitung für ihr nächstes Fotoalbum abgeben.
So kam die junge Frau nun also bei besagtem Bahnhof an. Die Fassade wirkte von außen sehr blass und es machte den Anschein, als wäre hier schon lange keine Menschenseele mehr gewesen. Die teils zerbrochenen Scheiben in den Fenstern bestärkten diesen Eindruck nur weiter. Rika fühlte sich beinahe so, als würde sie die lange währende Ruhe an diesem Ort stören. Lediglich ein paar Vögel trällerten ihr Lied in die Natur hinein und erweckten den Anschein von Leben.
Sie trat nun durch den Vordereingang auf den verlassenen Bahnsteig. Auf dem Boden befanden sich überall Blätter und Zweige, die vermutlich durch den Sturm in der letzten Nacht verbreitet wurden. Ein Blick auf das einzige Gleis dieses Bahnhofs offenbarte Rika im Grunde genommen, was sie bereits erwartet hatte: Wucherndes Moos, viele Blumen und nicht zu vergessen das Unkraut, das sich hier breit machte. Tatsächlich musste sie ein bisschen über den Anblick schmunzeln. So oft sie solche Orte schon in Serien und Filmen gesehen hatte, so anders wirkten sie doch, wenn sie selbstständig aufgesucht wurden. Nicht einmal die eigene Vorstellungskraft konnte das so exakt wiedergeben.
Rika sah zur nahegelegenen Uhr, die vom Vordach des Bahnsteigs hing und deren Glas gesprungen war. Die Zeiger standen genau auf 10:03 Uhr. Es mutete beinahe ironisch an, dass ihre eigene Uhr am Handgelenk in digitalen Ziffern ebenfalls dieselbe Zeit anzeigte. Dementsprechend wartete sie einen kurzen Moment, um sicherzustellen, dass sich die Arme nicht bewegen würden. Wie erwartet trat dieser Fall nicht ein und sie kicherte über ihre eigene Vorstellungskraft.
Als Rika sich nun genauer umsah, bemerkte sie auf einer etwas entfernt liegenden Bank einen jungen Mann. Sie konnte sein Alter nicht einschätzen, allerdings saß er dort mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass man ihn für einen regelmäßigen Gast halten könnte. Zwischen seinen abgewinkelten Beinen hatte er einen kleinen Rucksack eingeklemmt. Offenbar war er selbst auf einer kleinen Reise. Sein Blick wanderte immer wieder kurz auf das Smartphone, mit dem er offensichtlich einen guten Empfang hatte. Fast so, als würde er regelmäßig die Uhrzeit überprüfen.
Neugierig trat die junge Frau näher an ihn heran. Immerhin war sie nun doch interessiert, um wen es sich bei ihm handelte.
„Guten Morgen!“, rief sie und schickte sich an, sich neben ihn hinsetzen zu wollen. „Ist da noch ein Platz frei?“
Der junge Mann reagierte zuerst nicht auf sie. Er wirkte geistig abwesend, als sein Blick dem Verlauf der Gleise folgte. Schließlich drehte er sich zu ihr nach und bemerkte plötzlich, dass er nicht mehr allein war.
„Oh, Entschuldigung“, sagte dieser und griff sich mit den Fingern an die Stirn. „Ich habe gar nicht gehört, dass Sie da sind.“
„Kein Problem!“ Rika fand es tatsächlich etwas belustigend, dass er so sehr in seine eigenen Gedanken vertieft gewesen war. Sie deutete mit einem Finger auf den Platz neben ihm auf der Bank. „Ich habe nur gefragt, ob ich mich setzen könnte.“
„Ja! Ja, natürlich!“, beeilte sich der junge Mann zu sagen. Er griff dabei die Halterung seines Rucksackes und rückte etwas zur Seite.
Daraufhin machte es sich Rika gemütlich. Während sie ihre Reiseroute auf der Karte studierte und einen Schluck aus der Wasserflasche trank, sah er noch immer auf sein Smartphone. Ihr kam das Verhalten doch reichlich seltsam vor.
„Kommt der Zug etwa zu spät?“, fragte sie also, nachdem sie das kühlende Wasser geschluckt hatte. Sie hatte die Frage nicht ganz ernst gemeint, aber er nickte leicht mit dem Kopf.
„Ja. Hat schon genau acht Minuten Verspätung. Ich hoffe, er kommt heute noch.“
Rika war über die Antwort durchaus überrascht. Ob der junge Mann nicht wusste, dass der Bahnhof geschlossen war? Andererseits machte er optisch nicht den Anschein, als wäre er vollkommen weltfremd. Dementsprechend ging sie auf seine Aussage erst einmal vorsichtig ein.
„Dass Züge auch immer verspätet sein müssen! Manchmal frage ich mich selbst, warum die nicht besser organisiert werden können.“
„Das kann ich Ihnen sagen“, antwortete der junge Mann in Richtung der Gleise und Rika winkte mit einer Hand ab.
„Wir können uns gern duzen, wenn das genehm ist.“
Etwas überrascht blickte er sie nun mit großen Augen an. Anschließend lächelte er über das Angebot.
„Gerne! Weißt du, Menschen sind dazu da, dass Fehler gemacht werden. Also ist es auch nur natürlich, dass Züge zu spät kommen.“
„Das stimmt“, bejahte Rika die Feststellung. Sie hatte im Alltag oft genug damit zu kämpfen, ohne Probleme von einem Ort zum anderen zu gelangen. Aus diesem Grund genoss sie das Wandern noch deutlich mehr. Immerhin konnte sie sich so ihr eigenes Tempo vorgeben und war nie zu spät dran.
Als die beiden einige Minuten still nebeneinander saßen und der junge Mann noch immer die Uhrzeit checkte, reichte sie ihm die Hand.
„Rika. Also, so heiße ich“, fügte sie etwas nervös hinzu. Ihr Kopf wurde innerhalb kurzer Zeit heiß. Andererseits musste sie sich keine Vorwürfe machen, sich nicht sofort vorgestellt zu haben. Die beiden waren sich heute immerhin zum ersten Mal begegnet.
Er sah abwechselnd von ihrem Gesicht zu ihrer Hand und ergriff nun etwas zögerlich ihre Finger.
„John. Sehr erfreut!“
Daraufhin widmete er sich wieder seinen eigenen Gedanken. Allem Anschein nach hatte er wenig Interesse daran, ein Gespräch aufzubauen und das respektierte Rika. Mit einem Namen war die Kommunikation untereinander allerdings wesentlich einfacher als ohne.
Sie stand schließlich von ihrem Platz auf und zückte die Kamera. Von Johns merkwürdiger Art wurde sie bisher so sehr eingelullt, dass sie beinahe ihre Fotos vergessen hatte. Rika trat zwei Schritte nach vorn und drehte sich schließlich zu ihm hin.
„Macht es dir etwas, wenn ich ein paar Fotos schieße?“, fragte sie und er schüttelte mit dem Kopf.
„Nein, mach nur!“
Die kurze Antwort überzeugte Rika nicht vollständig. Jedoch nahm sie das zum Anlass, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen.
In den nächsten Minuten suchte die junge Frau interessante Motive vom Bahnsteig. Dadurch, dass sie keine Züge fürchten musste, konnte sie auch einige Ansichten von weit unten aufnehmen. Besonders die in die Ferne verlaufenden, schon etwas rostigen Schienen boten sich für interessante Aufnahmen regelrecht an.
Auch von John nahm Rika einige Fotos auf. Wie er allein auf der Bank inmitten des verwilderten Bahnhofs saß, empfand sie als sehr faszinierend. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie annehmen, dass er tatsächlich jeden Tag hierher kam und auf seinen Zug wartete.
Schließlich beendete sie ihre Fotosession und stieg von den Gleisen wieder auf den Vorsprung hoch. Der junge Mann seufzte laut.
„Dreiundzwanzig Minuten Verspätung. Ich frage mich, was ihn aufhält.“
Ein wirklich sonderbarer Geselle, wie Rika fand. Sie wollte ihm eigentlich nicht sagen, dass hier vermutlich nie wieder ein Zug vorbeikommen würde. Besonders nicht, nachdem sie bisher im Dialog mitgespielt hatte. Darüber hinaus wollte sie nicht den ganzen Tag hier verbringen, sondern zu ihrer nächsten Station aufbrechen.
In diesem Moment hatte Rika einen Einfall. Spontan schlug sie ihr ursprüngliches Ziel in den Wind und unterbreitete John einen Vorschlag.
„Wie wäre es, wenn wir den Zug suchen? Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen und nur wir können ihm helfen!“
Er blickte überrascht von seinem Smartphone hoch, als er erneut die Uhrzeit prüfen wollte. Ein Blick nach links und rechts in die Natur offenbarte ihm keine neuen Erkenntnisse und so zögerte er, auf die Frage einzugehen.
„Also … eigentlich wollte ich gerne warten.“
„Wenn du nur wartest, wirst du aber nicht an dein Ziel kommen“, gab Rika zu bedenken. Sie reichte John daraufhin die Hand, um ihm von seinem Platz hochzuhelfen. Während er regungslos noch einige Sekunden Bedenkzeit einforderte, nahm er schließlich das Angebot an.
Rika sprang erneut vom Vorsprung hinunter und sie sah John an.
„Von wo würde der Zug kommen?“, fragte sie. Er deutete schließlich nach rechts. Westen also, wie sie anhand der hoch stehenden Sonne erkannte.
„Wenn wir hier entlang gehen, könnten wir ihn sehen.“
„Okay! Dann auf geht’s!“
Mit heller Begeisterung stieg Rika nun auf die linke Schiene und wanderte auf ihr entlang. John folgte zögerlich in der Mitte des Gleises, bis er von ihr ermahnt wurde.
„Wenn wir schneller ans Ziel kommen wollen, musst du schon auf der anderen Schiene gehen!“
Verwirrt blickte der junge Mann nun auf das Konstrukt und stieg mit einigem Widerwillen hinauf. Er versuchte mehrere Male, die Balance zu halten, schaffte es anfangs jedoch nicht, sich länger als fünf Schritte zu halten. Rika kicherte, wenngleich nicht abwertend.
„Das benötigt viel Übung. Aber es macht Spaß, wenn man es beherrscht!“
John nahm die Freude der Frau zum Anlass, es weiterhin zu versuchen. Mit der Zeit konnte er sich immer länger auf der Schiene halten und schien nun den Bogen heraus zu haben. Als er zurückblickte, war der verlassene Bahnhof bereits außerhalb seines Sichtfeldes.
Mit einem Mal verspürte er Abenteuerlust. Er hatte den Bahnsteig verlassen und fühlte sich wie auf einer kleinen Reise. Beinahe so, als wäre er mit dem Zug unterwegs zu einem fremden Ziel. Wo immer ihn auch die Gleise hinführen würden, würde er dort etwas Neues erleben.
„Sag mal“, begann John nun und richtete das Wort an Rika. „Was machst du hier und wie kamst du zum Bahnhof?“
Sie lachte laut, als sie über die möglichen Antworten nachdachte.
„Das ist eine lange Geschichte!“
Die Deutschen hatten im Laufe ihrer Geschichte stets versucht, sich ihre Träume zu verwirklichen: 1871 machten sie ihren Wunsch wahr, eine geeinte Nation zu werden, und es hatte dafür nur drei blutige Kriege gebraucht. 1914 setzten sie ihren Traum in die Realität um, einmal Krieg gegen die ganze Welt zu führen, auch wenn sie diesen vier Jahre später verloren, und das gefiel ihnen so sehr, dass sie es 1939 gleich noch einmal wiederholten. Da danach aber die Welt aus irgendeinem Grund ein gewisses Misstrauen gegenüber deutschen Träumen hegte, wurde entschieden, ab sofort vielleicht ein paar kleinere Brötchen zu backen (oder zumindest keine, die mit Krieg, Tod und der Verwüstung Europas zu tun hatten).
An einem Montagnachmittag im Frühjahr 2023 saß nun David mit seinem Vater im Aachener Hauptbahnhof und genoss die Erfüllung des sehnlichsten Traumes, den die Deutschen in den vergangenen Jahren ersonnen hatten: In einem öffentlichen Gebäude ohne Maske zu sitzen. Manche würden vielleicht sagen, das sei nun doch ein bisschen albern und fantasielos, aber solange die Deutschen nicht wieder mit dem Krieg anfingen, sollte das mit der Maske ein ebenso gutes Substitut sein wie eigentlich fast alles andere.
Indes David feststellte, dass ein anderer deutscher Traum sich nach wie vor nicht erfüllt hatte, nämlich der mit dem pünktlichen Zug, und das bedeutete, dass er leider seinem Vater, der ihn das Wochenende besucht hatte, noch zwanzig Minuten – nein, es waren inzwischen dreißig – Gesellschaft leisten musste, wie es die große Zuganzeige ausgab.
„Du kannst eigentlich wieder nach Hause gehen“, sagte sein Vater. „Ich ertrage es hier auch alleine.“
„Nein, nein, das kommt überhaupt nicht in Frage“, antwortete David. Das war nur wieder einer dieser Tricks: Sein Vater sagte, es sei in Ordnung, wenn er ginge, aber natürlich war es das nicht, und er würde bis an sein Lebensende davon hören, denn sein Vater würde ihn überleben, dessen war er sich mittlerweile sicher.
„Magst du eigentlich Zucchini?“, fragte der Vater.
David zögerte mit seiner Antwort. Es war eine Fangfrage, es musste eine sein. Er hatte nichts gegen Zucchini, sie waren in Ordnung, aber gewiss würde der Vater ihm gleich jede Mengen Zucchini aus eigenem Garten in die Hand drücken, wenn er „Ja“ sagte. Dann wurde ihm bewusst, dass sein Vater ja die letzten zwei Tage bei ihm gewesen war. Wenn der Vater also Zucchini dabeigehabt hätte, hätte er ihm sie sofort gegeben, nicht erst am Tag der Abreise. Und überhaupt, es war doch noch gar nicht die richtige Jahreszeit für Zucchini. All demzufolge bestand also keinerlei Gefahr.
„Ja“, beantwortete David die Frage nach viel zu langer Bedenkzeit.
Der Vater holte sechs grüne Zucchini aus den Tiefen seines Reisemantels hervor und reichte sie David, der sie perplex entgegennahm.
„Woher hast …“, fing David an, als ihm der Vater schon ins Wort fiel: „Ich habe sie heute Morgen beim Gemüsehändler gestohlen, als ich spazieren war.“
„Gestohlen“, wiederholte David.
„Ja. Der Gemüsehändler war gemein zu einer Kundin, die zu wenig Geld hatte. Da dachte ich, er könne eine Abreibung vertragen.“
„Warum hast du sie nicht der Kundin gegeben?“
„Sie war schon weg. Aber du kannst die Zucchini ja an sie weitergeben, wenn du sie finden solltest. Sie war blond und mittelgroß.“
„Andere Details?“, fragte David.
„Sie trug einen beigen Mantel.“
Das half nicht wirklich viel, aber David entschied, es gut sein zu lassen und stopfte die Zucchini in die Taschen seiner Jacke.
„Die Reise wird hoffentlich nicht zu langweilig“, sagte der Vater.
David verstand den Hinweis; er stand auf, ging zu einem sich im Bahnhof befindlichen Zeitschriftengeschäft und kaufte die aktuelle konkret, um sie seinem Vater zu geben.
„Hoffentlich ist der Kaffee im Speisewagen in Ordnung“, fuhr der Vater fort.
David kaufte in einem Backwarengeschäft einen Kaffee in einem ToGo-Becher.
„Und das Essen … Das Essen in Zügen ist ja nie so gut.“
Nachdem David mit einer Box gebratener Nudeln vom China-Imbiss zurückgekehrt war, hatte der Vater nichts Neues zu sagen, jedenfalls für eine Zeit. Sie beide saßen nur da, während der Vater seinen Kaffee schlürfte und andere Vielbeschäftigte um sie herumwuselten, auf der Suche nach dem richtigen Gleis oder dem Ausgang.
Die politische Lage sei ja derzeit sehr angespannt, sagte der Vater. Rechtsextreme bei zwanzig Prozent!
David stimmte zu und dachte dabei, dass die Deutschen das mit dem Krieg, dem Tod und der Vernichtung vielleicht immer noch nicht aufgegeben hatten.
Und es gebe ja nichts, was dagegen getan würde, meinte der Vater. Alle würden sich lieber mit den Produkten der Kulturindustrie ruhigstellen statt tatsächlich etwas zu tun. Diese ganzen sozialen Netzwerke seien ein Graus.
Er sei sich da nicht so sicher, entgegnete David. Läge nicht gerade in diesen Netzwerken auch ein Befreiungspotenzial, eine Möglichkeit zur Aufklärung über die gesellschaftlichen Verblendungsverhältnisse? Würden nicht gerade dort die sonst gar nicht Gehörten zumindest eine Möglichkeit erhalten, dass das, was sie zu sagen hatten, einem Weltpublikum zugeführt würde, die ebenso bestehende Möglichkeit zur Verbreitung von Verschwörungstheorien, pardon: Verschwörungsmythen hin oder her?
Nein, antwortete der Vater, denn die Verfasstheit der sozialen Netzwerke entspräche letztlich auch nur den Gesetzen der Ökonomie, in dem Fall eben einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, und innerhalb dessen verkomme nun einmal jeder Einspruch gegen die Unterdrückung letztlich auch nur zu einem Mittel ihrer Aufrechterhaltung, und sei es nur, dass es das bisschen erlaubte Abweichung vom Status Quo darstelle, die letztlich seiner Verfestigung diene.
Aber sei es nicht möglich, sich auch innerhalb solcher Logiken ihrer bewusst zu werden, und darauf aufbauend das System letztlich doch zu zerstören? War nicht gerade das die Quelle des verbliebenen Optimismus aller Leute, die die Unterdrückungsverhältnisse thematisierten: Dass das Individuum sich ihnen trotzdem bewusst werden könne, egal, wie sehr es auch in sie eingehegt sei, ja, sei nicht vielmehr gerade dieser direkte Kontakt mit ihnen Fundament dafür?
„Unsinn“, erwiderte der Vater, und damit hatte sich die Diskussion wie so oft erledigt, nicht zuletzt auch deswegen, weil der Vater direkt mit dem nächsten Auftrag kam: „Ich hoffe, ich finde im Zug etwas, das meine Laune bessert.“
Wenige Minuten später kam David zurück und reichte seinem Vater das bestellte Sixpack Bier. Dabei verkniff er sich die rhetorische Frage, wer sich nun eigentlich wirklich hier ruhigstellen wolle. Es hatte keinen Sinn, denn sein Vater gehörte noch zu den Leuten, die sich ihr Linkssein in harter Theoriearbeit erworben hatten, anders als David, der nie das Durchhaltevermögen dafür gehabt hatte. So sagte es zumindest sein Vater selbst, und der musste es ja wissen.
Mit einem linken Theoretiker war nicht zu streiten, es sei denn, mensch war selbst einer, und dann würde der Angriff wohl irgendwie so aussehen, dass die Frage gestellt würde, ob dieser Fokus auf argumentative Dominanz nicht letztlich auch nur dem Zweck diente, eine westlich-patriarchale Ordnung statt zu stürzen eigentlich aufrecht zu erhalten, nur in anderer Form, und dagegen gäbe es wiederum Gegenargumente und, sofern die Diskussion online stattfand, Links über Links. So viele Links, und sie alle führten letztlich nirgendwohin.
Vielleicht hatte die Theorie den Tod verdient, dachte David. Aber vielleicht war das auch wieder nur plumper – David ertappte sich dabei, fast das hier sinngemäß falsche Wort „Zynismus“ sagen zu wollen – Resignationsdrang, der auch nur in die Unmündigkeit führte.
„Was macht eigentlich deine Arbeit?“, fragte der Vater.
„Ich bin immer noch arbeitslos, so wie gestern, als du mich das schon einmal gefragt hattest.“
„Ach ja.“ Der Vater schwieg einen Moment. „Der Zug hat wirklich viel Verspätung“, meinte er schließlich nach einem Blick auf die große Leuchtanzeige.
„Vielleicht hast du ja hier noch etwas zu tun“, antwortete David geistesabwesend. „Und deswegen kommt der Zug nicht.“
„Was meinst du damit?“
„Nichts, Vater“, erwiderte David. „Gar nichts, wirklich gar nichts. Ich weiß nicht, was ich rede.“
„Früher gab es hier im Bahnhof noch wirkliche kleinere Geschäfte“, meinte der Vater, obwohl er keine Ahnung hatte, ob das wirklich stimmte. „Heute sind überall diese großen Ketten.“
„Ja, schade.“
„Und alles geht so schnell. Keine Zeit mehr für ein Schwätzchen, nur noch Abfertigung. Erosion der menschlichen Beziehungen, Vereinzelung des Individuums.“
„Vermutlich.“
„Aber das ist vom System auch so gewollt“, fuhr der Vater fort. „Dass alles nur noch so schnell und effizient geht.“
„Ja, alles geht wirklich sehr schnell.“
„Und trotzdem haben die Züge Verspätung!“, entrüstete sich der Vater.
„Ein Paradox.“
„Es ist Dialektik.“
„Meinetwegen auch das.“
Der Vater zögerte. „Was passiert, wenn ich in den Zug einsteige?“, fragte er.
„Weiß ich nicht. Du fährst nach Hause, nehme ich an.“
„Aber wo ist das Zuhause in dieser Welt?“ Der Vater stützte seinen Kopf in seine Handfläche, als sei er ihm plötzlich zu schwer geworden, um nur vom Hals aufrecht gehalten zu werden. „Wo?“ Er gestikulierte mit seiner freien Hand durch den menschenerfüllten Bahnhof.
„Ich weiß es nicht“, sagte David. Er war sich sicher, früher ein Zuhause gehabt zu haben. Wo war es jetzt? Er hatte es irgendwann vergessen.
„Wenn ich in den Zug einsteige“, sagte der Vater, „dann bin ich wie sie. Wie alle anderen. Ich werde zwischen den anderen Leuten im Zug verblassen und verschwinden, zuletzt. Das Individuum wird in der Masse aufgehen.“
„Höchstwahrscheinlich.“
„David“, sagte der Vater eindringlich. „Ich will das nicht.“
„Du hast keine Wahl.“
„Ich habe keine Wahl?“ Der Vater kratzte sich am Kopf. „Nein, nein, du hast recht. Ich habe keine Wahl. Schau dich um.“
David schaute sich um. Die Leute hetzten an ihnen vorbei. In der Bäckerei schrie eine Mann die Bedienerin hinter dem Tresen an, die ihn kühl abfertigte. Ein Mann im Anzug kaufte sich im Zeitschriftengeschäft die aktuelle Wirtschaftswoche. Schreiende Kinder wurden von ihren Eltern durch den Bahnhof geschleift.
„Wir sind doch schon wie sie“, sagte der Vater. „Wir sind auch hier.“
„Gut möglich“, meinte David.
Der Vater stand auf. „Ich gehe zu meinem Gleis“, sagte er. „Möchtest du mitkommen?“
Eine Frage. Kein „Du möchtest bestimmt nicht mitkommen“, das die gegenteilige Reaktion herausforderte. Eine ehrliche, offene Frage.
„Nein“, sagte David.
„Das ist in Ordnung“, erwiderte der Vater. „Es ist ohnehin meine Reise, nicht deine. Ich gehe nach Hause.“
„Nach Hause“, echote David.
„Wann kommst du mal wieder nach Hause?“
David zögerte. „Vielleicht in ein paar Wochen.“
„Schön“, sagte der Vater. „Dann freuen sich alle.“
David wusste nicht, wer mit „alle“ gemeint sein sollte, aber nickte.
„Mach es gut“, sagte der Vater.
„Du auch.“
„Wir telefonieren“, log der Vater.
„Klar“, erwiderte David die Lüge.
Und damit verschwand der Vater die Stufen hinauf zu seinem Gleis. David blieb eine Weile alleine sitzen und lauschte dem Stimmengewirr, den Rufen und dem Schreien, den schnellen Schritten der Menschen und den vorbeiziehenden Gewittern lauter Rollkoffer. Irgendwo schlich sich zwischen den Lärm der leise Klang einer Gitarre.
Die Gitarrenspielerin vor dem Eingang musste wieder da sein. Sie saß immer im Schneidersitz auf dem Boden, auch bei klirrender Kälte, die Kleidung schmutzig und abgetragen, das bunt gefärbte Haar verfilzt, und spielte auf dieser ramponierten Gitarre.
David stand auf und folgte dem Klang der Musik nach draußen, wo ein später Schnee zu fallen begonnen hatte. Egal, wie sehr David sich bemühte, den fallenden Flocken auszuweichen, es waren einfach zu viele. Also gab er auf und ging zur Gitarrenspielerin, die seine Zucchini stumm entgegennahm.
Sommer 2013.
Gehockt sitzt du vor einer kleinen Pflanze am Rande des Bahnsteigs. Hinter dir zwei große Koffer; der eine schwarz, der andere grau. Etwas entfernt von uns liegt mein rostiges Rad unter einer jungen Linde. Ich sehe nichts davon; will es nicht sehen und schaue stattdessen zum Himmel, betrachte heimlich das ferne Rot der Abenddämmerung. Zarte Wolken schieben sich am Horizont vor die letzten wärmenden Strahlen der untergehenden Spätsommersonne. Der Wind streichelt unsere Haut. Ich seufze.
„Kleines Liebesgras“, flüsterst du nach einiger Zeit dem Boden entgegen. Du hebst deine linke Hand und führst sie mit einer zierlichen Bewegung zur Pflanze, ehe du sie kurz vor der finalen Berührung dann doch zurückhältst.
Wir sind allein. Derselbe kleine Bahnhof wie immer, irgendwo in einem kleinen Dorf, fernab der großen Stadt. Drei Züge fahren hier täglich ab. Ein Wunder, denke ich leise, dass hier überhaupt noch Züge fahren.
Beim Betrachten der Pflanze bildet sich eine kleine Öffnung zwischen deinen Lippen. „Es hat kleine Fingerchen. Als würde es sich in alle Richtungen in die Zukunft strecken wollen, findest du nicht?“
Mein Blick löst sich vom Himmel. Ich gehe ein paar Schritte auf dich zu und hocke mich ebenfalls vor das Liebesgras. Nach einem kurzen Moment nehme ich deine Hand und führe sie zu einer einzelnen Ähre.
Du schaust fragend zu unseren Händen.
„Der Finger der Pflanze zeigt nach Westen. Er streckt sich in deine Zukunft.“
Dein Blick fällt gen Boden. „Montréal“, sagst du schließlich, „ist schon sehr weit weg.“
Ich nicke. „Es ist halt ein großer Schritt. Aber du hast dir das Stipendium verdient. Und wir sehen uns ja wieder.“
Mit leerem Blick schaust du noch einmal hoch zu der Pflanze vor unseren Händen. „Welcher Finger deutet in deine Zukunft?“, fragst du mit gedämpfter Stimme.
Ich lehne mich an dich und beginne zu lächeln. „Ich glaube nicht“, sage ich und stehe dabei allmählich auf, „dass einer davon in meine Zukunft deutet. Ich bin vermutlich eher der Bahnhofsboden unter der Pflanze.“
Aus der Ferne ist bereits das dumpfe Surren des ankommenden Zuges zu hören. Auch du stehst nun auf und lächelst. „Du bist der Boden? Was soll das denn heißen?“
„Na ja, ich strecke mich nicht in irgendeine Richtung. Ich bleibe lieber hier.“
Die schattige Silhouette des Zuges nähert sich immer schneller, bis der Zug irgendwann ganz zu erkennen ist und am Bahnsteig direkt vor uns zum Stehen kommt. Wir umarmen uns noch einmal innig, weichen dem Blick der jeweils anderen Person dabei aus. Meine Hand umklammert einen kleinen Umschlag in meiner Tasche und ich ringe mit mir, ob ich ihn dir übergeben soll oder noch nicht.
Du betrittst den Zug und winkst mir noch einmal zu. Die Tür schließt sich. Wenige Sekunden später fährt der Zug ab. Sein Surren hallt noch einen Moment lang nach, ehe absolute Stille erneut die Oberhand gewinnt. Irgendwo fernab der Stadt. In einem kleinen Dorf. An einem kleinen, menschenleeren Bahnhof. Ich betrachte die Pflanze noch eine ganze Weile und verschwinde schließlich mit meinem Rad im Dunkel der Nacht.
Winter 2003.
„Kannst du mir deinen roten Stift geben?“
Ich schaue mich um und krame hektisch in meinem Federmäppchen. Schließlich hebe ich einen Stift in die Höhe. „Meinst du den?“
Du schüttelst energisch den Kopf. „Nein, du Doofie! Der ist doch viel zu dunkel! Ich meine den hellen.“
Erneut wusele ich mich durch mein persönliches Sammelbecken bunter Farben und halte dir schließlich einen helleren Stift vor die Nase. „Den hier?“
Du lächelst. „Ja, der ist perfekt!“
Neugierig lehne ich mich zu deinem Platz hervor und schaue mit großen Augen auf das Blatt Papier, das du so eifrig mit bunten Strichen füllst. „Sag mal, was malst du denn da?“
Schnell beugst du dich über das Bild und verdeckst mir so die Sicht. „Nicht gucken! Ich male die Linde vom Bahnhof. Noch bin ich größer als sie, aber mein Papa meinte, dass sie irgendwann mal ganz viel größer sein wird als ich!“
Ich schaue dich fragend an. „Was … was ist denn eine Linde?“
Du drehst das Papier um, verschränkst deine Arme und schnaufst empört in meine Richtung. „Du weißt nicht, was eine Linde ist?!“
Ich schaue nachdenklich durch das Klassenzimmer und suche rasch nach einem Ansatz, was eine Linde sein könnte. „Vielleicht … hm … vielleicht kann man das essen?“ Ich muss lachen beim Gedanken an eine Erdbeere, die immer größer wird.
Erneut schüttelst du deinen Kopf, dieses Mal jedoch viel stärker als noch bei der falschen Farbe. „Eine Linde kann man doch nicht essen.“ Du machst eine kurze Pause, ehe es aus dir herausplatzt: „Das ist ein Baum!“
„Ein Baum? Aber ein Baum ist doch nicht rot!“
„Doch, im Herbst schon! Da sind alle Bäume ganz bunt! Ich liebe den Herbst!“
Ich stütze meinen Kopf auf die Hand und schaue einen Moment lang aus dem Fenster. Keiner der Bäume ist gerade rot. Oder bunt. Und überhaupt tragen sie gerade auch gar kein Laub. Vielmehr sind die einzelne Äste von einer dünnen Schicht aus Schnee bedeckt. Weiß, nicht rot. Ich frage mich, ob einer der Bäume da draußen vielleicht auch eine Linde ist. Woher soll man das auch wissen, wenn alle Bäume gleich aussehen? „Ich würde es toll finden, wenn jeder Baum eine eigene Farbe hätte“, flüstere ich schließlich vor mich hin.
Du lächelst und stupst mir gegen die Stirn. „Aber Linden müssen dann rot sein!“
Auch ich muss nun lächeln. „Zeigst du mir irgendwann mal, welcher Baum am Bahnhof die Linde ist?“
Du nickst fröhlich. „Aber“, wirfst du schließlich noch ein, „dann musst du mir auch eine Linde malen. Am liebsten im Herbst, wenn sie ganz doll rot ist!“
„Das mache ich! Und dann zeigen wir uns die Bilder gegenseitig am Bahnhof unter der Linde!“
Du stimmst zu und malst fleißig an deinem Bild weiter, während ich verträumt aus dem Fenster schaue und die Bäume beobachte.
Herbst 2023.
Ich sitze auf der einzigen Bank am Gleis und starre auf die grell aufleuchtende Anzeige zu meiner rechten Seite: „Verspätung ca. 120 Minuten.“ Der Regen prasselt auf das vergilbte Glas über mir ein, der stürmische Wind schlägt mir immer wieder einzelne Tropfen in das Gesicht. In meinen Händen halte ich denselben Umschlag, den ich dir bereits damals übergeben wollte. Ich seufze. Der einzige Zug, der hier in der ganzen Woche halten soll, und er will einfach nicht kommen.
An den Wänden der kleinen Überdachung wächst Liebesgras. Ich muss schmunzeln bei dem Gedanken daran, dass es das einzige ist, was ich mit unserem letzten Abschied noch verbinde. Die Erinnerung an deine Stimme ist mit der Zeit verblasst und auch dein Gesicht ist mir lediglich noch von Fotos präsent. Das Gras aber, es wuchert an diesem so menschenleeren Bahnhof ungestört und erinnert mich so jedes Mal an dich, wenn ich hier ankomme. Ich hatte gesagt, ich sei wie der Bahnhofsboden, würde immer hier bleiben. Und doch hatte es nach unserem Abschied keinen ganzen Monat gedauert, bis auch ich in die weite Welt aufgebrochen bin.
Wenn ich aber zufällig in der Nähe bin, komme ich immer gerne hierher und betrachte das Gras. Ich mag die Stille; den Duft; das Pfeifen, wenn der Wind durch das verlassene Bahnhofshäuschen bläst. Gelegentlich nehme ich dann meinen Zeichenblock mit und versuche, die Schönheit der verschiedenen Pflanzen in einer Skizze einzufangen. Die Büsche, die Gräser, die Bäume. Alles – nur nicht die Linde. Ich weiß noch, wie motiviert ich damals war, als ich sie zum ersten Mal zeichnen wollte. Es war Herbst und wir hatten gerade die Grundschule abgeschlossen; waren auf unterschiedliche Schulen gegangen. Stundenlang saß ich vor dem Baum, mit all den Buntstiften, die ich besaß, und habe Blatt für Blatt auf mein Papier übertragen. Schließlich habe ich die Zeichnung in einem Umschlag verschlossen und gewartet. Auf den Herbst. Auf den Bahnhof. Doch wir haben uns immer seltener gesehen und immer häufiger verpasst. Die Linde konnte ich einfach nicht mehr zeichnen.
Die zwei Stunden sind bereits vergangen und noch einmal wird die Verspätung auf der Anzeige korrigiert. 140 Minuten. Als würde es hier auf dem Land überhaupt noch jemanden interessieren, wann der eine Zug jemals ankommen würde. Einfach ausstellen die Anzeige. Beim Betrachten der kleinen Grasbüschel werden meine Augen immer schwerer, bis sie schließlich zufallen.
Erst das hektische Rattern das alten Zuges ist es, das mich wieder weckt. Nicht ganz drei Stunden Verspätung sind es am Ende; die Sonne ist bereits lange untergegangen. Der Zug aber bleibt vor mir stehen und nervös erhebe ich mich von meiner Bank. Der Regen strömt noch immer, doch in einiger Entfernung sehe ich einen dunklen Schatten mit Regenschirm in das nasse Gras stapfen. Er nähert sich mir vorsichtig und ich höre mein Herz im Takt des tanzenden Regens schlagen.
Schließlich stehst du vor mir, hebst deinen Schirm und schaust mich lächelnd an. Wir umarmen uns und Sekunden fühlen sich an wie die vollen drei Stunden, die wir zuvor gewartet haben. Wie die zehn, die zwanzig Jahre, in denen wir immer weniger Kontakt hatten. Doch die Umarmung erfüllt die regnerische Herbstnacht mit einer unglaublichen Wärme. Mit einer schüchternen Geste deutest du auf den zerknitterten Umschlag in meinen Händen und holst ebenfalls einen alten Umschlag aus deiner Tasche.
„Ich habe es nicht vergessen!“, sagst du schließlich und deutest auf den großen Baum hinter mir.
Voldi und sein Trainer sind heute in Kiel angekommen. Während sich sein Trainer noch im Hotelzimmer etwas ausruht von der Reise, entscheidet sich Voldi für einen abendlichen Spaziergang. Nachdem es den ganzen Mittag geregnet hat, lässt sich endlich die Sonne blicken und es wird warm und angenehm.
Weil sein Trainer noch was zu trinken für die kommenden Stunden braucht und am Sonntag keine Geschäfte offen haben, verschlägt es Voldi an den sechsgleisigen Kopfbahnhof in Kiel, in welchem Züge nach Hamburg, Flensburg, Husum, Lübeck und Lüneburg starten. Auch der eine oder andere ICE lässt sich dort sehen. So fährt in dem Moment, als Voldi die große Bahnsteighalle betritt, ein ICE aus München ein und viele Menschen verlassen den Zug. Einige von ihnen wechseln hektisch und panisch den Bahnsteig, um den an Gleis 1 stehenden Regionalexpress 83 nach Lüneburg zu erwischen. Voldi legt sich neben einen Zaun und beobachtet das Geschehen. Als der RE 83 abfährt und scheinbar alle Fahrgäste ihren Anschlusszug knapp erwischt haben, setzt auch Voldi seinen Weg fort und spaziert durch den Bahnhof. Es umrundet die Geschäfte in der Haupthalle. Es gibt die üblichen Verdächtigen wie LeCrobag, McDonalds und einen Tabakladen. Dort kann man sogar Lotto spielen. Leider hat Voldi kein Geld dabei, sonst würde es sein Glück versuchen. Schade. Direkt neben dem Tabakladen befindet sich ein Friseursalon. Und ein Blick auf die Preistafel lässt Voldi seine Augen rollen. Warum zum Teufel müssen Frauen immer mehr zahlen als Männer? Wer hat sich das ausgedacht? Nun, für Voldi ist das nicht relevant. Sein Fell wächst nicht, also wird es niemals einen Friseur brauchen.
Als Voldi sich wieder den Zügen nähert, fällt sein Blick plötzlich auf einen Eingang auf der linken Seite des Bahnhofs. Darüber hängt ein Schild mit der Aufschrit "CAP Kiel" und einigen weiteren Einrichtungen, die dort aufgeführt sind. Voldi ist aufgeregt und hüpft schwanzwedelnd dort hin. Es läuft durch eine kleine Passage, vorbei an einem Subway und am "Murphys Pub". Einige Herren sitzen dort und trinken Bier, lachen und amüsieren sich. Eine Gruppe Menschen sitzt an einem Tisch im Kreis und spielt Kniffel. Einer der Menschen springt auf und jubelt, weil er einen Kniffel gewürfelt hat. Was für ein unverschämtes Glück er doch hat...
Der Weg durch die Passage führt nach rechts und als Voldi eine Spielhalle erblickt, traut es seinen Augen kaum. Echte Spielautomaten und Arcade-Spiele. Hier muss Voldi unbedingt mit seinem Trainer hin. Nebenan befindet sich eine Dönerbude. Wenn Voldi in der Spielhalle vom Zocken Hunger bekommt, kann es direkt genüsslich einen Döner zu sich nehmen. Mjam. Dass sich daneben ein mexikanisches Restaurant befindet, fällt Voldi erst danach auf. Ob sein Trainer mexikanisches Essen mag, weiß Voldi allerdings nicht. Dann läuft Voldi an einigen Filmplakaten vorbei. Da befindet sich doch tatsächlich ein Kino in diesem Bahnhof. Hier könnte Voldi auch den neuen Barbie-Film gucken. Hmmm....
Doch dass sich das Highlight dieses Bahnhofs unter dem Kino befindet, merkt Voldi erst, als es die Rolltreppe betritt und ein Stockwerk tiefer fährt. Unter dem Kino ist nämlich noch etwas viel cooleres als eine Arcade-Halle. Hier stehen nicht nur Spielautomaten, sondern auch viele Billardtische und Bowlingbahnen. Das wird Voldis Trainer sicher interessieren, denn er mag Billard und Bowling und Voldi hat ihm auch schon beim Spielen zugesehen. Das muss Voldi gleich erzählen, wenn es wieder im Hotel ist. Voldi läuft durch die Halle und schaut sich die Automaten und Billardtische näher an. Im hinteren Teil befindet sich der Bowling-Bereich. Voldi hüpft auf einen Tresen und macht es sich gemütlich. Von hier aus kann Voldi den Menschen beim bowlen zusehen. Ganz hinten wirft einer offenbar gerade seinen dritten Strike hintereinander. Krass. Immer wieder werfen die Menschen verwirrte Blicke zu Voldi. Es kommt immerhin nicht alle Tage vor, dass sich ein Voldi in einem Bowlingcenter herumtreibt.
Da fällt Voldi plötzlich ein: Es braucht noch Getränke für seinen Trainer. Unten am Bahnhofseingang ist Voldi an einem REWE vorbei gelaufen, der noch offen hat. Voldi macht sich langsam auf dem Weg zurück. Auf zum REWE. Und der ist voll. Hier sind überall Menschen. Viele Menschen sind bepackt von Energy-Drinks und Bier. Einige unterhalten sich über die Uni und welche Vorlesungen morgen stattfinden und wie wenig Bock sie haben, an einem Montagmorgen in der Vorlesung zu sitzen. Stundenten eben.
Und so verlässt Voldi den REWE und den Bahnhof mit drei Wasserflaschen, welches es in einem Beutel hinter sich herzieht. Voldi freut sich schon auf die nächsten Tage. Vielleicht nimmt ihn sein Trainer mal auf einen Ausflug zum Hamburger Hauptbahnhof mit.
Der von der Morgensonne aufgewärmte Steinboden erwärmte die vielen Regenpfützen die vom nächtlichen Guss noch übrig waren und ließ sie allmählich verdunsten. Die weißen, wabernden Schwaden stiegen nach oben und verliehen dem ländlichen Bahnhof eine gespenstische Ausstrahlung, wie man es sonst zu Halloween gerne hätte. Die alte Station bekam nur selten Besuch von Zügen. Wenn, dann fuhren sie in Höchstgeschwindigkeit durch und ließen das naheliegende Dörfchen schnell wieder hinter sich. Ein Passagier wartete an diesem Morgen auf seinen Zug zurück in die Großstadt. Der alte Mann vertrieb sich die Zeit mit Herumschlendern und hielt schließlich vor einem trüben Spiegel, um darin sein Spiegelbild zu betrachten. „Soll ich etwa dieser alte Greis sein?“ fragte ich mich mit müder Stimme.
Ich zog meinen Hut tiefer nach unten, um das faltige Gesicht zu verbergen, in dem sich statt Erfahrung und Lebenszufriedenheit nur verbitterte Einsamkeit widerspiegelte. Der Todestag meiner Frau jährte sich letzte Woche zum ersten Mal und die Wunden waren noch so frisch wie am ersten Tag. In dem kleinen Dörfchen lag unser Ferienhaus. Unsere schönsten Zeiten verbrachten wir einst in der kleinen Holzhütte. Umso schlimmer fühlte ich mich nun mit den Erinnerungen konfrontiert. Mindestens einmal im Jahr musste dort nach dem Rechten gesehen werden. Ein Verkauf würde laut Makler bei der aktuellen Marktlage kaum zustandekommen. Und ob ich wirklich schon bereit war zu verkaufen, war eine ganz andere Frage. Ein angenehmer Glockenton hallte durch den Bahnhof und verkündete die Ankunft des Zuges. Ich entfernte mich von dem Spiegel um das Herumschlendern fortzusetzen, als mir plötzlich eine Gestalt auffiel, die nur wenige Meter neben mir stand und mich ansah. Kurz wirkte sie wie mein Spiegelbild. Klassischer Filzhut, typische Haltung eines Greises, auf dem zweiten Blick allerdings viel schlaksiger. Er näherte sich mir mit der offensichtlichen Absicht ein Gespräch zu eröffnen. Danach war mir nicht zumute, aber ich konnte schwer davonlaufen. „Ralf! Ganz alleine hier?“ Ich nickte kurz. „Günther. Gezwungenermaßen.“ Ich versuchte abweisend, aber nicht unfreundlich zu sein. „Hm. Scheiße. Meine Frau ist auch tot.“ Darauf hatte ich keine Antwort. Ich riskierte einen Blick in sein Gesicht. Nach seiner makabren Art das Gespräch zu eröffnen hätte ich eine verbrauchtere Persönlichkeit erwartet, doch es begrüßte mich ein Lächeln. Ein leicht verrückt wirkendes Lächeln. „Seit sie weg ist, kann ich endlich all die Dinge tun, die mir Ärger bei ihr eingehandelt hätten.“ ulkte er weiter. Er erhielt keine Antwort von mir, stattdessen erklang ein weiteres Läuten, denn der Zug war nur noch eine Minute entfernt. Das war für Ralf kein Anlass mit dem Reden aufzuhören. „Du kennst doch die Baslers mit ihrem ach-so-schickem Designer-Haus. Ich weiß, wie wir denen eins auswischen können. Ich zeig’s dir!“ Er stakste Richtung Ausgang los. Ich folgte ihm.
Das Haus der Baslers lag einen 10-Minuten-Marsch entfernt. Ralf machte ein paar Bemerkungen über unterschiedliche Dinge, doch mir war immer noch nicht danach zu antworten. Ich beschäftigte mich mit der Frage, wieso ich weiter hinter ihm blieb, statt einfach zurückzugehen. Zum Bahnhof, wo kein Zug auf mich wartete. Rolf blieb vor seinem Ziel stehen und zog eine Packung Eier aus seinem Lederrucksack, als wäre es das Selbstverständlichste. Vielleicht hätte ich an dieser Stelle fragen sollen, ob er überhaupt vorhatte mit einem Zug zu fahren oder bloß nach einem Komplizen Ausschau gehalten hatte. Nun stellte er die Munition auf dem Gartenzaun der Baslers ab und eröffnete das Feuer. Ich sah ihm dabei zu wie er den verzierten Holzfensterrahmen besondere Beachtung schenkte und sie mit gelblichem Schleim dekorierte. Ich hasste diese Fensterrahmen. Ralf spürte diese Abneigung und drückte mir zwei Eier in die Hand. Das erste verfehlte das Fenster des Dachgeschosses. Beim zweiten Versuch traf ich das Bullseye. Mein Wurfarm fühlte sich nach diesem Treffer warm und gelenkig an; so wie lange vor meiner Arthritis. Rolf schnippte die Verpackung in den Vorgarten der Baslers und stemmte die Arme in die Hüften, um diesen Einsatz als deutlichen Erfolg zu verbuchen. „Los, lass uns noch etwas anstellen!“ Die drahtige Figur setzte sich schon wieder in Bewegung und suchte das nächste Sommerhaus, das ihm ohne seine Besitzer schutzlos ausgeliefert war. Ich folgte ihm.
Die Neubauers mochte er scheinbar auch nicht, denn dort plante sein rechtswidrig handelnder Begleiter seine nächste Missetat. Schwupps, war er überm Zaun und verschwand im hinteren Teil des Gartens. Ich bewunderte die für sein Alter ungewöhnliche Beweglichkeit und benutzte die offene Gartentür. Bevor ich mir ein Bild von seinen Plänen verschaffen konnte, kam mir bereits ein Huhn entgegen. Ein weiteres, dann gleich drei am Stück. Und eine Ziege! Ich bahnte mir einen Weg durch die freilaufenden Tiere, passierte offene Gehegetüren und fand Ralf zwischen den Geflügelnestern mit Eiern in der Hand. Ich kannte deren Schicksal bereits. Der wilde Greis strahlte und hielt stolz seine Beute hoch. Ich fühlte Wärme in meinen Mundwinkeln; so wie vor über einem Jahr, lange vor dem Antritt meiner einsamen Reise. Der Eierdieb schlängelte sich nach draußen und hatte einen weiteren Geistesblitz: „Los, lass uns ein Auto stehlen!“ Er hoppste über den Zaun in den Nachbarsgarten. Ich folgte ihm.
Die armen Fischels ahnten gar nicht, was ihrem VW Polo bevorstand, durch dessen zerbrochenes Fenster der Umriss des Alten verschwand. Mit wildem Gefuchtel deutete er mir an, bei der Beifahrertür einzusteigen. Den stotternden Geräuschen zufolge machte er sich bereits an den Kabeln zu schaffen und versuchte das Gefährt zum Starten zu zwingen. Als ich Platz nahm, war es ihm bereits gelungen und er VW begann zu rollen. Mir blieb gerade noch genug Zeit die Tür zu schließen, bevor Ralf zu einem Drift ansetzte und durchs feuchte Gras pflügte. Die Reifen gruben die Erde aus dem Boden und schleuderten eine Mixtur aus Schlamm und zerquetschten Pflanzen in alle Richtungen. Erst als der Zaun, das Gartenhaus und die Veranda mit neuem, braunen Anstrich glänzten, kam das Auto wieder zum Stillstand. Mein Herz schlug laut vor Aufregung. Es fühlte sich warm und lebendig an; so wie... ja, wann war das das letzte Mal der Fall? Ich sah zu Ralf. Statt sein Werk zu begutachten, vergrub er sein Gesicht in den Händen und schluchzte. Nach dem was ich mit ihm erlebt hatte, passte der Anblick nicht zu ihm. „Oh Friedi, ich schaffe das nicht ohne dich.“ War zwischendurch herauszuhören. Ich wagte es nicht etwas zu sagen. Ich wollte nicht die Verbindung zwischen ihm und seiner verstorbenen Frau kappen. Mir fiel ein, dass es eine Ewigkeit her war, seit ich zu meiner eigenen sprach. Sofort verspürte ich ein elendes Schuldgefühl. Ich verließ das Auto, hielt einen Moment inne, bis sich meine Lungen wieder mit frischer Luft füllten und dachte über die Worte nach, die ich nach diesem Ausflug loswerden könnte. Ich spürte plötzlich mehr von der Wärme, die seit Beginn des Tages in meinen Körper zurückkehrte. Es war ungewohnt, sich so lebendig zu fühlen. Meine Frau würde sich bestimmt für mich freuen, wenn sie noch hier wäre. „Adelheid, es geht mir ganz gut hier unten.“ murmelte ich und gab ein befreites Lachen von mir. Wieso musste es ein ganzes Jahr dauern, bis es zu diesem Augenblick kam? Ralf stand neben mir. „Wir sollten los, sonst erwischen wir den nächsten Zug nicht!“
Zurück beim einsamen Bahnhof stellten wir uns auf, als hätten wir in der letzten Stunde nichts anderes getan, als auf einen Zug zu warten. Das Schweigen fühlte sich alles andere als unangenehm an. Es war fast so, als würden wir es genießen nicht allein zu sein. Ein Läuten ertönte und kurz darauf das zweite. „Besuch mich mal wieder, Günther!“ Ralf hob die Hand zum Abschied, schenkte mir ein letztes Lächeln und stakste wieder vom Bahnsteig. Ihm war anzusehen, dass seine Abenteuer in dieser Welt noch lange nicht zu Ende waren. Der Boden zitterte wegen des einfahrenden Zuges. Ich hielt Abstand und wartete geduldig, bis er zum Stillstand kam. Bevor ich auf die erste Stufe trat, sah ich zurück und blickte in den trüben Spiegel. Einen Augenblick lang meinte ich darin mein Spiegelbild von heute Morgen zu sehen, doch es setzte sich eine farbigere Version meines Ichs durch. Ein alter Mann, der das Leben doch noch nicht aufgegeben hatte. Einer, der keinen Grund hatte etwas zu bedauern, oder vor irgendetwas davonzulaufen. Ich wich vom Zug zurück. „Ich glaube, ich habe noch ein Abenteuer nötig.“
Der junge Mann lief ungeduldig am Bahnsteig auf und ab. Er warf einen Blick auf die Anzeigetafel.
"+40 Minuten", das waren jetzt immer noch fast zehn. Er fuhr sich durch die kurzen, knallgrünen Haare.
Er stellte seinen Rucksack auf eine Bank, holte seine Colaflasche heraus, trank einen Schluck, steckte sie wieder ein, und setzte den Rucksack wieder auf und seinen ziellosen Weg am Bahnsteig entlang fort. Währenddessen drückte er genauso ziellos auf seinem Smartphone herum, suchte einmal mehr das Zugticket heraus, suchte sich neue Musik aus, sah, dass er keine neuen Benachrichtigungen auf Social Media hatte. Er seufzte, denn diese Warterei war heute besonders unerträglich.
Im Augenwinkel bemerkte er, wie sich ihm jemand näherte. Die Person war einige Zentimeter kleiner als er, in einem ähnlichen Alter, schlank, mit kurzen roten Haaren.
"Entschuldigung", sagte die fremde Person.
Der junge Mann pausierte seine Musik und blickte auf.
"Ich habe den Trans-Pin an deinem Rucksack gesehen. Bist du selbst trans?", fragte die Person sichtlich unangenehm berührt.
Der junge Mann erstarrte. Dieses Gespräch konnte nun in jede nur denkbare Richtung gehen, und für eine Konfrontation war er heute nicht bereit. Er scannte sein Gegenüber nach allem, was ihm Auskunft darüber hätte geben können, wie dieses wohl eingestellt war - doch da waren keine Regenbogenpins oder -schmuck, keine Accessoires mit transfeindlichen Parolen, nichts, was ihm geholfen hätte. Aber seinem Eindruck nach sah die Person zumindest auch nicht gefährlich aus.
"Ja", sagte er schließlich knapp.
Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers wurde weicher. "In meinem Freundeskreis hat sich neulich jemand als trans Mann geoutet. Möchtest du mir vielleicht etwas über deine Transition erzählen? Wie war das so am Anfang? Und wie ist es jetzt?"
Der Mann war erleichtert. "Nun, ich habe natürlich nur eine von vielen Geschichten zu erzählen", fing er an, "da gibt es im Internet unendlich mehr zu finden. Und wenn du allgemeinere Informationen suchst, kann ich Ressourcen wie das Queerlexikon nur empfehlen." Er hielt kurz inne und packte dann seine Kopfhörer in seine Hosentasche. "Aber ich habe ja gerade eh nichts Besseres zu tun.
"Ich habe Anfang 2020 realisiert, dass ich keine Frau bin und so nicht weiterleben wollte. Seitdem hat sich mein Leben komplett verändert, aber eines war in jeder Phase gleich: Das Warten war das Schlimmste. Ich habe innerhalb des ersten halben Jahres für mich selbst verstanden, was ich in meiner Transition alles erreichen möchte - ich wollte mit einer Testosterontherapie anfangen, damit mein Körper typischer männlich aussieht, und eine Mastektomie, also eine Entfernung der Brüste. Allerdings habe ich zu dieser Zeit auch gelernt, was man dafür in Deutschland braucht - nämlich einen Therapieplatz - und dass dieser für mich extrem schwer zu bekommen sein würde, weil ich in einer Kleinstadt lebe und der nächste spezialisierte Therapeut Stunden entfernt sitzt. Und das hat mich gelähmt. Ich habe gewartet und gewartet und gewartet, als würde es irgendetwas bringen, weil ich wusste, dass ich die Ansage, noch länger warten zu müssen, nicht ertragen könnte."
Die fremde Person sah ihn an, ihr Blick sprach von tiefem Verständnis. "Und wie hast du das durchbrochen?"
"Es ging schlicht nicht mehr anders", sagte der Mann. "Ich war zu dieser Zeit extrem depressiv und wusste, dass ich etwas ändern musste. Also habe ich im Herbst 2021 dann endlich meinen Mut zusammengenommen und einen Therapeuten angeschrieben."
"Und dann?"
"Er schrieb mir zurück, dass ich auf die Warteliste könne, aber dass die ein Jahr lang sei." Bei der Erinnerung daran verzog der junge Mann sein Gesicht.
"Uff", sagte sein Gegenüber nur.
"Ja, sehr uff. Das danach war wohl mit die schwierigste Zeit meines Lebens", erzählte der Mann weiter, "weil ich wusste, auch wenn ich dieses Jahr hinter mir und tatsächlich den Platz hätte, müsste ich aller Wahrscheinlichkeit nach nochmal länger warten, bevor ich mit irgendwas hätte anfangen können. Es war immer noch alles so ungewiss. Ich ertrank in Ungewissheit. Ich war schon am Arbeitsplatz und in der Familie geoutet, doch die Einzigen, die mich wirklich vollumfänglich unterstützten, waren mein Freundeskreis.
"Gegen April habe ich es dann nicht mehr ausgehalten. Ich schrieb einen Freund an - ebenfalls ein trans Mann - der von Testogel auf Testospritzen umgestiegen war, ob er mir dieses übrige Gel nicht abgeben könnte. Ich war mir anfangs echt unsicher, ob ich das wirklich tun wollte, schließlich ist es technisch gesehen illegal und nach diesem Monat, für dessen Dauer eine Flasche ausreichen würde, wusste ich dann immer noch nicht, wie es weitergehen sollte. Aber im Juni hatte ich dann einen Punkt erreicht, wo ich mir sagte, entweder ich mache das jetzt, oder ich beende mein Leben. Und ich habe mich entschieden, zu leben."
Das Gegenüber des Mannes schaute bestürzt. Die beiden sagten einen Moment lang nichts, die Schwere des Gesagten lag über ihnen.
Auf einmal wurden sie von einem lauten Geräusch aus ihrem Schweigen gerissen - der ICE stand endlich vor ihnen!
"Ist es okay für dich, wenn wir uns nebeneinander setzen - wenn wir einen Platz bekommen?", fragte die fremde Person.
"Klar", sagte der junge Mann. Das Thema war zwar schwer für ihn, aber es tat auch ein bisschen gut, das alles jemandem erzählen zu können, der einfach nur zuhörte, ihn nicht für irgendwelche Behandlungen begutachtete und den er danach nie wieder sehen würde.
Menschenmassen strömten aus dem Zug hinaus, dann strömten genauso viele Menschen hinein. Die beiden ergatterten zwei freie Sitze nebeneinander, die nicht reserviert waren. Sie atmeten beide kurz auf, endlich konnte die Reise richtig losgehen.
"Die Weiterfahrt verzögert sich um wenige Minuten", sagte eine Stimme, "wir bitten, dies zu entschuldigen."
Die beiden stöhnten kurz genervt, aber das war immer noch besser, als weiterhin draußen zu stehen.
"Also, du hast von deinem Freund das Testo bekommen, nehme ich an. Wie ging es weiter?", fragte die fremde Person.
"Genau, ich hatte dann das Testo", setzte der Mann wieder an. "Dieser Tag fühlte sich so surreal an, als würde direkt, auch ohne, dass ich es je angewendet hatte, ein riesiges Gewicht von mir abfallen. Und ab da ging es dann bergauf. Mein Selbstbewusstsein ging in die Höhe, ich konnte auf einmal klarer denken, und meine Schlafprobleme waren einfach komplett weg - es war wild! Bevor ich irgendeinen Effekt des Hormons sehen konnte, habe ich einfach schon gespürt, wie richtig meine Entscheidung war."
Der junge Mann lächelte, und so auch sein Gegenüber. "Ich war vorhin nicht ganz ehrlich", sagte dieses plötzlich, und der junge Mann schaute verwirrt. "Es ist nicht eine Person aus meinem Umfeld, die sich geoutet hat. Es bin ich selbst, der trans ist. Und ich habe noch niemandem davon erzählt. Nun ja, bis jetzt. Es fühlt sich komisch an, das so auszusprechen... Aber die pure Freude in deiner Stimme eben, an den Punkt will ich auch kommen."
"Oh", sagte der junge Mann nur. "Danke für dein Vertrauen. Hast du denn schon über einen Namen nachgedacht?"
"Milan", sagte der Fremde. "Ich weiß nicht, warum, aber diesen Namen fand ich schon immer sehr schön... fast so, als müsste er einfach zu mir gehören."
"Das ist ein schöner Name, freut mich, dich kennenzulernen, Milan", sagte der junge Mann. "Ich bin übrigens Felix."
"Freut mich ebenso, Felix", sagte Milan lächelnd. "Es fühlt sich so komisch an, tatsächlich so genannt zu werden. Aber auf eine gute Art komisch."
"Oh ja, das fühl ich sehr." Felix lachte.
"Aber genug über mich", sagte Milan. "Was ist als nächstes passiert?"
"Nun, ich brauchte mehr Testo", holte Felix aus. "Das war das erste Mal, als ich mich in den... nicht ganz so legalen Ecken des Internets rumtrieb. Besagter Freund half mir, halbwegs vertrauenswürdige Seiten zu finden, wo ich Nachschub besorgen konnte. Der Scheiß war schweineteuer und kam aus dem Ausland, mit ewigen Lieferzeiten. Aber es musste nunmal sein. Ich konnte dieses gute Gefühl nicht wieder aufgeben. Abgesehen davon lief es jetzt aber endlich gut. Ich kam innerhalb von Tagen in den Stimmbruch, ich wurde haariger, stärker, roch anders, bekam die ersten Haare im Gesicht... So war die Warterei wenigstens erträglicher."
"Warte, was?", unterbrach Milan. "Du rochst anders?"
Felix lachte kurz. "Ja, dieses Testo macht echt komische Dinge. Aber ich habe mich über jede noch so kleine und noch so abwegige Veränderung riesig gefreut. Nur eins hat sich halt nicht verändert. Meine Titten waren immer noch unerträglich riesig, trotz Binder und allem. Und da kickte wieder dieses Warteproblem. Bis ich es nicht mehr ausgehalten und meine Telefonangst überwunden habe, um bei einer Klinik anzurufen, ob die mich auch ohne Therapeuten antanzen lassen."
"Und?"
"Haben sie. Bis es so weit war, hatte ich dann zwar tatsächlich schon den Therapieplatz, aber immerhin habe ich damit mehrere Monate gespart. Mit diesem fixen Termin für ein Erstgespräch für die OP und dem Therapieplatz fühlte sich dann alles auf einmal so erreichbar an, es kam endlich eine Dynamik in die ganze Sache."
Mit einem Ruckeln meldete der ICE, dass er sich nun endlich bewegte. Ein kollektives Aufatmen rollte durch den Zug. Mit nur fünfundvierzig Minuten Verspätung war es endlich so weit. Die Reisenden hatten sich das vermutlich anders ausgemalt - oder sie waren schon oft genug mit der Deutschen Bahn unterwegs gewesen, um nicht mehr schockiert zu sein.
"Und, wie lief es dann?", fragte Milan weiter.
"Danach lief tatsächlich alles sehr glatt", antwortete Felix. "Wochen nach dem ersten Therapiegespräch bekam ich einen Termin beim Endokrinologen und damit das Testo auf Rezept, das Erstgespräch für die OP war super und dort wollte ich sie dann auch durchführen lassen, mein Umfeld gewöhnte sich mehr und mehr an das neue Ich und benutzt inzwischen ausnahmslos meinen Namen. Ich musste später nochmal kurz warten, bis ich die Kostenübernahme der OP bei der Krankenkasse beantragen konnte, aber das war erträglich, und die Krankenkasse gab mir auch sofort die Zusage. Und jetzt... naja, übermorgen habe ich den Mastektomie-Termin und dahin bin ich auch gerade unterwegs. Dann werde ich endlich endgültig in meinem Körper ankommen können."
Felix lächelte breit, als er das sagte, und stecke damit auch Milan an.
"Das freut mich so sehr für dich", sagte dieser. "Ich wünsche dir jetzt schon gute Genesung."
"Danke", sagte Felix. "Und dir wünsche ich, dass du bald genauso gut ankommen wirst."
Raus aus dem plätschernden Regen und hinein in die Flut aus Menschen. Schnellen Schrittes kämpfe ich mich durch die Wellen verschiedenster Gesichter, die von hier aus in alle Himmelsrichtungen strömen. Ich frage mich, was jeder einzelne von ihnen hinter sich gelassen hat. Wie ein gestaltloses Monster scheinen die Mengen mich zurückhalten zu wollen und mir jeden Weg abzuschneiden. Die Zweifel an meiner Entscheidung rücken mir mit jedem kleinen Zusammenstoß näher ins Bewusstsein. Wenn ich mein Gleiß rechtzeitig erreichen will, muss ich mich beeilen, aber der Gedanke, dass dies gerade mehr von den Millionen Schritten um mich herum abzuhängen scheint als von mir selbst, beruhigt mich. Die Entscheidungsgewalt liegt nicht mehr bei mir, sondern in den Händen des Universums. Wohin mich meine eigenen Schritte tragen, ist jetzt nicht mehr und nicht weniger als Schicksal. Ich weiß nicht, ob es das Richtige ist. Das ohrenbetäubende Gedränge fühlt sich an wie der Münzwurf, der über mein gesamtes Leben entscheidet. Und auch wenn ich mir bewusst bin, dass hier nichts mehr auf mich wartet, mich nichts zurückhält, es keinen Grund zu bleiben gibt, hofft diese kleine Stimme tief in mir darauf, dass das Menschenmeer mich verschlingt und meine Reise beendet. Dass ich hier strande und gerettet werden kann.
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