[tabmenu][tab=Vote Fanfiction]
[Blockierte Grafik: http://s7.directupload.net/images/130803/pjcp43as.png]
Herzlich Willkommen zum Vote der Disziplin Fanfiction in Runde 3! Hier entscheidet sich, welches Team den Sieg in dieser Disziplin davontragen wird.
Bitte beachtet beim Voten, dass ...
- ihr eure Votes durch zumindest mehrere Zeilen angemessen begründet,
- Sympathievotes untersagt sind,
- ihr nicht für die Abgabe eures eigenen Teams abstimmen dürft,
- ihr bei der Punktevergabe sowohl das Treffen der Themenvorgabe, den Inhalt und die Ausführung einbezieht und bewertet,
- ihr das richtige Punkteschema verwendet (siehe unten)
- ihr die im Vote-/Feedback-Tutorial genannten Punkte beachtet
Selbstverständlich darf jeder voten, auch wenn man nicht selber an der Olympiade teilnimmt!
Themenvorgabe:
ZitatDas Thema der Runde 3 der Olympiade für die Disziplin Fanfiction lautet ...
Erstes Treffen!
Schreibt eine kurze Geschichte, in der sich zwei oder mehr Charaktere zum ersten Mal treffen. Das kann ein erstes Date sein, oder überhaupt die erste Begegnung, ein kurzer Moment oder ein größeres Ereignis!
Punkteschema:
Ihr müsst nach diesem Schema 5 unterschiedlichen Abgaben Punkte geben, und zwar aufsteigend von 1 bis 5 Punkte.
Der Vote geht bis zum 31.08.2013 um 23:59!
[tab=Abgaben]
Der Kleine bei der Strassenbahn
Der Kleine bei der Strassenbahn
Sie war schon viel zu spät dran, wie immer. Schnell schnappte sie sich ihre Handtasche und das Plüschkrokodil und rannte los. Sie würde ruinierte Haare haben, wenn sie ankäme. Hoffentlich hätte ihr Gegenüber nichts dagegen. Der regnerische Tag zwang sie, einen Mantel anzuziehen, der ihre Geschwindigkeit erheblich beeinträchtigte. Leise verfluchte sie Petrus. Die Tramstation war nicht mehr fern. Sie hetzte über den Zebrastreifen, lautes Gehupe der unzufriedenen Autolenker ertönte. Nur noch etwa achtzig Meter. Die Strassenbahn fuhr ein und kam zum Stillstand. Fünfzig Meter. Die Türen öffneten sich und die ersten Leute stiegen ein. Zwanzig Meter. Die Türen schlossen sich langsam hinter den letzten Passagieren. Verzweifelt drückte sie auf den Knopf, der die Tür aufgehen liess, doch es tat sich nichts. Das Tram fuhr vor ihren Augen ab. „Scheisse“, flüsterte sie und hieb ihre Faust gegen den Ticketautomaten.
Ich würde sie am überdimensionalen Plüschtier erkennen, hatte mir der Mann von der Agentur gesagt. Ich müsse mir auch so eines zulegen, damit sie mich auch erkennen könnte. Deshalb wartete ich mit einem gigantischen Stofflöwen unter dem Arm an der belebten Tramhaltestelle beim Zentrum. Der Stofflöwe hatte durchaus etwas Herziges an sich. Während ich mich langweilte, beobachtete ich die vorbeigehenden Leute, die Leute, die aus der Strassenbahn ein- und wieder ausstiegen. Das Tramhaus war klein und im Siebzigerstil hässlich rot und beige angemalt, an manchen Stellen war als Stilmittel nackter Beton verwendet worden. Ich sass auf einer zu schmalen Bank, beschmiert mit jahrealtem Graffiti und verziert mit Gebrauchtkaugummis, meinen Löwen auf dem Schoss. Es stank nach Rauch. Ich blickte auf meine Billiguhr. Zwanzig nach fünf. Sie war schon zehn Minuten zu spät, und ich mochte unpünktliche Leute nicht. Es war unanständig, andere Personen warten zu lassen.
Ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, setzte sich neben mich auf die Bank. Misstrauisch beäugte er meinen Löwen, dann musterte er mich. Er sah weg und überlegte. Schliesslich fragte er mit zittriger Stimme: „Beisst er?“
Der Knabe zeigte mit dem Finger auf den Löwen. Ich lächelte. „Nein, natürlich nicht, er ist ja nur aus Stoff.“
Der Junge schien erstaunt. „Aber, du bist doch schon ein Grosser, wieso spielst du noch mit Plüschtieren?“
Verdutzt schaute ich den Jungen an. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, schliesslich würde er die Wahrheit nicht verstehen. Doch auf die Schnelle fiel mir keine plausible Erklärung ein. Wieso hatte er das überhaupt gefragt? Ich versetzte mich in sein Alter. Wahrscheinlich hätte ich einen 25-jährigen im Anzug mit gigantischem Plüschlöwen dasselbe gefragt. Was hätte ich als Antwort erwartet? Ich wusste es nicht.
„Wieso spielst du nun mit Plüschtieren, obwohl du schon ein Grosser bist?“, hakte der Junge mit mehr Vertrauen nach. Ich schreckte hoch und schüttelte den Kopf, um meinen Kopf freizubekommen.
„Das ist… ähm… weil… weil ich…“ Ich brach ab. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Wieso auch nicht. „Das ist, weil ich mich mit einer Frau treffen werde. Sie soll mich daran erkennen.“
„Spielt sie denn gerne mit Plüschtieren?“, fragte der kleine Knabe. Ich hatte es vorausgesehen, er hatte nicht verstanden, was ich meinte.
„Nein, also… ich weiss nicht, aber ich glaube, sie spielt nicht mit Plüschtieren. Wir brauchen es nur als Erkennungszeichen. Ich habe die Frau noch nie gesehen“, erklärte ich ihm.
Er runzelte die Stirn und überlegte, seine blonden Locken wippten lustig auf und ab. Er fasste sich mit einer Hand an die Stirn, kratzte sich am Kopf und setzte sich schliesslich gerade auf. „Aha, die Frau ist eine Königin, und richtige Königinnen brauchen einen richtigen Löwen“, sagte er in vollem Ernst. Ich lachte. Er schaute mich fast beleidigt an. „Ist doch so, richtige Königinnen haben richtige Löwen!“, sagte er etwas lauter. Um ihn zu beschwichtigen, gab ich zurück: „Ja, das stimmt. Richtige Königinnen brauchen einen richtigen Löwen. Aber sie ist keine Königin. Sie ist eine normale Frau.“ Soweit ich wusste. Für den Kleinen war die Welt wieder in Ordnung.
„Sag mal, Kleiner, wo sind denn deine Eltern?“, fragte ich. Ich wunderte mich schon einige Zeit, wieso er ganz alleine war.
„Ich bin nicht klein!“, antwortete er trotzig. „Ich bin schon fünfeinhalb! Und im Oktober werde ich sechs.“
„Wo sind deine Eltern?“, fragte ich nochmals, diesmal mit etwas mehr Nachdruck. Er schaute mich mit seinen blauen Augen an. „Weisst du das nicht? Sie stehen dort drüben.“
Er zeigte mit seinem kleinen Finger auf eine Gruppe Leute, zwei Frauen und zwei Männer. Einer der Männer blickte tatsächlich zu uns herüber und lächelte mir zu.
„Woher sollte ich das wissen?“, gab ich freundlich zurück. Er überlegte einen Moment, den Blick auf den Boden gerichtet. „Weiss auch nicht, ich dachte, weil du ein Grosser bist, wüsstest du das“, sagte er, fast ein wenig betreten.
„Ich verstehe. Und wieso bist du zu mir gekommen?“, fragte ich, neugierig auf den Grund. Es geschah schliesslich nicht alle Tage, dass eine so junge Person auf mich zukommt und mich anspricht.
„Ja, also…“, begann er, das Kinn auf der Brust, die Augen starr auf den Boden gerichtet. „Dieser Löwe da… Er ist so gross, und er machte mir Angst. Ich dachte, er würde mich auffressen. Also hat mein Vater gesagt, ich soll dich selbst fragen gehen, ob er mich auffrisst. Aber er hat mich nicht aufgefressen, und du warst so nett, also bin ich ein wenig geblieben.“ Er machte eine Pause, blickte mich ängstlich an und fragte: „War das falsch?“
Ab dieser Bemerkung musste ich lachen, was ihn noch mehr verunsicherte. „Aber natürlich nicht, mein Junge. Es hat mich sehr gefreut!“ Ich blickte zu den Leuten, die aus dem soeben angekommenen Tram stiegen. „Siehst du die Frau dort, mit dem Stoffkrokodil unter dem Arm?“, sagte ich zum Jungen. Er blickte meinem Finger nach und nickte. „Mit ihr treffe ich mich, darum muss ich jetzt gehen.“ Ich lächelte ihn an, stand auf und ging zur Frau. Während er zu seinen Eltern ging, hörte ich ihn noch freudig sagen: „Ich wusste es. Sie mag es doch, mit Plüschtieren zu spielen!“
Als die Bögen der Geigen leicht über die Saiten tanzten, die Klänge des Pianos den Raum erfüllten und Flötenlaute anmutig die Luft zum Schwingen brachten, da tanzten die Gäste in gleichmäßigen Schritten. Schwungvolle Drehungen ließen die Menschen wirken wie Blumen, die im Kerzenlichte die Schönheit ihrer Blüten offenbarten.
Nur sie wohnte dem Ball nicht bei. Das Mädchen mit den roten Haaren, die im schwachen Schein der Kerzen glühten wie ein Kranz aus heiligen Flammen um das Gesicht, das verdeckt war mit einer elfenbeinfarbenen Maske, stand in stiller Anmut an der Mauer des Balkons. Schwach drang die Musik an ihre Ohren. Die wundervolle Melodie brachte ihr Herz zum Pochen.
Es war nicht, dass sie Bälle nicht mochte. Doch die junge Schönheit, die hinter der Maske sich verbarg, war bekümmert. Ihr Schicksal schien besiegelt, doch ihr Herz wollte der tristen Zukunft noch nicht nachgeben. Doch hatte es überhaupt einen Sinn? Wie oft schon hatte das Mädchen versucht, ihre Eltern umzustimmen?
Sie hatten nicht zugehört. Hatten gesagt, sie würde es nicht verstehen.
Sie würden nur das Beste für sie wollen.
Ihre Hand schloss sich um den lindgrünen Stoff ihres Ballkleides. Sie wollten nicht das Beste für sie. Sie wollten das Beste für sich selbst.
Und doch konnte sie es nicht über sich bringen, sie zu verlassen. Ihre Eltern, die sie so liebevoll aufgezogen hatten. Sie wussten einfach nicht, mit welcher Verzweiflung sie ihre Tochter zurücklassen würden, wenn sie sie diesem Mann zur Frau gaben.
Wind fuhr durch ihre Haare und sie schloss für einen kurzen Moment die himmelblauen Augen, um den wundervollen Duft der Blumen aufzunehmen, der vom Garten herübergeweht wurde und sie umschmeichelte. Am Horizont erschien ein schmales Band aus Licht, das langsam die Dunkelheit über ihr vertrieb. Die Sterne würden nicht mehr lange auf sie herab scheinen. Sie würden verschwinden, um dem wahren Lichte der Hoffnung Platz zu machen.
Schritte hallten zu ihr herüber, und das Mädchen drehte sich schwungvoll herum. In der Dunkelheit konnte sie nur einen vagen Schatten ausmachen, der sich ihr näherte. Mit jedem Geräusch kam er näher, definierte sich mehr, bis sie die Gestalt eines jungen Mannes ausmachen konnte, groß und elegant gekleidet in einem roten Jaket. Ein Degen hing an seiner Hüfte.
Er schien sie längst gesehen zu haben, denn er stellte sich nur ein wenig von ihr entfernt an die Mauer des Balkons. Sie betrachtete das Gesicht mit der geraden Nase, die geschwungenen Lippen. Schwarzes Haar kräuselte sich in seinem schlanken Nacken.
Wie gerne hätte sie auch seine Augen gesehen. Doch er sah zum Garten und die Maske versteckte die zweifelslos schönen Iriden.
Es herrschte Schweigen, nur die Musik drang leise an ihre Ohren. Sie beobachtete ihn, all seine beiläufigen Bewegungen. Wie er den Kopf hob, als ein sanfter Lufthauch sein Gesicht küsste, wie seine Finger in kleinen Bewegungen über den Marmor strichen.
Und als er sich zu ihr drehte, da wandte sie sich schnell ab, bemerkte aber sein Lächeln. Leicht und freundlich, ohne einen Hauch des Hasses, den sie in ihrem Zukünftigen immerzu beobachtete.
„Eigentlich sind mir Maskenbälle zuwider.“
Das Mädchen drehte erstaunt das hübsche Gesicht zu ihm und wurde sogleich von den tiefen, dunklen Augen in Besitz ergriffen, die durch die schwarze Maske in ihre schauten. Sie leuchteten im Kerzenschein golden und freundlich, wie große Sterne.
„Menschen kommen zusammen, um über belanglose Dinge zu reden. Sie schwatzen und prahlen über ihren Besitz und verlieren gänzlich aus den Augen, dass keine hundert Meter entfernt andere an endlosem Hunger sterben.“
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie sah ihn einfach an, versank in dem Leuchten seiner Augen.
„Verzeiht mir“, sagte er schließlich mit ehrlichem Bedauern. „Solche Themen sollten nicht an solch einem festlichen Ort besprochen werden.“
„Nein“, antwortete sie, bemüht das nervöse Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie war noch nie begabt in der Kunst des Redens gewesen. Zu groß war die Angst, dumm und einfältig zu wirken. „Wenn nicht an einem solchen Ort, wann sollte es dann besprochen werden?“
Er ließ sein wundervolles, glockenhelles Lachen erklingen. Dieser junge Mann hielt sich nicht an Konventionen, denn er lachte laut und herzlich.
„Warum seid Ihr auf einem Ball, wenn Euch Bälle zuwider sind?“
„Es gibt vielerlei Gründe. Und alleine die Tatsache, dass ich Euch traf, ist Grund genug, die Entscheidung nicht zu bereuen.“ Er lächelte sie mit einem so ehrlichen Ausdruck an, dass sie vor Anspannung vergas, zu atmen. Niemals war sie jemanden begegnet, der…
„Warum steht Ihr alleine hier auf dem Balkon? Eine Schönheit wie Ihr sollte tanzen und den Abend genießen“, sprach er sie an, als die letzten Takte des Liedes verhallten.
„Ich genieße den Abend“, entgegnete sie und sah in den Himmel. Die Sonne begann, ihn wieder mit ihrem Licht einzunehmen. „Der Musik zu lauschen und meine Gedanken zu ordnen… Ich hatte zu wenig Zeit für solche Dinge.“
„Verzeiht mir, dass ich Euch dabei gestört habe.“
„Das habt Ihr nicht.“ Diesmal war sie es, die lächelte. „Ich habe bereits zu lange gegrübelt."
Sie sahen einander stumm an, helles Gold und der Himmel verschmolzen ineinander, als die Geigen sanft den Beginn eines neuen Liedes anstimmten.
„Darf ich Euch um einen Tanz bitten?“ Der Mann versank in einer Verbeugung und hielt ihr seinen Arm hin.
„Ich dachte, Ihr mögt keine Bälle?“
„Nun, ich denke, für Euch würde ich meine Meinung ändern.“
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem strahlend schönen Gesicht aus und ihre Wangen röteten sich leicht. Sanft ergriff sie seinen Arm und schritt näher an ihn heran, bis er seine Hand auf ihre Hüfte und sie ihre auf seine Schulter legen konnte.
Mit dem nächsten Takt begannen sie zu tanzen.
„Darf ich Euren Namen erfahren?“, hauchte er ihr sanft ins Ohr, als sie durch eine Drehung in seinen Armen versank.
„Juliet“, gab sie leise zurück, zu überwältigt von seiner Nähe und der tiefen Stimme. „Und Ihr?“
Er nahm sich einige Schritte Zeit, führte sie anmutig über den Balkon. Und als sie ihm erneut so nah war, dass ihre Gesichter sich beinahe berührten, da antwortete er endlich.
„Mein Name ist Romeo.“
Es war schon einige Stunden her, dass die Sonne aufgehört hatte, zu scheinen. Die Dunkelheit waberte in den Straßen der Stadt umher, nur vor den Straßenlaternen floh sie in blanker Panik. Ab und an durchbrach ein vorüberfahrendes Auto den Soundtrack der Nacht, der ansonsten nur aus gedämpfter Musik bestand, welche von der benachbarten Disco herrührte.
›Eigentlich sollte es verboten gehören, dass Fastfood-Lokale um diese Uhrzeit noch aufhaben‹, dachte sich die Angestellte hinter dem Tresen. Mit einem Gesicht, dass dem Betrachter sofort ein ›Ich wäre jetzt am liebsten zu Hause, was willst du also hier?‹ zuschnauzte, stand sie regungslos an der Kasse und beobachtete die letzten Gäste. Meistens waren es zu dieser Zeit betrunkene Jugendliche oder junge Erwachsene, die die Disco nebenan entweder freiwillig verlassen hatten oder rausgeschmissen worden waren.
Letzere waren die schlimmste Sorte von Kunden, denn neben einer fürchterlichen Fahne hatten diese Kunden jedes Mal die Stirn, endlos zu diskutieren. »Ey, Puppe, du kannst mir doch bestimmt ne doppelte Portion Pommes dazulegen, oder? Och komm! Weil ich es bin!« Meistens giftete die Dame an der Kasse spürbar gereizt zurück und knallte die Bestellung aufs Tablett. Ohne Extras.
Besonders lustig wurde es, wenn sich diese Leute übergeben mussten, was immer entweder auf die Lederbänke oder auf den Toilettenboden landete. Das passierte etwa zwei Mal die Woche. Innerlich betete die Dame an der Kasse, dass es heute nicht passieren möge. ›Ich will diese Schicht schnell hinter mich bringen. In drei Stunden ist Ladenschluss, danach wird geputzt, und dann will ich verdammt noch mal nach Hause! Wehe, jemand von euch kotzt mir den Laden voll!‹ Im nächsten Moment schepperte es, gefolgt von einem gelallten »Oh« - jemand hatte sein Tablett mitsamt Essen und Getränken darauf auf den Boden fallen lassen. ›Drecksalkis‹, fluchte die Kassiererin im Kopf, bevor sie einen Kollegen aus der Küche zum Putzen wegschickte.
Die Tür des Restaurants flog auf und ein junger Mann torkelte herein. Er hatte sich mit voller Wucht gegen die Tür geworfen und versuchte nun etwas unbeholfen, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er stolperte geradewegs auf die Kasse zu, wobei er in die Getränkepfütze auf dem Boden trat. Aber das bemerkte er nicht. Am Tresen angekommen, stützte er sich auf der marmornen Oberfläche ab und neigte sich zur Bedienerin hinunter, die ihn mit einer Mischung aus Hass und Vorwurf anfunkelte.
- »Was darf's sein?«
- »Süße, ich nehm den Doppelten mit Cola«, glaubte die Kassiererin aus dem Gelalle herauszuhören. Ob er das jetzt wollte oder nicht, war ihr im Grunde egal. Sie tippte grob auf der Kasse herum.
- »Für die Pommes Ketchup oder -«, fragte sie.
- »Halt halt halt, warte! Auf dem... sind Tomaten drauf, oder?«
- »Ja.«
- »Wääääääh! Mach den weg! Ich nehm doch lieber... äh...«
Der Betrunkene lehnte sich zurück und schaute auf die Speisenkarte, die von der Decke baumelte. Er kniff die Augen zusammen und wanderte mit ihnen die Plakate entlang, ohne wirklich etwas zu lesen.
- »Oder, Schnecke, habt ihr grad Coupons da?«
- »Ich bin ein Mensch und keine Schnecke«, gab sie angefressen zur Antwort.
- »Ob ihr Coupons dahabt, will ich wissen!«
- »Seh ich so aus?«
- »Püppchen, ich lass mich von dir nicht blöd anmachen!«
Die Frau hinter der Kasse kochte und hatte gute Lust, dem betrunkenen Mann eine saftige Ohrfeige zu verpassen, die er ihrer Meinung nach verdient hatte.
- »Also. Ketchup oder Mayo jetzt!?«
- »Der Doppelte ist aber mit Tomaten!«
- »Dann sag ich der Küche halt, sie soll einen ohne Tomaten machen. Na?« Manchmal erschrak die Kassiererin wirklich, wie unfreundlich sie nachts sein konnte. Tagsüber war alles überhaupt kein Problem, auch wenn es selbst am Nachmittag richtige Deppen geben konnte. Das brachte sie nicht aus der Ruhe. Nur nachts, wenn sie mit Betrunkenen zu tun hatte, wurde sie so abweisend. Den Grund dafür kannte sie selbst nicht.
Der Mann starrte sie lange an. »Mayo.«
- »Sieben fünfzig.«
Umständlich kramte der Betrunkene seinen Geldbeutel aus der Tasche und bezahlte. Er bekam ein Tablett, auf das die Bedienerin die Cola stellte.
- »Also. Der Doppelte ohne Tomate dauert. Hier die Nummer, gut sichtbar auf den Tisch stellen, und dann bring ich den raus, wenn er fertig ist.«
Der Mann taumelte davon und ließ sich auf eine Sitzbank plumpsen.
›Na endlich‹, dachte die Frau an der Kasse. Sie hatte wieder ihre unmotivierte, starre Haltung eingenommen und wartete auf das Schichtende. ›Gott sei Dank hab ich bald Urlaub. Solche Leute wie der gehen mir so dermaßen auf den Sack mit ihrem elenden Gesaufe! Eigentlich gehört ein Alkoholtest vor die Eingangstür, und wer über ein halbes Promille im Blut hat, muss draußen bleiben. Ich hab keine Lust, mich nachts von solchen Trinkern anpöbeln zu lassen! Und dann randalieren die und machen Dreck und Sauerei und benehmen sich wie die Wilden... ich hasse sie einfach, ich hasse sie! Ich sag dem Chef, er soll mir nie wieder Nachtschichten eintragen. Wenn er darauf keine Rücksicht nimmt, kündige ich. Kassiererin kann ich auch woanders spielen.‹ Ein Ruf kam aus der Küche und noch während sie den Burger ohne Tomaten zu dem betrunkenen Mann brachte, war sie weiter in Gedanken versunken.
›Ohne Tomaten. Wie kann man das bloß ohne Tomaten bestellen! Die gehören da einfach drauf! Da, nimm deinen Dreck und friss ihn. Und dann geh. Geh mit Gott, aber geh! Ich will dich nie wieder sehen!‹
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm uns diese Sturmdämonen zugesetzt haben. Sie zerstören unsere Ernte, machen furchtbaren Lärm und schau selbst, was sie mit unserem Wetter anstellen!“, die alte Frau deutete mit ihrem knochigen Finger auf das tosende Gewitter hinter dem Fenster, dann wandte sie sich wieder der Schale zu, in der sie sich zuvor Gemüsesuppe geschüttet hatte, und schlürfte geräuschvoll den letzten Rest, den das Porzellangefäß noch hergab. Eilig tat ich es ihr nach, nur um auf möglichst höfliche Art zu verhindern, dass diese lächerliche Unterhaltung weiterzuführen. Diese Oma war eindeutig nicht mehr ganz klar im Kopf, doch als Trainer durfte man nun mal nicht wählerisch sein. Lieber redete er mit abergläubischen Greisen über Wettergötter, als dass er draußen inmitten des Wolkenbruchs stehen würde und bis auf die Knochen durchnässt wird. Die Suppe schmeckte nicht einmal so schlecht wie erwartet, wenigstens schien die Hausbesitzerin während dem Kochen ganz bei der Sache zu sein. Sie schaute mir freundlich lächelnd zu, wie ich mir die würzige Brühe in den Mund kippte, ich zog meine Mundwinkel ein wenig nach oben und nickte, als Zeichen dass es mir schmeckte, und die Falten im Gesicht der alten Frau zogen sich schlagartig noch weiter in die Höhe, scheinbar freute sie sich abartig, dass mir ihre Suppe schmeckte. Als das letzte bisschen in meinem Rachen verschwand, stellte ich meine Schale auf den ziemlich mitgenommenen Holztisch, an dem wir saßen und langsam wurde mir der glänzende Blick in ihren Augen, der die ganze Zeit an mir haftete, unangenehm.
„Es hat mir wirklich sehr gut geschmeckt!“, beruhigte ich sie und betonte dabei jedes einzelne Wort besonders kräftig, wer weiß, wie gut es mit ihrem Hörvermögen stand?
„Das freut mich jetzt aber!“, antwortete sie und schlug aufgeregt mit ihren Wimpern auf und ab. Ihre dürre Hand griff meine Porzellanschale, dann stand sie auf und trug die beiden Gefäße an das rostige Spülbecken an der Wand und ließ Wasser ein.
Während die unheimliche Oma mit dem Spülen ihres Geschirrs beschäftigt war, ließ ich meinen Blick über die Inneneinrichtung wandern. Der Stuhl, auf dem ich Platz genommen hatte, war aus ebenso altem Holz wie der Tisch, unter der dicken Staubschicht in den Regalen konnte man einige zerfranste Buchrücken erahnen und schon beim Betreten der Hütte vertraute ich den knarrenden Holzbrettern, die den Boden bildeten, nicht. Die Frau hatte ein einziges Bett, und über einem löchrigen Teppich flackerte ein breiter Röhrenfernseher auf einer doch recht teuer aussehenden Kommode.
Etwas kitzelte mich an meiner linken Wange, ich drehte mich hektisch um, und sah durch das Fenster, dass sich das Meer aus düsteren Gewitterwolken am Himmel langsam lichtete und sich schon einzelne Sonnenstrahlen herausschälten. Ich zögerte keine Sekunde, fischte meine brandneue Trainertasche unter dem Tisch hervor und stand hektisch auf. Fast rennend erreichte ich die Tür und ignorierte dabei die bedrohlichen Klänge des Bodens unter mir.
„Mam, das Wetter ist besser geworden, ich werde mich dann mal auf den Weg machen!“, rief ich der alten Frau mit einem maßlos übertriebenen Lächeln noch zu.
Als sie sich umdrehte um mir zu antworten, fiel gerade die Holztür quietschend zurück in ihren Rahmen.
Ich wusste, dass das keine Glanzleistung war und ich eindeutig netter hätte sein können, immerhin hatte sie sich ja mühevoll um mich gekümmert, aber es gibt Grenzen. Ein zufriedenes Grinsen legte sich mir wieder über meine Lippen und ich schwang mir meine Tasche in hohem Bogen über die Schulter. Ich setzte meinen Weg in Richtung einer grasbedeckten Anhöhe fort, bei jedem Schritt spritzte das Wasser von der matschigen Erde auf, das musste wirklich ein abartiger Sturm gewesen sein.
Sturmdämonen, kein Mensch war weit und breit zu sehen, also schämte ich mich nicht, einfach laut loszulachen. Und dann kam, was kommen musste.
Ein Tropfen landete auf meiner Hand, erst dachte ich, es wäre nur ein weiterer Spritzer vom nassen Gras, doch sofort folgte ein zweiter Tropfen, und ein dritter. Egal wie, umkehren werde ich nicht, Panaero lag schon zu weit hinter mir und ich wollte auf keinen Fall ein weiteres Mal der verrückten Lady Gesellschaft leisten, so einladend ihr Haus auch aus dem tristen Grau der Bäume herausschien. Ich musste mich beeilen, wenn ich bis zum Anbruch eines weiteren Jahrhundertsturms im Wendelberg sein wollte, also setzte ich mich in Bewegung und rannte entgegen eiskaltem Wind den Hügel hinauf, ich musste meine Baseballkappe dabei verzweifelt festhalten, denn der bereits wütende Sturm riss rücksichtslos an meiner Kleidung und bald spürte ich schon den Regen durch meine Kleidung sickern. Ich schloss meine Augen, um wenigstens diese zu schützen, doch mittlerweile war der Wind zu stark, als dass ich noch hätte weiterlaufen können. Verloren suchte ich nach einem Ausweg, doch meine Umgebung bestand nur noch aus den Regenfällen, die alles wie ein Schleier zu verdecken schien. Fast alles.
Ich hatte es zuerst für einen Menschen gehalten, doch die Silhouette trog. Der keilförmige Oberkörper war olivgrün, einzelne violette Flecken musterten seine glatte Haut, auch die auf den unglaublich kräftigen Oberarmen, die es verschränkt vor seiner breiten Brust hielt. Das Wesen hatte ein leicht aufgedunsenes Gesicht für einen Menschen. Im Schein seiner stechend gelben Augen erkannte man einen schlohweißen Bart über dem Mund, den es zu einem spöttischen Lachen aufgerissen hatte. Wie der Satan persönlich wirkte es, auch wenn das Paar lila Hörner auf seiner Stirn recht kurz für einen Teufel war.
Das Wasser perlte in meinen ungläubig aufgerissenen Mund, und meine Hände zitterten nicht wegen der Kälte. Das geisterhafte Wesen war unterhalb seines Bauches in eine Wolke gehüllt, auf der es über dem Boden schwebte. Es stieß ein gedämpftes Lachen aus, grinste mir noch schelmisch zu, dann begann es, in die Luft aufzusteigen. Ein einsamer weißer Wolkenstreif verblieb am düsteren Himmel und markierte den Kurs, den das Pokémon genommen hatte. Der Regen ließ nach und nach ab und der Wolkenball über mir brach wieder auseinander. Ich fasste mich wieder und biss die Zähne entschlossen zusammen, der Trainergeist eroberte wieder meine Sinne.
„Sturmdämon? Wir werden ja sehen!“
Eilig rannte ich der Wolkenspur über mir nach.
„Es ist wieder soweit“, verkündete der Professor. „Morgen kommen die nächsten drei Kinder und suchen sich jeweils eins von euch als ihren neuen Partner aus.“
Eigentlich hätte man das erwarten können - denn es war schon eine Weile her, seit die letzten angehenden Pokémontrainer ihr erstes Pokémon ausgesucht hatten. Für das Plinfa war es dennoch ein unbequemer Tag. Zu oft schon hatte es mit ansehen müssen, dass einige Kameraden aus den Reihen der im Labor wohnenden Gemeinschaft gerissen wurden und auf einmal ein neues Leben mit einem wildfremden jungen Menschen beginnen mussten. Die letzten beiden Male war es selbst schon groß genug gewesen, um vom Professor ausgewählt und den Kandidaten vorgestellt zu werden, aber beide Male hatten sich die Kinder für ein anderes Pokémon entschieden. Konnte man den Tag nicht irgendwie überspringen?
Während der kleine Pinguin noch seinen Gedanken nachging, machte der Professor das Licht aus und verließ das Labor. Es war ja auch schon spät genug, und der erste der angehenden Trainer würde am morgigen Tag sicherlich schon in der Früh vorbei kommen.
Erst einige Minuten später bemerkte das Wasserpokémon, dass der Professor in der Sommerhitze vergessen hatte, das Fenster zu schließen. „Das ist doch die Gelegenheit“, dachte es sich. Es brauchte nur hinaus zu klettern und sich am nächsten Tag irgendwo im Freien zu verstecken. Dann wären die Kinder wieder weg, und es könnte weiter im Labor leben.
Gesagt - getan. Es kletterte ins Freie, lief eine geraume Zeit lang durch die Felder der Umgebung, deren Getreide zur Ernte reif stand und im strahlenden Sonnenlicht golden leuchtete. Die Luft war schwülheiß, weshalb es froh war, sich in das saftige, grüne Gras unter den kühlenden Schatten eines alten Baumes hinlegen zu können und einzuschlafen.
„Was bist du denn für einer?“, wurde es wenig später von einem freundlich aussehenden Jungen geweckt. Soweit es das beim Mondlicht erkennen konnte, war dieser etwa in dem Alter wie die angehenden Trainer, die sich beim Labor ihre ersten Pokémon abholten. Aber der Professor lag zur Zeit in seinem Bett, und der Pokéball war auch weit genug weg. Der kühle Nachtwind brachte die Haare des Jungen in Unordnung, doch das Wasserpokémon konnte, soweit es ihm möglich war, ein leises Lächeln auf den schmalen Lippen seines Gegenübers erkennen. „Plinfa!“, antwortete es und machte ein paar zögerliche Schritte auf den Jungen zu.
„Du bist also ein Plinfa? Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Interessiert betrachtete er es eine Weile. Dunkles Haar umrahmte seine Stirn und glänzte leicht im fahlen Mondlicht der warmen Nacht. Das schmale Gesicht strahlte eine angenehme Atmosphäre aus. Ebenfalls dunkle Augen musterten es wachsam, neugierig blickte das kleine Wesen zurück.
„Lebst du schon lange hier in der Gegend? Oder gehörst du bereits zu einem Trainer?“
„Pli...“, murmelte das Pokémon etwas verlegen. Es konnte ihm ja schlecht erzählen, dass es eigentlich für den nächstbesten angehenden Trainer zu haben sein sollte.
Aber der Junge kam ihm zuvor. „Ach so, du verstehst mich ja nicht“, sagte er und fügte nach kurzem Zögern noch hinzu: „Weißt du, morgen besuche ich den Professor und hole mir dort einen kleinen Freund ab. Ich hoffe nur, dass der auch so nett ist wie du.“ Irgendwie hatte das Wasserpokémon das Gefühl, dass der Junge so etwas nicht gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass es ihn verstehen würde.
„Ein Pokémon muss nicht nett sein“, mischte sich ein anderer Junge in das Gespräch ein. „Es reicht wenn es stark ist und Kämpfe gewinnt.“
„Das meinst du nicht ernst!“, entgegnete der erste Junge schockiert.
„Natürlich meine ich das ernst. Und außerdem bringt es nichts, sich heute die Nacht um die Ohren zu schlagen und ein völlig verweichlichtes wildes Pokémon anzuquatschen.“ Dieser Junge schien etwa genauso alt zu sein wie der erste, war für sein Alter aber recht groß. Er hatte hellblonde Haare, und sein ganzes Auftreten sorgte für eine kühle, unbequeme Stimmung. „Morgen ist der große Tag, und da hole ich mir ein richtiges Pokémon.“
Sollte das etwa heißen, dass ein Plinfa kein richtiges Pokémon ist? Der kleine Pinguin fühlte sich keineswegs verweichlicht, und um die Situation aufzuklären, sagte es: „Plinfa, plinfa pli!“.
„Spiel dich nicht so auf!“, antwortete dieser daraufhin. „Ein Wasserpokémon ist nun einmal nur etwas für Weicheier, da kannst du nichts daran ändern.“
Er wollte also nicht lernen, und das Plinfa fühlte sich nun erst recht angegriffen. Um seinem verletzten Stolz Ausdruck zu verleihen, ließ es sich zu einer Blubberattacke hinreißen.
Bevor der unerwartet nass gespritzte Kerl den nächsten Schritt machen und den Streit weiter eskalieren lassen konnte, mischte sich der erste Junge ein, indem er sich zwischen die beiden Kontrahenten stellte und sagte: „Schluss jetzt! Wenn du schon deine festgelegte Meinung hast, musst du sie nicht an jedem x-beliebigen Pokémon auslassen.“
Mit einem deutlich versöhnlicheren Ton wandte er sich an das Plinfa: „Und du solltest dir diese Aussagen nicht so zu Herzen nehmen. Das ist eben ein Hitzkopf, aber ich hab dich trotzdem gern.“
„Da bist du ja, Plinfa!“, erklang plötzlich die Stimme des Professors. „Du kannst doch nicht einfach so davon laufen. Was hättest du gemacht, wenn ich das offene Fenster nicht doch noch entdeckt und nach dir gesucht hätte?“
„Plinfa, pli...“, antwortete das Wasserpokémon leicht verlegen. Irgendwie war der kurze Ausflug zwar ereignisreich gewesen, aber es war doch beruhigend, dass der Professor sich Sorgen machte. Sicher würde er es am folgenden Tage trotzdem den drei Kindern anbieten. Zwei der angehenden Trainer hatte es gerade eben kennen gelernt - und bei dem freundlichen Jungen würde es nach diesem Abenteuer sogar gerne mitkommen. Nur was, wenn er es gar nicht haben wollte oder wenn das dritte Kind zuerst kam und es sich aussuchte?
Die Stunden bis zum Morgen waren schwer zu ertragen. Aber es hätte sich keine Sorgen machen müssen: Schon recht früh kam der freundliche Junge ins Labor, und nachdem der Professor ihm die Pokémon gezeigt hatte, sagte er ohne zu zögern: „Ich nehme natürlich das Plinfa.“
In der lauten und nach Schweiß riechenden Masse verlor Katharina nicht das erste Mal die Orientierung. Lauter Verkehrslärm dröhnte in ihren Ohren und aufgewirbelter Staub ließ sie die Augen zusammenkneifen. Gerade wurde sie abermals von einem Mann im Anzug angerempelt und ohne Entschuldigung stehen gelassen, sodass sie beinahe das Gleichgewicht verlor, sich aber gerade noch fangen konnte.
Sie war nie gerne unter Menschen gewesen. So weit sie sich erinnern konnte, hatte sie seither immer still und zurückgezogen, ganz für sich gelebt. Sie erinnerte sich mit einem schüchternen Lächeln auf den Lippen daran, wie sie vor ein paar Minuten, nachdem sie die warmherzige Sicherheit ihres Zuhauses verlassen hatte, geschockt die Augen zusammengekniffen und die Hand als Schutz vor diese gehalten hatte - sie hatte die Sonne schon so lange nur von innen gesehen. Nun prickelte diese wohlig auf ihren Armen.
Wieso ging also ein Mädchen, welches die Einsamkeit so genoss, an einem so verkehrstüchtigen Tag, an dem die Sonne im Zenit stand, in die Innenstadt? Katharina ertappte sich dabei, wie sie rot wurde, obgleich sie den Grund noch immer nicht glauben wollte, nicht glauben konnte - ein Junge war der Grund.
Eigentlich verbot sich Katharina, an ihn zu denken - den Jungen, der jedem nur als Chris bekannt war, wobei sie seinen vollen Namen, Christopher, als schöner empfunden hatte. Doch sie war nicht imstande, einen Tag zu verbringen, ohne an ihn zu denken.
Sie hatte ihn eines Abends, als sie sich mit Keksen unter einer Decke verkrochen hatte, im Internet gefunden. War auf seine Seite gegangen - rein aus Neugier. Es war ja nicht so, dass sie nicht wusste, wer er war - zweifelsohne der beliebteste Kerl auf der Schule. Also, sie hatte sich, nachdem sie sich einen der herrlich schokoladigen Kekse in den Mund geschoben hatte, seine Bilder angeschaut, und zu ihrer Bestürzung festgestellt, dass ihr Herz schneller als normal gegen ihre Brust gehämmert hatte. Jeder wusste, dass er gut aussah. Alleine mit seinen immer perfekt liegenden, rabenschwarzen Haaren und seinen kantigen, aber nicht unattraktiven Gesichtszügen verzauberte er jedes Mädchen. Doch nicht dieses Wissen hatte das noch andauernde Herzklopfen in ihr ausgelöst - es waren vielmehr seine eisblauen Augen, die einen Tiefgang besaßen, der Katharina fremd war.
Und so hatte sie sich mutig einen weiteren Keks in den Mund geschoben und ihn angeschrieben. Wissen zu wollen, wie es einem flüchtigen Bekannten geht, ist ja noch kein Eindringen in die Privatsphäre, hatte sich das Mädchen damals gesagt.
Und Christopher hatte ihr tatsächlich geantwortet. Dabei hatte er nichtmal eingebildet oder genervt gewirkt, im Gegenteil. Er hatte sie immer weiter angeschrieben, mit der Zeit sogar Komplimente gemacht. Selbst, wenn Katharina ihr Äußeres als nichts besonderes ansah - rehbraune Augen und kastanienbraune, schulterlange Haare, schmale Lippen - ein unscheinbares Mädchen, wie es im Buche steht. Was er also an ihr fand?
Wenn ich das wüsste, wäre ich schlauer. Erneut ertappte sich Katharina dabei, wie sie an Christopher dachte. Und erneut versuchte sie erfolglos zu ignorieren, wie sehr ihr Gesicht dabei kribbelte. Etwas hilflos suchte sie die Gegend ab. Christopher und sie hatten sich an einem großen Brunnen treffen wollen, jedoch kein Treffen im eigentlichen Sinne, wie Katharina es sich vorgestellt hatte. Christopher hatte geschrieben, er wolle nicht reden, nicht viel Zeit mit ihr verbringen. Er hatte es auf mangelnde Zeit und Scham gezogen, wenn Katharina es jedoch nicht besser wüsste, wollte er nur nicht in der Öffentlichkeit mit ihr gesehen werden. Verständlich, so unbeliebt wie sie war. Ein bitterer Beigeschmack kroch dem Mädchen die Kehle hoch. Die aufsteigenden Tränen blinzelte sie einfach weg. Nur nicht darüber nachdenken...
Briefe schreiben wollten sie sich gegenseitig, laut Christopher. Und Katharina hatte zugestimmt.
So trat sie nun mit wackeligen Schritten auf den ihr immer näherkommenden Brunnen zu, den Brief, den sie sorgsam in einen rosa Briefumschlag gesteckt hatte, immer fester und dennoch vorsichtig an ihre Brust gedrückt. Als sie ihn von weitem erblickte, setzte ihr Herz zunächst einige Takte aus, ehe es seinen Rhythmus erneut schneller als normal fortsetzte. Seine Muskeln, die unter seinem T-shirt hervorkamen, verschlugen Katharina den Atem. In Echt sieht er ja noch besser aus...
Als sie ihn endlich erreicht hatte, dröhnte ihr Herz so laut in ihren Ohren, dass sie fürchtete, er könnte es neben dem lauten Rauschen des Brunnens hören. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, welches er sofort erwiderte. Er trat auf sie zu, bis sie sich ganz nah waren - so nah, dass sie seinen Geruch wahrnehmen konnte, männlich, maskulin. Sie wollte gerade die wacklige Stimme erheben, als er ihr zuvorkam. "Danke für dein Kommen. Du siehst wirklich wunderschön aus. Aber leider muss ich schon wieder los. Hier." Mit den Worten hielt er ihr den Brief hin, in schlichtes, weißes Papier gesteckt. Ehe sich Katharina für ihren Briefumschlag schämen konnte, nahm sie den Brief mit pochendem Herzen entgegen und gab ihm den ihren. Und dann sah er ihr in die Augen. Sie waren ebenso eisblau, wie sie sie sich vorgestellt hatte - Katharina drohte, sich in ihnen zu verlieren. Sie wurde gefangen in einem Gefängnis aus Eis, weit entfernt von Zuhause, und -
"Wir sehen uns, bis dann." Abrupt wurde das Mädchen aus ihren Träumen gerissen, als Christopher sich schnell, aber sanft lächelnd abwandte. Mit schnellen Schritten und den Händen in den Hosentaschen ging er heim. Doch Katharina war nicht fähig dazu. Sie dachte stetig an seine Augen, denen eine Sanftheit innewohnte, die sie nicht beschreiben konnte. Selbst wenn er abweisend gewirkt hatte, seine Augen hatten eine ganz andere Sprache gesprochen.
Noch lange stand Katharina an Ort und Stelle, den Brief in den Händen, bedacht, ihn nicht zu zerdrücken. Ihr Herz hatte sich noch immer nicht beruhigt. Konnte man also sagen, dass sie verliebt war? Sie errötete. Mal wieder.
Hätte sie damals gewusst, dass ihr zukünftiger Mann vor ihr stand und nur so abweisend gewesen war, weil auch der coolste Junge der Schule Angst hatte, verletzt zu werden, hätte sie in dem Moment gewiss einen Freundensprung gemacht, direkt hinein in den Brunnen.
Nur noch zwei Meter. Ein Meter. Geschafft!
Schwer ein- und wieder ausatmend ließ ich mich auf der schmalen Holzstange nieder, obgleich ich ihren neuen und befremdlichen Geruch nicht ausstehen konnte. Erst, als ich sichergestellt hatte, dass mich dieses eigenartige Wesen nicht mehr verfolgte, entspannte ich mich allmählich und warf einen kurzen Blick auf meine gelb-grau gefiederten Flügel. Viele der Federn waren bereits von meinem Verfolger ausgerissen worden; die kahlen Stellen waren übersät mit Kratzern und Wunden. Auch diese waren mir teilweise von diesem Wesen zugefügt worden, doch auch ich trug eine gewisse Schuld daran. Als ich versucht hatte, vor dieser Gestalt zu flüchten, war ich schließlich mehrmals mit voller Wucht gegen das harte Metallgitter, welches uns umgab, geflogen. Was dachten sich diese Menschen auch dabei, mich mit diesem Monster zusammen einzusperren? Wie konnten sie mir das nur antun? Seit einigen Stunden musste dieses Wesen schon nach mir getrachtet haben; es war erstaunlich, welche Ausdauer es besaß. Und wie schnell es dabei war! Ich hatte kaum eine Chance, vor ihm zu entkommen. Wie ein Gummiball flog es quer durch den Käfig, prallte an einem der Gitterwände ab, startete einen neuen Anlauf. Fing mich mehrmals ein, riss mich zu Boden. Nur durch eine kurze Unaufmerksamkeit seinerseits gelang es mir immer wieder, aus seinen Fängen zu entkommen. Und dennoch führte es jede einzelne seiner Handlungen mit solch einer unglaublichen Geschwindigkeit aus, dass es mir schon schwer viel, seine Silhouette zu erkennen.
Ich atmete noch einmal tief ein und wieder aus. Ich musste möglichst schnell ein passendes Versteck finden. Doch wo? Hier schien nichts zu sein. Gar nichts. Bis auf die Holzstangen, die vereinzelt durch dünne Stoffseile an die Käfigdecke gehängt worden waren, und Essbarem, wie etwa Salatblättern und Sonnenblumenkernen, war der Käfig wie leergefegt. Damit mich diese Gestalt noch schneller erwischen konnte? Was zur Hölle hatten sich die Menschen dabei nur gedacht? ...aber wo hatte sich das Wesen dann versteckt? Es konnte sich doch unmöglich in Luft aufgelöst haben... oder doch?
Ich stieß mich von der Holzstange ab, machte anschließend einige Flügelschläge in Richtung abwärts und ließ mich dann behutsam auf dem harten, wenngleich angenehm kühlen Holzboden nieder. Wenn dieses Wesen jetzt endgültig fort war, konnte ich mich hier doch einmal genauer umschauen. Wo war ich hier eigentlich? Ich kannte diesen Ort nicht.
Der Boden war stellenweise mit altem Zeitungspapier ausgelegt worden; offenbar hatten es die Menschen schon benutzt, denn sonst würde es nicht so sehr nach ihnen riechen. In meinem Käfig hatte es derartiges nicht gegeben. Wieso also hier? War dieser Ort etwas besonderes? Oder vielleicht sahen ihn die Menschen als etwas besonderes an, da ich hier zum ersten Mal in meinem Leben auf ein Wesen traf, welches kein Mensch war? Schließlich war ich mein ganzes Leben lang alleine gewesen. Selten hatten sich meine „Besitzer“, wie sie sich nannten, um mich gekümmert. Diese sonderbare Gestalt, mit der ich hier gemeinsam verweilen musste, war das erste Lebewesen, welches mir länger als wenige Minuten lang Aufmerksamkeit schenkte. Und doch war mir diese Aufmerksamkeit schon fast zu viel des Guten.
Mit meinem kleinen, schwarzgrauen Schnabel hob ich einen der Kerne auf, die auf dem Boden vielleicht sogar zu hunderten verstreut lagen. Erst jetzt bemerkte ich den Hunger, der langsam in mir hochstieg und dazu zwang, den Kern ohne zu „kauen“, wie die Menschen dazu sagten, hinunterzuschlucken.
Je mehr Kerne ich zu mir nahm, desto sicherer fühlte ich mich. Die Gefahr schien gebannt zu sein; jetzt musste ich nur noch darauf warten, dass mich die Menschen wieder in meinen Käfig zurückließen. Was hatten sie noch einmal gesagt, als sie mich hierher brachten?
„Du musst die Zähne zusammenbeißen, doch nachher wird es dir besser gehen.“
Wie hatten sie das gemeint? Besser gehen? Wieso denn das?
Ich schien so sehr in meine Gedanken vertieft zu sein, dass ich das leise Wimmern und das Geräusch schlaffer, sich mir nähernder Schritte kaum wahrnahm. Es war mehr oder weniger ein Zufall, dass ich mich ausgerechnet in diesem Moment umdrehte – und sogleich die Flucht ergreifen wollte. Schließlich war es wieder hinter mir aufgetaucht. Dieses Wesen, das mir nun schon seit Stunden folgte.
„Warte...“
Dieses Wort – nein, dieser unvollständige Satz – drang in mein Ohr und ließ mich erstarren. Diese Stimme. Wieso nur klang sie so vertraut? Und dennoch so ganz anders als die Stimmen meiner Menschen?
„Bitte... warte doch... höre mir zu!“, klang noch einmal die müde Stimme der Gestalt durch den verlassenen Ort.
„Du musst keine Angst haben. Bitte... ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich dir nachgestellt habe. Du hast nicht mit dir reden lassen... ich musste es tun! Ich wusste nicht, dass du so empfindlich reagierst... es tut mir leid.“
Das Wesen streckte etwas von sich. Im ersten Augenblick konnte ich nicht verstehen, was es damit bezwecken wollte. Was war das? Was wollte es damit?
Doch nur den Bruchteil einer Sekunde später begriff ich.
Lange Federn, gelb-grau. Etwas formend, was die Menschen in ihren Gesprächen untereinander als einen „Flügel“ bezeichnen.
„Du... du bist...“
Ein Oberkörper, voller winzig kleiner, leuchtend grüner Federn, welche im Licht der Sonne, die gerade durch das Metallgitter hindurch schien, zu schimmern begannen.
Kurze, gelbe Federn, die den Kopf zierten und zu einem noch kürzeren, grauen Schnabel führten.
Zwei große, schwarze Knopfaugen, die mich auffordernd, wenngleich auch bittend musterten.
Mir gelang es nicht, die Worte auszusprechen. Denn das, was sich vor meinen Augen abspielte, erschien mir eher wie einer dieser Filme, die sich die Menschen sonntagabends gerne ansahen. Oder wie ein Traum. Konnte es denn sein...? Nach so vielen Jahren? Würde ich denn endlich wieder jemanden haben, der meine Sprache versteht? Wie in der Zeit, in der meine Familie und Geschwister, an deren Aussehen ich mich kaum mehr erinnern konnte, noch bei mir waren?
Etwas zierte das Gesicht dieses Wesens. Etwas, was man wohl als ein sogenanntes „Lächeln“ deuten könnte.
Ich hörte einen verschwommen Laut, wahrscheinlich von den Menschen ausgesprochen. Ich konnte und wollte nicht genau hinhören; doch es klang wie „ So ein Glück - offenbar ist es uns gelungen, beide Wellensittiche miteinander zu sozialisieren!“
Normalerweise traue ich keinen Blutsaugern, eigentlich bringe ich jeden der Ihren um, sobald ich einen finde, doch bei ihr ist es anders gewesen. Sie war anders. Bereits bei unserer ersten Begegnung hatte sie es auf eine eigentümliche Art und Weise zustande gebracht, dass ich ihr mein Vertrauen schenkte und das wohlgemerkt als Vampir. Wie leichtsinnig ich doch gewesen war.
~
„Scheiße!“
„Was ist los?“
„Er ist hier, du Idiot!“„Wer ist er?“
Der Größere und scheinbar auch Gefährlichere von beiden gab dem anderen einen Schlag gegen die Stirn.
„Vor wem haben wir wohl Angst? Wohl kaum vor einem Menschen, oder?“
Er holte tief Luft und sah mich an.
„Beweg deinen verdammten Kopf in die Richtung, in die ich schaue!“
Doch ich agierte schneller als der andere Vampir. Ich rannte direkt auf ihn zu, zog meine Pistole mit den Silbernitratgeschossen, visierte ihn an und drückte ab. Ein helles Geräusch hallte in der Gasse wider. Die Kugel traf den Blutsauger genau zwischen die Augen. Im nächsten Moment leuchtete er grell auf und zerfiel mit dem Kopf beginnend zu Staub.Der Andere starrte die Überreste seines gefallenen Gefährten mit weit aufgerissenen Augen an. Von seiner Selbstsicherheit war nichts mehr zu erkennen. Mein Pistolenlauf endete an seiner Stirn.
„Was willst du?“
Seine Stimme klang dünn und gepresst. Ich musterte ihn abschätzend, er war kein Reinblut, sondern ein Gewandelter, die Unwürdigste aller Vampirarten.
„Ich will Antworten.“
Ich war ruhig, obwohl ich darauf brannte einfach abzudrücken und ein weiteres dieser Monster in die ewigen Jagdgründe zu schicken.
„Von mir wirst du nichts erfahren, egal was du wissen willst! Aus mir bekommst du nichts raus, du Arschloch!“Ich holte mit der Pistole aus und gab ihm einen rechten Haken. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Hasserfüllt starrte er mich nun an, nachdem sein Kopf durch den Schlag meiner Waffe nach links geschnellt war.
„Daywalker.“
Eine weibliche Stimme ertönte hinter mir. Ich hob erstaunt den Kopf, wie konnte es sein, dass ich jemanden übersehen hatte? Instinktiv legte ich meine bis dahin freie Hand an den Griff meines Schwertes, das auf meinem Rücken verweilte.Langsam drehte ich mich um, doch vor mir erstreckte sich immer noch diese elende Seitenstraße. Es war niemand zu sehen.
„Versuch es erst gar nicht, Daywalker. Ich zeige mich wenn ich es will“
Aus der Stimme klang Spott, sie machte sich über mich lustig.
„Wer bist du?“
Ich blickte immer noch in die Gasse, meine Pistole an der Stirn des Gewandelten. Meinen anderen Arm ließ ich wieder sinken, dennoch blieb ich angespannt.
„Das ist unwichtig. Du hast doch so oder so vor uns zu töten. Also sag mir, weshalb ich dir meinen Namen nennen sollte, Daywalker.“
Wieder dieser Spott. Ich bemerkte wie der Gewandelte etwas sagen wollte.
„Einen Mucks und ich drücke ab!“
Er überlegte es sich anders, bleckte lediglich seine Fangzähne und fauchte. Ein Schuss löste sich aus meiner Pistole. Wie sein Freund zuvor, leuchtete auch dieser hell auf und zerfiel zu Staub. Der Wind, der kurz wehte, nahm ihn mit.
„Es ist wahr, du bist kein Freund von langen Reden. Du lässt lieber deine Taten und Waffen sprechen.“
Blitzartig drehte ich mich. In meinem Blickfeld waren nur Kartons, doch durch meine vampirischen Sinne konnte ich mehr erkennen, als ein Mensch. Es war nur ein minimaler Unterschied der sie verriet, ihre Kleidung hob sich etwas von der Dunkelheit ab.
„Du bist auch einer der Unsrigen, ich weiß, dass du mich entdeckt hast.“
Sie trat aus ihrem Versteck hervor. Sie war eine Reinblütige.Sofort hob ich meine Waffe und visierte sie an. Sie blickte mich jedoch nur unbekümmert an.
„Willst du etwa schießen? Dann tu es doch, ich weiß, dass du nichts lieber tätest, als das!“
Ihre Augen funkelten herausfordernd.
„Doch dann kommst du nicht an die Informationen. Und die Antwort auf die Frage: Wer ist der Gefährlichste von uns“
Sie ging weiter. Mir stockte kurz der Atem, als sie außerhalb des Schattens war. Ein Mädchen mit langem, blonden Haar. Ihre Augen waren kristallblau und in ihnen spiegelte sich das Licht der Laternen wider. Die schmalen Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen und ihre feinen Gesichtszüge entspannt. Die blasse Haut erinnerte einen an das Mondlicht bei Nacht, jedoch war sie schöner als der Himmelskörper.
„Also, was wirst du tun?”, sie grinste unverschämt und selbstsicher während sie dies sagte. Sacht legte sie ihren Kopf in die Schräglage, sodass ihr einige Strähnen ins Gesicht fielen. Ich brauchte einen Moment, um mich aus der Bewunderung ihres Erscheinungsbildes zu befreien. Ja, was sollte ich tun? Ich könnte sie einfach umbringen, andererseits würde ich dann nie erfahren, wer nun der gefährlichste Vampir war. Widerwillig ließ ich meine Waffe sinken und blickte sie an.
„Nun sag schon! Wer ist der Gefährlichste von euch?”
„Vertraust du mir?”
Was zum Teufel sollte das?
„Ich warte”, fuhr sie fort.
„Wieso sollte ich? Damit du mich töten kannst!?”, schrie ich sie an. Innerlich kochte ich geradezu vor Wut, doch ich musste mich zurückhalten.
„Nun, vertraust du mir oder nicht?”
„Na gut”
So hätte das nicht laufen sollen. Es vergingen einige Sekunden der Stille, niemand sagte etwas. Weswegen hatte ich das eben gesagt? Ich konnte nicht fassen, was ich da gerade von mir gegeben hatte.
„Dann komm her”
„Niemals!”
Das ging mir eindeutig zu weit, mir jetzt auch noch Sachen zu befehlen! Was glaubte sie eigentlich, wer sie war?
„Ich dachte du vertraust mir.”
Sie grinste noch unverschämter als zuvor. Und ich ging tatsächlich auf sie zu. Entgegen jeglicher Vernunft.
Vertrauen… aber warum?
„Willst du, was du nie hattest, musst du tun was du nie getan hast. Gib jedem die Chance, dein bester Freund zu werden, Gregorius.“ Es waren die letzten Worte, die ich von ihr vernahm.
„Obacht gnädige Dame! Es sind die Söhne eines Weibs, das Gott höchstselbst auf Erden gestraft hat, die dir folgen. Entledige dich ihrer, der Teufel ist in ihnen.“, rief ihr ein älterer Herr mit Schnurrbart und ungepflegter Frisur zu. An jenem Tag wollte Großmutter für uns anlässlich Petros Geburtstags neue Kleider besorgen.
Unsere Eltern starben kurz nach meiner Geburt. Mutter erkrankte an Antoniusfeuer. Eine schreckliche Krankheit, die den Körper von innen verbrannte. Sie überlebte den Kaiserschnitt nicht, der mich zur Welt brachte. Die Menschen hier hielten die Krankheit für eine Strafe Gottes. Das „innere Fegefeuer“ wurde sie geheißen. Mithin rührte der Hass, den uns die Seelen dieses Dorfes Antliza entgegenbrachten. Ich lernte schon früh mit Ablehnung und Verachtung zu leben. Man solle alles Negative an sich heran lassen, doch sich dem niemals unterwerfen, lehrte mich Großmutter.
Eine Weisheit, die es nicht schaffte ins Bewusstsein meines Vaters einzudringen. Zu schwer wiegte der Verlust seiner geliebten Gemahlin. Der Schmerz durchbohrte sein weiches Herz und hinterließ eine Wunde, die nie mehr heilen sollte. Er fiel dem Alkohol anheim. Trank tagaus tagein. Mal mehr, mal weniger. Aber immer hatte er einen Krug in der Hand. Aus dem einst muskelbepackten stolzen Seemann wurde ein bejammernswerter Trinker, der selbst Feind seines Lebens war. Vollkommen ausgelaugt bereitete er in einer stürmischen Winternacht seinem jämmerlichen Dasein schließlich selbst ein Ende. Dem Wohlergehen seiner Kinder schenkte er Zeit seines Lebens nicht die Spur einer Beachtung. Großmutter war der einzige Mensch in unserem Leben. Der einzige Mensch, der uns liebte. Sie begab sich für uns ins Exil. Setzte sich für uns der Niedertracht aus. Übelwollendes Geschwafel musste sie unsertwegen ertragen und grausamste Erniedrigungen über sich ergehen lassen.
Sie lächelte dem Herrn ins Gesicht, nickte leicht und ging schweigend weiter. Mich nahm sie bei der rechten Hand, meinen Bruder Petros bei der linken und drückte dabei besonders fest zu. Als ob sie ihre Verbundenheit mit uns bekräftigen wollte. Der ältere Herr schien wie fassungslos. Geradewegs rannte der verwirrte Narr auf Großmutter zu und streckte sie mit der geballten Faust nieder. Blut strömte aus ihrer Nase. Regungslos blieb sie am vom Regen durchnässten Boden liegen. Ich spürte jedoch wie ihr Händedruck noch fester wurde. Sie ließ uns nicht los. Sie konnte nicht loslassen.
„Die Kinder des Teufelsweibs sind hier. Sie sind hier! Vertreibt die Teufel! Bewahrt Antliza vor des Teufels Unheil!“, fing der Greis wie besessen an zu brüllen. Er wiederholte diese aufhetzenden Worte immer und immer wieder. So oft, bis wir von einem wütenden Mob regelrecht flankiert waren. Einige waren mit Fackeln, Heugabeln und Peitschen bewaffnet. Andere kamen indes nur her, um zu beten. Im Chor beteten sie zu Gott, während die Heugabeln, die Fackeln und die Peitschen bedrohlich nahe an uns herankamen. Nie zuvor verspürte ich eine derartige Angst. Ich war noch sehr jung und Petros war ein Muttersöhnchen, der trotz seines Alters, er war zehn Jahre älter als ich, noch ängstlicher zu sein schien. Wir konnten nur hoffen, beten und weinen.
Gnadenlos holte ein junger Knabe mit der Peitsche aus, mit der er die Teufel aus Petros Körper vertreiben wollte, wie er sagte. Reflexartig warf sich Großmutter schützend vor Petros und fing die brutalen Hiebe mit ihrem schwächlichen Körper ab. Sie muss schier unerträgliche Qualen gelitten haben, ihre Schreie waren grässlich. Wie von Gottes Hand brach plötzlich ein gewaltiges Gewitter auf. Es regnete in Strömen. Starker Westwind erlosch die Feuer der Fackeln binnen Sekunden. Grelle Blitze erhellten den Himmel über Antliza. Ohrenbetäubender Donner dröhnte unmittelbar hinterher. Es war die stürmischste Nacht, die ich jemals erlebt hatte. Die Feiglinge, die uns angriffen, ließen ob des Gewitters von uns ab und flüchteten abrupt in ihren jämmerlichen Hütten.
An diesem Tage schworen Petros und ich unsere Großmutter niemals wieder solcherlei Leid widerfahren zu lassen. Leider Gottes ein Schwur ohne Wert. Am drauffolgendem Tage spürte ich förmlich wie kaltes Metall in ihren Körper eindrang. Wie ihre Lebenskraft unaufhaltsam ihrem Körper entwich. Es war, als ob das Messer nicht ihr Herz, sondern das meine durchstieß. Alles um mich herum war still. Ich hörte nur noch mein Herzklopfen. Rasendes lautes Herzklopfen und Blut. Blut, das auf den feuchten Holzboden tröpfelte. Ein letztes Mal schenkte sie mir ein wunderbares Lächeln, bevor sie die Welt der Lebenden verließ. Mit neun Jahren vermochte ich damals nicht zu begreifen was geschehen war. Mein großer und einziger Bruder Petros hatte vor meinen Augen unsere Großmutter kaltblütig ermordet. Noch am selben Tage verließ er wortlos Antliza. Warum? Warum hatte er das getan? Sie hat sich doch aufopfernd um uns gekümmert.
Unter allen Umständen musste ich Petros finden und bestrafen. Für das was er Großmutter und mir angetan hat. Zehn lange Jahre suchte ich nach Antworten. Vergebens. Dann… ich traute meinen Sinnen nicht. Unverhofft kam er zu Besuch nach Antliza, als sich Großmutters Tod zum zehnten Mal jährte. Er hatte Gemahlin und Tochter dabei und wahrlich die Unverfrorenheit, hierher zurückzukehren. Mit der Absicht mich zu besuchen! Würde ich seine Geliebten töten, so würde er denselben Schmerz erleiden den auch ich einst erlitt. Er würde verstehen was er mir angetan hat. Wie ein reumütiger Hund soll er um Vergebung winseln, um Gottes und meiner Gnade. Sofort rannte ich zur Küche, griff nach einem großen Schlachtmesser und stellte Petros zur Rede. Er konnte seine Tränen nicht unterdrücken, als er erwiderte: „Willst du, was du nie hattest, musst du tun was du nie getan hast. Gib jedem die Chance, dein bester Freund zu werden, Gregorius.“ Als ich diese Worte aus seinem Munde vernahm fing ich an das Unbegreifliche zu begreifen, während sich das Schlachtmesser in meiner Hand rot zu verfärben begann. Mein Bruder war kein böser Mensch. Doch tat er das Richtige? Ich bete zu Gott, ihm eines Tages im Himmel zu begegnen. Ihm und Großmutter.
Früher verglich meine Mutter die Familie immer mit einem Baum - es gab jemanden, der den Samen pflanzte und wir, die kleinen Blätter und dicken Wurzeln hingen von ihm ab. Jeder gehörte dazu und erfuhr dieselbe Liebe und Zuwendung.
Doch es sollte der Tag kommen, an dem ich an all diesem zweifeln würde, und dieser war heute gekommen...
Ich saß in einer Straßenbahn, die Richtung Ostviertel der Stadt fuhr, in der ich mein Leben verbracht hatte, falls man diese eintönigen 16 Jahre überhaupt so nennen konnte. Der erfrischende Geschmack meines schon lange gekauten Kaugummis erfüllte meinen Mundraum, meine Ohren hingegen nur der übliche Gesprächslärm, den man aus öffentlichen Verkehrsmitteln gewohnt war. Hier eine kleine Lästerei, dort ein gescheiterter Flirtversuch, daneben ein reicher Geschäftsmann, der seine Frau nach einer wichtigen Besprechung anruft. Ich wollte an keinem dieser Dialoge teilhaben, wie auch, immerhin kannte ich niemanden. "Kennst du denn überhaupt jemanden?", schoss es mir durch den Kopf. Es war ein Gedanke, den ich die letzten Tage immer wieder aufgriff. "Es war keine gute Idee, dir das Stammbuch zu schnappen!" Ich schämte mich, weil ich einen Blick in jenes so sehr geheiligte Buch warf, das meine Eltern mir - schon dumm, dass ich nie stutzig geworden war - verweigerten. Als hätten sie es eingeübt murmelten mein Vater und meine Mutter stets im Chor "Geheim, du willst nicht wirklich wissen, mit was komischen Leuten du verwandt bist!" Früher hatte ich darüber gelacht, weil ich mir ausmalte, auf einem runden Geburtstag einer entfernten Verwandten auf einen Mann im "Räuber Hozenplotz" Format zu treffen. Aber dazu würde es nie kommen...
Denn all dies ist ein Trugbild gewesen, die mir mit viel Mühe und Herzblut zusammen gesponnen worden war. Es hatte anfangs weh getan, dass ich nicht das war, für was ich mich gehalten hatte, dass sie mich belogen hatten. Aber nun saß ich hier - in einer Straßenbahn, die gewissermaßen der Express ins Ungewisse war und dessen Fahrtwind diese Traurigkeit verwehte.
Gefühlte zehn Minuten später hielt die leise schleichende Blechröhre an meinem Zielort, von dem es nur noch wenige Straßen in ihr Haus waren. Ich schritt auf die Eingangstür zu, ehe sich diese öffnete, ich einen großen Schritt machte und leise seufzte, weil mein Fuß eingeschlafen war.
Ein wenig zaghaft setzte ich meinen Gang fort, doch als keine weiteren Beschwerden auftraten, hielt ich mich nicht zurück und machte schnelle Schritte, fühlte mich nahezu unaufhaltsam.
Ich überflog die Straßenschilder, suchte verzweifelt nach einem großen "F", fokusierte jeden Schriftzug der in mein Blickfeld kam, und endlich fand ich sie - die Fajastraße, in der ich ihnen endlich begegnen würde! Als ich feststellte, dass es noch wenige hundert Meter waren, bevor ich eine ganz neue Welt betreten würde, wurde mir noch schlechter als es mir ohnehin schon war. Ich war unheimlich aufgeregt und freute mich zugleich darauf, dass sich alles klären würde. Vielleicht wollen sie mich ja sogar wieder und erkennen mich als ihre Tochter an? Ein quieckender Laut der Freude entrang sich meiner Kehle und ein leises Kichern schlich hinterher. Dann hätte ich endlich die Familie, die ich mir seit Tagen wünschte!
Verträumt und mit einer Menge euphorischer Schmetterlinge im Bauch sauste ich die gepflasterte Strecke hinunter, der Wind peitschte mir um die Ohren, verwuschelte meinen Pony und meine Ohren wurden so stark gekült, dass es fast schon wehtat, aber es war egal, es war mir so egal. Die Mittelohrentzündung ist es mir allemal wert!
Hausnummer 21, da müssen sie sein! Ein großes Haus, mehr nahm ich nicht wahr. "Warum wollen sie mich nicht hier haben....?" Hart und hinterlistig, wie ein Schleichangriff, traf mich dieser Gedanke und ich hielt inne. "Ja, stimmt...so viel Platz wie ein Kind hier hätte...und arm sehen sie auch nicht aus..." "Vielleicht haben sie dich ja weggegeben, um sich all das leisten zu können!" Es war eine schadenfreudig klingende Stimme, deren starkes Echo meinen brummenden Kopf erfüllte. Mein Herz begann unregelmäßig zu schlagen und ich befürchtete, meine Ohren würden dem Druck der dabei entstand, nicht widerstehen können. Tränen füllten meine Augen und schaurige Bilder von verzweifelten Karrieremüttern die ihre Kinder weggeben, ohne nur die geringste Spur von Trauer zu zeigen, meine Gedanken. Ich zog meinen Zeigefinger zurück, der gerade noch die Klingel mit der Aufschrift "Dornsteiner" betätigen wollte. Es war alles sinnlos gewesen...
"Entschuldigen sie, junges Fräulein, kann ich etwas für sie tun?", durchbrach eine freundliche und gut gelaunt scheinende Fraunstimme meine Selbstmitleidsarie.
Ich sah hoch und blickte in nussbraune Seelenspiegel - genau dieselbe Farbe wie die meinen!
Ich wollte etwas sagen, war hin und hergerissen, der Dame mein Anliegen vorzutragen oder eine Lügengeschichte, die ich mir auf die Schnelle herzaubern hätte müssen, doch ich wählte ersteres.
"Ich suche eine Marie."
"Bin ich, du bist?"
"Ich bin ihre Tochter." Ich sprach diese Worte mit Bedacht, wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen, auch wenn es dafür wohl zu spät gewesen war.
"Aber...", sie murmelte unverständlich einige Silben, während Schweißtropfen ihre Stirn benetzten und ihr herzförmiges Gesicht zehn Jahre älter schien. Ihre Lider schlossen sich zu einem schmalen Schlitz und ihre Unterlippe bebte. "Ich... habe keine Tochter. Und selbst wenn - es ist für uns beide besser so! Und jetzt schönen Tag noch!"
Sie donnerte die Tür vor meiner Nase zu. Ich verlangte nach einem Schmerz, dem Gefühl, dass es mich seelisch zerreißen würde. Doch nichts, es geschah nichts! Diese wütenden Worte der Frau ließen mich kalt. Ich hatte kein gebrochenes Herz, im Gegenteil. Ich wusste nun, was ich an ihr eigentlich hatte - nichts. Sie liebte mich nicht und hatte es auch scheinbar nie getan. Ich hatte mir diese Vorfreude und diese Befriedigung meines Gewissens nur eingebildet...? Diese Leere wich unerwartet einem füllenden und erwärmendem Gefühl. Liebe, das Gefühl, das mir meine Eltern immer gaben. Sie liebten mich, obwohl ich nicht ihr Kind gewesen war, zumindest nicht was das Blut anbelangte.
Manchmal ist es eben doch gar nicht so schlecht Dinge als etwas anzuerkennen und zu lieben, die diese gar nicht wirklich sind. Denn diese Illusion ist so viel schöner als Realität.
[/tabmenu]