Willkommen beim Vote des FFxFF-Collab, wo eine magische Mischung aus Epik x Lyrik wartet!
Die Aufgabenstellung lautete:
Bei diesem Collab tut ihr euch mit einer anderen Person zusammen, damit ihr gemeinsam ein Werk bestehend aus einem lyrischen und epischen Part einreicht. Epik x Lyrik bedeutet somit, dass einer von euch ein Gedicht (Lyrik) schreibt und die andere Person einen Fließtext (Epik), die ihr gemeinsam als Ganzes einreicht. Die Umsetzung und Struktur bleiben dabei euch überlassen. Wichtig ist nur, dass beide Gattungen ersichtlich sind.
Das Thema dieses Wettbewerbs ist Magie! Fiktive Tierwesen aus der Fantasy-Literatur oder doch lieber ein Adler, der Zeus ein magisches Telegramm bringt? Vielleicht wollt ihr Zauberstäbe schwingen oder über einen mystischen Webstuhl schreiben, der fehlerhaften Merch herbeizaubert? Euch sind thematisch keine Grenzen gesetzt, solange ein Hauch Magie in eure Werke fließt! Ob Pokémon, Herr der Ringe oder auch völlig eigene Kreationen, bleibt dabei gänzlich eurer Fantasie überlassen.
Die wichtigsten Informationen zum Vote findet ihr hier kurz zusammengefasst:
- Voten könnt ihr bis zum 02.04., um 23:59 Uhr.
- Vergebt für jede Abgabe Punkte zwischen 1 (gefällt mir nicht) und 10 (gefällt mir sehr gut).
- Es ist auch möglich, halbe Punkte (z.B. 2,5 Punkte) zu nutzen.
- Dieser Wettbewerb findet anonym statt. Vergebt deshalb bitte auch für eure eigene Abgabe Punkte. Punkte, die ihr an eure eigene Abgabe vergebt, werden nicht gezählt. Stattdessen erhaltet ihr einen Punkteausgleich.
- Begründungen sind nicht verpflichtend, aber gerne gesehen. Wenn ihr eine Begründung schreiben möchtet, findet ihr in unseren Tipps zum Voten ein paar Anregungen. Für einen begründeten Vote könnt ihr zudem eine Medaille vom Typ Fee beantragen.
- Nutzt für euren Vote bitte die folgende Voteschablone:
Mein altes Federkleid, so grau und stumpf
Von Tau getränkt, von bitt'rem Frost geschunden
Die Kälte bohrt sich tief in meine Wunden
Verewigt sie in Seele und in Rumpf.
Der Regen prasselt nieder schon seit Tagen
Wäscht alle Spuren neuen Lebens fort
Und ungehört verklingt mein letztes Wort
Vergebens ist mein flehentliches Klagen.
Meine einstig prachtvolle Gestalt
Vor der die Menschen ehrfürchtig sich neigen
Und sich nach ihren Anweisungen fügen
Verbannt in diesen gottverdammten Wald
Muss ich nun Einsamkeit und Hunger leiden
Und mich mit Gaben der Natur begnügen?
Die krächzenden Laute, die sich kaum über das Trommeln der Regentropfen erheben konnten, suchten sich ihren Weg durch die dicht stehenden Bäume bis an das Ohr des Jungen. Das Kind unterbrach seinen Gang durch das Gehölz und lauschte. Ein Gesang, vorgetragen mit schwacher, brechender Stimme, kaum zu hören und doch schien er ganz nah zu sein. Verwundert sah der Junge sich um, doch der Wald wirkte kalt und leblos wie immer. Nur das nicht enden wollende Lamentieren durchbrach die gespenstische Stille, die der Junge auf seinen Wanderungen gewohnt war. Wenn sich irgendein Greis in das dunkle, karge Gehölz verirrt haben sollte, musste er ihn jedoch schleunigst dort herausholen, selbst wenn dieser beschwörende Gesang ihm Unbehagen bereitete. Das Lamentieren wurde lauter, durchdrang seinen Körper und brachte bereits seine Knochen zum Erzittern, ehe es plötzlich still wurde und das Kind sich auf einer Waldlichtung voller vereinzelter Baumstümpfe wiederfand. Keine Spur von einem Greis. Erlaubte man sich da etwa einen Scherz mit ihm? Um nicht in der Falle eines Waldgeists zu landen, wich der Junge zurück, als ein schmales Paar Augen seine Aufmerksamkeit erregten. Sie blinzelten ihn an, doch wem sie gehörten, war auf diese Distanz schwer auszumachen. Einer dieser feindseligen Waldgeister war es jedenfalls nicht, sonst wäre er nun schon längst zu Humus verarbeitet worden, also näherte er sich vorsichtig wieder. Die Augen folgten seinen Bewegungen. Der rätselnde Ausdruck auf dem Gesicht des stummen Jungen fraß sich fest. Selbst aus näherer Betrachtung sah dieses zerfledderte Wesen bestenfalls aus wie die runden Häufchen, die er manchmal aus Stallmist zusammenkehrte. Ohne Vorwarnung öffnete sich im Gesicht des Wesens ein Schnabel und der krächzende Gesang begann von neuem. Nun tauchten auch zwei unförmige Flügel auf, mit denen es vor seinen Augen herumwedelnd seine Klagen unterstrich. Ohne Zögern langte das Kind in seinen Beutel und fischte die letzten Brotkrümel heraus, um sie mit dem unfreundlichen Wesen zu teilen. In seinem von Armut geplagten Dorf entsprach dies einer Tagesration, doch der Gesundheit seiner Ohren wegen tätigte er dieses Opfer, während es selbst den nagenden Hunger schon gewohnt war.
Endlich Stille. Der schnell verschwindende Bröselvorrat kündigte die nächste Schimpftirade zwar schon an, doch die Pause verschaffte ihm Zeit zum Überlegen. In seiner Gemeinschaft lehrte man ihm, stets Hilfe zu leisten und selbst Feinden in Not zu helfen. Ob das auch auf einen alten, sprechenden Vogel zutraf? Die Antwort auf diese Frage kannte der Junge bereits. Noch während die Kreatur mit Fressen beschäftigt war, hob er sie hoch und befreite sie dabei vom gröbsten Schmutz, bis wieder erkennbar wurde, was sie eigentlich darstellen sollte. Zweifellos war sie immer noch außergewöhnlich hässlich. Der Junge konnte nicht sagen, ob er gerade eine Ente, ein Huhn oder einen Raubvogel in der Hand hielt. Doch er kam zu dem Schluss, dass das schwächliche Wesen hier draußen im Wald wohl nur geringe Überlebenschancen haben würde. Mit seinem neuen Freund machte er sich also auf den Heimweg. Seine Eltern befanden sich häufig tagelang auf der Jagd, nur um dann mit spärlicher Beute heimzukehren. Er würde also eine Möglichkeit finden, den Vogel irgendwo unbemerkt unterzubringen, bis er wieder genesen oder verstorben war – je nachdem, was zuerst eintraf.
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Kind, wo bleibt denn nur mein Frühstücksmahl?
Bürsten sollst du mir noch mein Gefieder
Säubern musst du längst mein Nest auch wieder
Hörst du nicht auf das, was ich befahl?
Eingepfercht in diesen alten Schrank
Zwischen Staub und Lumpen soll ich leben
Nichts als trock'nes Brot kannst du mir geben
Und immerzu umfängt mich ein Gestank.
Pfui, hinfort nur mit diesen Kartoffeln
So hart, dass man sie gar nicht kauen kann
Ich hätte lieber einen frischen Braten!
Und zügig, bring mir Decken und Pantoffeln
Es ist zu kalt, heiz' mal den Ofen an!
Wie lange muss ich diesmal wieder warten?
Tief Ein- und Ausatmen. Der Junge verbrachte oft mehrere Minuten vor seiner eigenen Haustür, nur um sich darauf vorzubereiten, was ihn drinnen erwartete. Mit seiner ersten Vermutung, der Vogel könne einfach nur sprechen, lag er noch weit von der Wirklichkeit entfernt. Das Häufchen Elend verstand es, sich ruhig zu verhalten, wenn jemand in der Nähe war und den Schnabel aufzureißen, sowie er mit ihm allein war. Kaum berührte er die Türklinge mit den Fingerspitzen, hörte er dumpfes Gackern aus dem Inneren des Schranks. Heute verlangte das unverschämte Wesen nach frischem Fleisch. Eine makabre Vorstellung, doch offensichtlich nur dafür gedacht, ihn zu provozieren. Nicht bloß einmal während der letzten Tage hatte er den Vogel gedanklich schon in einen Suppentopf gestopft und ein Festmahl daraus zubereitet. Zum Glück des Vogels behielten die Vernunft und der gute Wille zu helfen die Oberhand. Zeitweise erwischte der Junge sich dabei, wie ihm das Versorgen seines eigentümlichen Gasts sogar Freude bereitete. Das Tier sah mittlerweile deutlich besser und gesünder aus, fast wie ein normaler Vogel, aber immer noch faltig und hässlich. Auch nach mehreren Tagen fand zwischen den beiden kaum eine echte Konversation statt. Daran schien es trotz seiner Sprachfähigkeit nicht interessiert zu sein. Stattdessen beschränkte es sich weiterhin darauf, in kryptischen Versen vor sich hin zu lamentieren. Trotzdem wirkte seine Stimme der Einsamkeit des Jungen ein wenig entgegen. Ohne Eltern oder andere Kinder in der Nähe war er stets zur Selbstunterhaltung verpflichtet. Er begann daran zu glauben, dass sein Wunsch nach Gesellschaft auf diese merkwürdige Art erhört wurde, auch wenn er sich das etwas anders vorgestellt hatte. Mit ein wenig mehr Elan und Vorfreude nahm er sich an diesem Tag seine neuen Aufgaben vor. Das Nest des Vogels, das teilweise aus seiner kostbaren Kleidung bestand, hatte schon deutlich an Glanz verloren und sah nicht mehr gemütlich aus. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass die hochgestochenen Beschwerden seines Schützlings irgendwann berechtigt wurden, also riss er neue Fetzen von seinem dünnen Hosenbein und bastelte an dem Nest herum. Während er sich darauf konzentrierte, den Vogel nicht zu stören, bekam er ein mulmiges Gefühl. Heute fehlte es dem kleinen Kerl an Energie und zwischen den geschmetterten Befehlen herrschte ungewöhnlich lange Ruhe. Er sorgte sich sehr. Die Gedanken an den Suppentopf waren plötzlich weiter weg denn je. War ihm ein Fehler unterlaufen, oder war das Tier etwa von Anfang an zum Sterben verurteilt…?
Kind, warum verziehst du dein Gesicht?
Warst du sonst immer fröhlich und vergnügt
So merke ich, dass dich etwas betrübt
Doch darüber lohnt sich zu weinen nicht.
Du siehst, mein Kind, es geht mit mir zu Ende
Doch deine Mühen waren nicht vergeben
Hast du mir auch Verdorbenes gegeben
Geschieht mein Tod doch nicht durch deine Hände.
Dein Lebensstil mag mir nicht würdig sein
So vieles musste ich hier schon entbehren
Denn jede Kostbarkeit ist knapp bemessen
Und so vermiss' ich einen guten Wein
Doch dein Bemühen muss ich dennoch ehren
Jetzt will ich aber flott mein Abendessen!
~~~
Ein paar Tage später und mit einer Hand voll frisch gefangener Insekten ausgerüstet begab sich der Junge wieder auf den Weg nach Hause. Der Zustand des Vögelchens verschlechterte sich deutlich und er fürchtete, dass selbst diese saftige Ausbeute keinen Appetit mehr hervorrufen würde. Bei jedem weiteren Öffnen der Schranktür erwartete er das Schlimmste. Doch seine größten Befürchtungen war verglichen mit dem, was er heute zuhause vorfand, harmlos gewesen. Er öffnete die Haustür und wurde unerwartet wuchtvoll von einer Hitzewelle überrollt. Die steinernen Wände des Hauses waren hell vom Zentrum einer lodernden Lichtquelle beleuchtet. Der Schrank, oder das, was noch davon übrig war, wurde von Flammen umhüllt, die an den Steinplatten am Boden leckten und sich jedes Stück Holz oder Kohle in Nähe einverleibten. Es kostete den Jungen einiges an Kraft, um sich aus der Schockstarre zu lösen. Es gab keine Wasserquelle in unmittelbarer Nähe, demnach auch keine Hoffnung für das kleine Wesen, für dessen Wohl er verantwortlich gewesen war. Während der Junge aus der brennenden Hütte flüchtete, vergrub das Gesicht in seinen Händen und versuchte seine Trauer darin zu ersticken. Tagelang hatte er dem Vogel beim Sterben zugesehen und doch war er wohl nie wirklich bereit gewesen, dieses Schicksal zu akzeptieren. Doch ein solch grausames Ende war für ihn noch viel schwerer zu verkraften, als ein Tod an Altersschwäche… Die Schuldgefühle des Jungen waren so stark, dass er nicht einen Gedanken an das Haus oder an seine wenigen Habseligkeiten verschwendete. Einzig an seinen kleinen, schwachen Freund dachte er immerzu. Er wischte sich die Nase am Ärmel ab und wartete, bis sich die letzte Flamme zu Asche verwandelt hatte, um das Chaos zu beseitigen. Ein Flämmchen hielt sich jedoch hartnäckig. Es wippte hin und her, als würde es sich Platz verschaffen wollen. Doch es schien keine Hitze mehr auszustrahlen, nur ein helles, lebendiges Licht. Der Junge trat näher und fand kein Glutnest oder glimmende Kohlenstücke vor sich. Stattdessen konnte er inmitten der Funken feuerfarbene Federn ausmachen. Ein Schluchzen unterdrückend steckte der Junge vorsichtig die Hand in die heiße Asche, schob sie zur Seite und legte ein orange-rotes Gefieder frei. Plötzlich begann eine helle Stimme vor ihm leise zu singen…
Kind, ich danke dir für deine Güte
Du hast mir einen großen Dienst erwiesen
Nur durch ein reines Herz vermag zu sprießen
Für einen Phönix diese neue Blüte.
Obwohl du wenig nur zum Leben hast
Warst du sofort bereit, mit mir zu teilen
Erlaubtest mir sogar, bei dir zu weilen
Behandeltest mich stets wie deinen Gast.
Dieses Mitgefühl will ich belohnen
Mit Reichtümern, die aus der Asche sprießen
Und dich dein ganzes Leben lang versorgen.
In einem neuen Haus sollst du nun wohnen
Und niemals eine Träne mehr vergießen
Und hoffnungsvoll erwarten jeden neuen Morgen.
Ein Adler seine Abstammung markiert,
Mit Ross, Rüstung und Silberschwert,
Seine Hoffnung längst emeritiert,
Besaß nur seine Erinnerung an Wert,
Alsbald dem Pferd die Strecke diktiert.
Ritter Adalbert trieb sein Pferd Hartmud weiter an, sodass es in einem schnellen Gang wechselte. Es keuchte heftig und bald würde Schaum aus seinem Maul laufen, doch Adalbert hatte keine andere Wahl. Es durfte nicht noch mehr Unglück geschehen. Die anderen Ritter, mit denen er ursprünglich losgezogen war, hatten ihr Leben verloren. Nur er war noch da, um Schloss Friedstein und das gemeine Volk vor Schlimmerem zu bewahren. Denn wieder waren Menschen verschwunden; starke Männer, halbwüchsige Knaben, Frauen und selbst Mädchen wurden nicht verschont. Es wanderte die Kunde herum, dass wie einst ein Wesen fernab des Erdenreiches erschienen war, das Böses im Schilde führte. Endlich erreichte er nun das Dorf. Sein Blick ruhte aufmerksam und doch wild umher, versucht, jedes kleinste Detail in sich aufzunehmen und Hinweise zu finden. Doch der Schrei hatte ihn nicht losgelassen. Es war nicht auszumachen gewesen, ob von einem Menschen oder einem Tier - doch wie schmerzvoll war er gewesen! Adalbert zählte 40 Sommer und hatte eine lange Berufserfahrung als Ritter vorzuweisen. Dennoch war ihm dieser Laut in alle Glieder gefahren; plötzlich wusste er ganz sicher, dass sich die schrecklichen Geschehnisse wiederholten.
Wo Banshees Geschichten spannen,
Am Hügel in der Ferne gehängte Straftäter,
In der Kirche verzweifelte Nonnen sangen.
Auf den Straßen einzig mutige Familienväter,
Die um ihre letzte Arbeit beim Vogt bangen.
Er würdigte die Stätte der Verurteilten üblicherweise keines Blickes und näherte sich ihr nicht mehr als nötig. Doch heute zog ihn irgendetwas an diesen Ort, sodass er sein Pferd dorthin lenkte und näherkam. Er erschrak. Sie waren fort! Wo waren sie, die Körper der Verstoßenen, der Verdammten? Adalbert stieg langsam und nichts Gutes ahnend aus dem Sattel, starrte und begriff es doch nicht. Plötzlich nahm er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und sog scharf die Luft ein. Seine Hand flog zur Scheide an seiner Hüfte.
Knorrige Äste wirbelten im reißenden Wind herum,
Da erspähte er sein Ziel, durchdringende violette Augen,
„Du verfolgst mich noch immer, Ritter? Sei's drum.“
Sein Zauberspruch begann ruhende Seelen zu saugen.
„Du wirst Tribut zahlen für diese Kränkung,
Bis die Toten endlich wieder sind stumm.“
Da stand es, das Wesen, das die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Adalbert ließ es nicht aus den Augen, während er dem zitterndem Gaul Hartmud einen Klaps verpasste, damit dieser sich in Sicherheit brachte. Niemand sollte mehr sterben. Weder Mensch noch Tier. Die Gestalt schien durchsichtig und doch vernebelt. Klar und dennoch nicht scharf. Menschlich und unmenschlich in einem. Am auffälligsten war jedoch die knöcherne Hand, die sich unnatürlich krümmte und wellte. Ritter Adalbert lief ein Schauern über den Rücken. Doch er hatte keinen Augenblick, um Furcht zu verspüren; mit einem Mal eilten Körper längst verstorbener Menschen auf ihn zu und griffen ihn an. Adalbert riss das Schwert aus der Scheide und überwältigte seine Gegner mühelos.
Plötzlich zog der Nekromant ein Amulett hervor,
Erschrocken senkte der Ritter seine Klinge,
Das Wappen eigner Familie, der er abschwor,
Um den Hals noch Abdrücke der Schlinge.
Er ließ die Waffe sinken, es war wahrhaftig Esther,
Würmer im Haar, keine eisblauen Augen mehr,
Doch auch in Fetzen und verrottet - seine Schwester.
Esther an der Seite dieses Ungetüms zu wissen, war ihm unerträglich. Er wollte schreien, fluchen. Das Monster zerfetzen, auslöschen. Doch würde er das überhaupt schaffen? Er erinnerte sich an die grauenhaften Bilder des letzten Kampfes. Seine Kameraden waren zu Staub zerfallen. War Adalbert, Erster Ritter und enger Vertrauter des Königs in der Lage, sein Leben zu riskieren? Für das Königreich? Für ... für eine Tote?
Er betrachtete seine ehemalige Schwester, als sähe er sie zum ersten Mal. Ihre einst lange, wallende braunhaarige Mähne hing in tristen Strähnen herunter, ihr Körper nur noch ein Haufen Knochen mit hauchdünner Haut, die lediglich von ihrem zerschlissenen Kleid zusammengehalten wurden. Ihre Haltung war schlaff, ihre Lippen rau. Sie zählte ein paar Jahre mehr als Adalbert, dennoch war ihr Verhältnis zueinander harmonisch gewesen. Esther hatte zwar öfter eine launische oder weinerliche Seite gezeigt, aber das hatte er mit "So sind Weiber eben" abgetan und sie trotzdem abgöttisch geliebt und beschützt.
Nur das eine Mal war er unvorsichtig gewesen. Hatte sich von Richard, einem gutaussehenden und wohlhabenden Adelsherren von höherer Abstammung blenden lassen und ihm sein Vertrauen geschenkt. Richard und er hatten sich auf einer Feier des Königs kennengelernt. Da Adalbert unverheiratet gewesen war, hatte er sich stattdessen von Esther begleiten lassen. So hatte auch sie den vermeintlich charmanten Richard erblickt und er sie, die hübsche junge, aber naive Frau. Adalbert hatte in Richard einen Freund geglaubt, einen Verbündeten. Er hatte ihm seine Schwester versprochen und sie heiraten lassen, nachdem sie ihm gestanden hatte, Gefühle für Richard zu hegen.
Doch eines Tages hatte Esther, ohne dass Adalbert dies wusste, herausgefunden, dass Richard ein niederträchtiger Zauberer war. Adalbert hatte davon erst viel später erfahren, nachdem er Esther leblos in ihrem Gemach aufgefunden hatte. Richard hatte den erschütterten gespielt, doch bald war auch Adalbert ihm auf die Schliche gekommen.
Zehn Jahre war diese Tragödie her. Richards Machenschaften hatten einige Tote gefordert. zuerst waren sie nur als vermisst gemeldet, dann tot aufgefunden und begraben worden. Doch nicht lange, da waren all diese Getöteten aus ihren Gräbern entstiegen. Schon damals hatte Adalbert seine Schwester neben dem mittlerweile entmenschlichten Richard aufgefunden. Damals hatte er seine Waffe fallen lassen und in einem anderen Dorf ein neues Leben angefangen. Doch nun war es auch hier geschehen. Der erbärmliche und Mitleid erregende Körper Esthers schmerzte ihn. Er schloss die Augen, hinter deren Lidern heiße Tränen hervorzuquellen drohten. Konnte er sie erneut gehen lassen? Adalbert riss sein Schwert in die Höhe und richtete es auf Richard.
"Richard, sagt mir eines. Weshalb tut Ihr das alles? Was versprecht Ihr euch davon? Ihr mögt euch noch bewegen und handeln können, doch auch Ihr seid längst kein Mensch dieser Welt mehr!"
Seine heiser gerufenen Worte schienen an einer unsichtbaren Wand abzuprallen. Richards Lachen hallte durch die still stehende Luft. Der Ritter wich einem rauchartigen Strahl des Hexers aus. Er riss seinen Schild vor seinem Körper, um sich zu schützen und parierte einige Angriffe. Schließlich nutzte er einen Moment, in dem Richard kurz innehalten musste, um seine Schwester ein weiteres Mal anzusehen. "Esther", flüsterte er und spürte nun die Tränen aus seinen Augen und über seine Wangen rinnen, die seine Sicht verschlechterten. Dennoch bemerkte er plötzlich etwas in ihren vorher leer wirkenden Augen. Als er ihren Namen sagte, schien in ihnen das Leben wiederzukehren, obgleich dies nichts an ihrem Zustand änderte. Adalbert und auch Richard zuckten zusammen, als ihre farblosen Lippen sich bewegten und ihre Stimme ertönte.
"Adalbert ... Bitte ... Mach diesem Teufelswerk ein Ende." Sie waren kaum hörbar, und doch spürte Adalbert die Eindringlichkeit ihrer Worte. "Töte mich. Lösche mich aus. Dann wird auch er zerstört sein und dieses Grauen ein Ende finden."
"Schweig, Weib!", befahl Richard, doch seine Augen irrten unkontrolliert in seinen Augenhöhlen herum. Richard war alt. Er musste beinahe sein fünfzigstes Lebensjahr erreicht haben, wenn die letzten zehn Jahre, die er als Schattenmeister gelebt hatte, mitzurechnen waren. Er war alt und erschöpft, wie Adalbert nun begriff.
Höre, mein Bruder, mein letzter Appell,
Führ dein Schwert in mein, dann in sein Herz hinein.
Es wird seine Macht dämmen, schnell,
Ich kehre erlöst zurück zu meinem Grabstein,
Wenn sein Tod erstickt den letzten Quell.
Mag dein Herz auch wanken im Widerstreit,
Unsere Bande kann selbst Magie nicht tilgen.
Im Reich des Ablebens warte ich, bis es wird Zeit,
Lass falsche Hoffnung keine Illusion bilden.
Wehklage nicht, alsbald sind wir erneut zu zweit.
Ritter Adalbert hatte genug gehört. Ihre klagende, flehentliche Stimme. Kein Funken mehr an Lebenswillen oder Freude. Purer Schmerz und Adalbert fragte sich hilflos, wieso er dem Hexer nicht schon längst Einhalt geboten hatte. Damals war die Gelegenheit gewesen, doch er hatte auf seine Gefühle gehört und versagt, war davon gelaufen. Nun sah seine Schwester noch armseliger aus als damals und schien das Leid, das ihr einstiger Ehemann verbreitete, während er sie als Schutzschild gegen Adalbert missbrauchte, nicht mehr ertragen zu können. Er schluckte, doch seine Entscheidung stand fest. "Vergib mir, Esther", hauchte er, während er schnellen Schrittes auf sie zuschoss und ihr das Schwert in den zierlichen Körper rammte. Es steckte kaum in ihr, da zerfiel sie zu Staub. Adalbert zögerte nicht eine Sekunde, da griff er den nun geschwächten Richard an und beendete dessen Spuk.
Anschließend richtete Adalbert die Klinge auf sich selbst, bereit, zuzustoßen und seinem Leben ein Ende zu bereiten. Doch dann sah er auf die Stelle, an der seine Schwester gestanden hatte, und warf das Schwert zu Boden. Er pfiff nach seinem Gaul Hartmud. Er musste einige Momente ausharren, dann kam sein treues Tier angetrabt. Adalbert schwang sich auf dessen Rücken und ritt los. Sein Ziel war das Schloss Friedstein, um dem König von seinem Erfolg zu berichten. Er durfte noch nicht sterben. Er hatte seinen Auftrag zwar erfüllt, doch fühlte er, dass er für Esther weiterleben musste. Sie würde wollen, dass er seine letzten Lebensjahre glücklich verbrachte, bis für ihn eines Tages der Augenblick kommen würde, zu ihr ins Totenreich zu gehen. Eine Art heller Schleier schien den Ritter zu umhüllen, während er sich immer mehr entfernte und seine Silhouette stetig kleiner wurde.
Ich war nicht mehr als ein Narr. Da, um Menschen glücklich zu machen. Um Könige zu verärgen und vom Unheil der Welt abzulenken. Doch kommt ein einzelner Narr nicht gegen die grausame Macht der Zeit an. Die Menschen lernten meine Tricks kennen. Meine Späße. Meinen Lebensinhalt.
Doch ich bin kein kompletter Narr. Nein, ich suchte weiterhin nach Möglichkeiten, um für Begeisterung in den Augen anderer zu sorgen. Ich konnte nicht viel außer mir Geschichten und billige Kartentricks auszudenken. Genug, um Freigeister zu beeindrucken und Leute ins Staunen zu versetzen, doch selten hat es lange gedauert, bis meine Spässe durchschaut wurden.
Ich lernte auf meinen Reisen viele wissbegierige Menschen kennen. Fragte sie wann immer aus, um meinen schmalen Horizont zu erweitern, um weitere Lichtblicke für andere kreieren zu können. Und so kam ich eines Tages auf die Idee, den Bildern auf meinen Karten Namen und Geschichten zu geben: Verliebte, Einsame, Kleine, Mutige, ja selbst Narren sollten drin vorkommen und die Welt ins Erstaunen versetzen.
Ein wandernder Kaufmann erzählte mir einst, dass in Vollmondnächten, wenn Geister und Glühwürmchen miteinander tanzten, ich meine Tricks den Sternen präsentieren sollte. Jeder beachtet sie, doch gleichzeitig sind sie diejenigen, denen keiner wirklich Beachtung schenkt. Ich leichtgläubiger Narr fand, dass selbst die Sterne es verdient haben, bespaßt zu werden. So vollendete ich meine Karten, gab ihnen Namen und Bedeutung und präsentierte sie Sternen voller Stolz, als wenn der König samt Braut persönlich vor mir stünde.
Es war, als würde mich jemand führen; ich mischte die Karten aus Instinkt, zog sie ohne Gedanken und erzählte so eine Geschichte, wie sie noch nie jemand vernommen hatte. Von einem Liebespaar, einem Loch und von einer großen Not. Als die letzte Karte gezogen war und die Geschichte ihr Ende nahm, war Stille. Nichts anderes hatte ich erwartet - Sterne sind nicht für ihre Jubel bekannt. Und doch merkte ich, etwas habe sich verändert: Ich, ich habe mich verändert - doch als ich in das spiegelnde Wasser sah, nicht erkennend ob die leuchtenden Punkte Sterne oder tanzende Geister war, war ich doch der selbe Narr. Selbst der Teich schlug verhöhnende Wellen, als wolle er mir sagen ich werde nie etwas besonderes sein. Einzigartig. Ein Narr, der einsam stand und für sichtlich niemanden eine Aufführung erschaffen hatte. Wahrlich ein Narr war ich.
Auf meinem Heimweg hörte ich Schreie. Ich war kein Held, doch war ich menschlich und versuchte zu helfen. Ein hilfoser Mann war in einen Brunnen gefallen, seine Frau rief um Hilfe. Es dauerte nicht lang, bis alles wieder gut kam, doch ich kam nicht um den Gedanken, dass meine Geschichte wahr wurde.
Die Menschen waren begeistert von meinen Karten. Durch die Gerüchteküche kamen Erzählungen zu mir, wie ich es mir nie zu träumen gewagt hatte. Jede meiner Geschichten wurde wahr, doch schien es niemanden aufzufallen außer mir. War ich ein Hexer? Ein Druide? Ein Gott? Ich formte Leben anderer mit simplen Kartentricks, veränderte die pure Natur durch meinen Willen, war eine Macht wie keine andere.
Offensichtlich war ich nichts weiter als ein Narr, denn kein normaler Mann würde so hoch von sich denken, nichtmal ein König.
Und doch formte ich weiter Geschichten. Ich konnte dank meinen Tricks beeinflussen, ob sie gut oder tragisch wurden. Zumindest redete ich mir das ein, denn ich bin nur ein Narr, der Fehler macht wie ein Mensch. Doch es machte Menschen glücklich, wie nie zu vor. Keiner kam dahinter, was ich geschaffen habe. Jeder beachtete mich, ohne wirklich mir Beachtung zu schenken.
Ich bin der Narr, der Karten spielte
Bis ich einst Magie erfand!
Nicht, dass ich es gross verdiente
oder überhaupt verstand...
Jede Karte nahm ich auf
In meiner andr'en Hand, ein Stift
Jeden Namen sprach ich aus
Und segnete ihn dann in Schrift
Dann spielte ich:
Auf Anfang legte ich die Wende,
Dann Schicksal, Kampf, und Sieg
Die letzte Karte hiess das Ende
Sie kam nach Ziel und Mosaik
So plötzlich war es dann geschehen!
Vor meinen Augen da entstand
Wahrheit, Traum, und Wiedersehen
Ein Zauberspruch aus meiner Hand:
«Was einst beginnt, muss bald auch enden
Es ist der Preis von Existenz
Was bleibt, das muss sich ewig wenden
Wird einig in der Differenz»
«Das einzig stete dieser Welt
Ist ewig die Veränderung
Wer glaubt, dass er die Zukunft kennt
Kommt um die Zweifel nie herum»
«Alles, was nicht ist, kann werden
Alles, was einst war, darf sterben
Alles kommt zurück zur Erde
Alle Zeit ist Gestern's Erbe»
Ich denk mir oft, die Erde sollte
ein bisschen schöner, klarer sein.
Ich tat das Beste, was ich konnte.
Es ist nicht viel. Es tut mir Leid.
Ich war nie der Auserwählte,
mächtig, gütig, klug, charmant;
Bin nur ein Narr, der Karten zählte
Versehentlich Magie erfand.
Zarte Fäden ferner Weiten
Weisen wundersam den Weg:
Führen dich zum Schrein der Zeiten,
Wenn dein Herz im Einklang schlägt.
Schon so oft hatte Kiana ihre Großmutter diese Worte murmeln hören, dass sie inzwischen gar nicht mehr darauf achtete. Genauso wenig wie auf die Warnungen, ja nicht zu tief in den Wald zu gehen. Fast schon konnte sie ihre Stimme hören: „Vergiss nicht, der Wald verändert sich schnell, seit die Zeit aus dem Takt kam.“
„Aber es fühlt sich nicht so an, als sei mit der Zeit irgendwas falsch“, hatte sie geantwortet.
Und jedes Mal, wenn Kiana dieses Argument brachte, lächelte ihre Großmutter nur und sagte: „Weil dieses Land voller Magie ist und Zeit in dir stark. Aber du musst trotzdem vorsichtig sein.“
Früher hatte Kiana es geliebt, wenn ihre Großmutter ihr von dem Zeittempel und den Legenden erzählte, aber inzwischen war sie zu alt dafür, an so etwas zu glauben. Zeit verging einfach. Sie hatte es sich damals einfach nur eingebildet, ihren Fluss zu spüren. Was man als naives Kind halt so tat.
Dennoch kamen ihr jetzt plötzlich wieder die alten Verse in den Kopf, die untrennbar mit den Legenden ihrer Großmutter verwoben waren. Ob es sich wohl um echte Fäden handelte? Früher hatte sie sich die Zeit als ewig langen Faden vorgestellt, aber schon bald bemerkt, dass diese Vorstellung nicht passte. Zeit war viel größer als das; sie nahm alles ein.
Einige Augenblicke blieb Kiana einfach nur still sitzen und versuchte, irgendwie die Zeit zu erfassen, sie zu spüren, wie sie es früher getan hatte. Ein wenig war es, als zöge sie etwas in eine Richtung, doch ehe sie es erfassen konnte, hörte sie den Wind, der unstetig durch die Baumkronen wehte.
Seufzend erhob sie sich von dem umgestürzten Baum, den sie gestern zu ihrem neuen Lieblingsplatz auserkoren hatte. Der Wald änderte sich wirklich schnell, sodass sie stetig neue fand. Kiana ließ den Blick schweifen. Die Sonne senkte sich über die uralten Bäume und zeigte ihr, dass sie nun nach Hause gehen sollte. Sie sollte eben recht behalten: Die Zeit verging einfach.
Nach wenigen Schritten schon blieb Kiana wieder stehen. Irgendwie sah der Weg anders aus. Hatte hier heute Morgen auch schon ein Baum gestanden? War dort nicht vorhin noch ein Trampelpfad gewesen? Überrascht sah Kiana sich um und Angst überflutete sie. Natürlich hatte sie gewusst, dass Pflanzen schnell wuchsen, aber doch nicht so schnell. Oder? Hätte sie doch nur auf ihre Großmutter gehört und sich nicht so weit von ihrem Zuhause entfernt.
Kiana schloss die Augen und atmete tief durch. In Panik zu verfallen, würde ihr jetzt auch nicht helfen. Sinnvoller war ein klarer Kopf. Sie war schon so oft in diesem Wald gewesen, sie würde den Weg schon finden.
Mit geschlossenen Augen ließ Kiana etwas Zeit verstreichen. Eigentlich hatte sie nur darauf warten wollen, wieder ruhiger zu werden, aber als sie schließlich die Augen öffnete, wusste sie ganz genau, in welche Richtung sie gehen musste. Ohne zu wissen warum, drehte sie sich nach rechts und ging los.
Das dichte Unterholz breitete sich um sie aus, während Kiana versuchte, sich einen Weg zu bahnen. Konnte es wirklich sein, dass die Pflanzen inzwischen noch schneller wuchsen, oder ging sie doch in die falsche Richtung? Vorsichtig schob sie ein paar Farne aus dem Weg. Ein Teil von ihr war sich sicher, dass sie hier richtig war, also ging sie immer weiter, bis der Wald um sie herum immer lichter wurde. Ein bisschen kam es ihr so vor, als würde sie von unsichtbaren Fäden geleitet. Aber das konnte ja nicht sein.
Schließlich öffneten sich die Bäume zu einer kleinen Lichtung; und obwohl die gegenüberliegende Seite von einer Felswand versperrt wurde, ging Kiana weiter. Eine ungewöhnliche Art der Neugierde durchflutete sie und es war, als wäre sie schon einmal hier gewesen.
Die Wand vor ihr war mit Moosen und Ranken überwuchert, aber ihr war anzusehen, dass sie keinen natürlichen Ursprung hatte. Auch menschliche Arbeit schloss Kiana aus, denn von der Wand schienen ungewöhnliche Impulse auszugehen. Was auch immer sie vor sich hatte, war irgendetwas dazwischen.
Kianas Blick wurde von seltsamen Einkerbungen auf dem rauen Gestein angezogen. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über die Symbole. Sie spürte, dass sie etwas Besonderes waren, und wie von selbst rezitierte ihr Mund die ihr so vertrauten Verse: „Zarte Fäden ferner Weiten …“
Kiana zuckte zusammen, als sich die Wand vor ihr plötzlich bewegte, und zog blitzartig ihre Hand zurück. Von einem Moment auf den anderen und doch mit unsagbarer Ruhe, mit einem lauten Krachen und doch, ohne einen Ton auszusenden, fuhr die Wand zur Seite und Kiana wusste, dass sie ihn gefunden hatte. Dies war der Zeittempel aus den Legenden ihrer Großmutter. Das musste er einfach sein. Unglaube und ein Hauch von Furcht mischten sich mit der Aufregung ihrer Kindheit, als sie nichts lieber getan hatte, als alles über genau diesen Ort zu erfahren. Das Gefäß der Zeit. Der einzige Ort, der sie im Gleichgewicht hält. Er existierte tatsächlich.
Bedacht setzte Kiana einen Fuß vor den anderen und betrat das Innere des Tempels. Es war dunkel und kühl und es roch ein wenig modrig, so als wäre die Tür seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet gewesen. Aber sonst konnte sie nichts Magisches an diesem Ort ausmachen. Kiana spürte eine Welle der Enttäuschung über sich hinweg rollen, als ihr plötzlich ein anderer Geruch in die Nase strömte. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wusste sie sofort, dass es der Geruch ihrer Eltern war. Kurz darauf drang ein Lachen an ihre Ohren, vermischte sich mit Bildern bunter Städte, Erinnerungen oder Visionen, die um sie herum und durch sie hindurch flossen.
Immer mehr Empfindungen wechselten sich ab und durchströmten sie. Ein Lächeln breitete sich auf Kianas Gesicht aus. Dies war alle Zeit. Immer und niemals gleichzeitig. Dennoch spürte sie, dass ihre Großmutter recht gehabt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Das Gezwitscher der Vögel war verzerrt, die Farben des Meeres zu grell. Der Zeit fehlte der Rhythmus.
Wie von selbst ging Kiana weiter ins Zentrum des Tempels. Das trübe Licht des Abends konnte kaum etwas erleuchten, doch Kiana spürte, dass sie hier richtig war. Sie sollte hier sein – sie wusste nur nicht, was sie hier tun sollte.
Plötzlich verlosch auch das letzte Licht. Mit einem Wimpernschlag war die Tür des Tempels zugefallen. Die Zeiten wirbelten um Kiana herum und sie verspürte keine Angst, nur eine seltsame Gewissheit: Sie konnte sie wieder richten.
„Die Zeit ist stark in dir.“ Die Worte ihrer Oma streiften ihr Ohr und lösten ihre Füße vom Boden. Oder löste sich der Boden von ihren Füßen? Kiana hatte kein Gefühl mehr für den Raum, alle ihre Sinne waren erfüllt von Zeit. Als Kind hatte sie gemeint, den Fluss der Zeit wie einen Windhauch um sich herum zu spüren. Hier aber fühlte es sich anders an. Hier floss die Zeit nicht, hier existierte sie einfach. Und Kiana war ein Teil davon.
Obwohl es in der Dunkelheit keinen Unterschied machte, schloss Kiana die Augen und ließ zu, dass sie mit der Zeit verschmolz. Und so vernahm sie die Worte nicht mehr mit den Ohren, sondern mit der Seele. Worte, die sich von der Vielzahl an Eindrücken lösten. Sie kamen von überall und nirgendwo zugleich, hallten in ihr nach und irgendwie auch vor, wo sie doch gerade die ersten so gut kannte:
Zarte Fäden ferner Weiten
Weisen wundersam den Weg:
Führen dich zum Schrein der Zeiten,
Wenn dein Herz im Einklang schlägt.
Alles, das schon war: vergangen.
Prägt dein Herz bis heute sehr.
Lieder, die einst leis erklangen,
Klingen in dir laut und schwer.
Alles, das nun ist: wirkt ewig.
Jeder Herzschlag, ein Moment.
Jeder Funken sorgt so stetig,
Dass in dir ein Feuer brennt.
Alles, das noch wird: ist offen.
Öffnet sich dein Herz dafür.
All das Bangen, all das Hoffen
Öffnet dir dein Zeitgespür.
Bleibt der Schrein jedoch verlassen,
Schlägt das Pendel aus dem Takt.
Rhythmus beginnt nachzulassen,
Bis die Zeit zusammensackt.
Lausche dann dem leisen Flammen.
Führst du die Vergangenheit
Mit Zukunft, Gegenwart zusammen:
Schlägt dein Herz im Takt der Zeit.
Zarte Fäden ferner Weiten
Weisen wundersam den Weg:
Führen dich zum Schrein der Zeiten,
Wenn dein Herz im Einklang schlägt.
Kaum war das letzte Wort verklungen, wieder ein Teil des großen Ganzen geworden, hörte Kiana einen Herzschlag. Schwach noch, als wäre er weit entfernt, aber er war da. Er suchte sich seinen Weg durch die Zeiten. Irgendwie kam ihr das Pochen bekannt vor, aber all die Eindrücke um sie herum nahmen Kiana immer wieder gefangen in ihrer Gegenwart.
Dennoch versuchte sie, sich auf den Herzschlag zu konzentrieren. Sie wollte wissen, was an ihm so besonders war. Warum schien es, als würde er die Zeit teilen? Konnte es sein, dass sie sich an seinen Takt anpasste?
Es war mühsam, sich auf den Herzschlag zu konzentrieren. Die Zeit wollte keinen Rhythmus. Sie existierte und wirbelte die Erinnerungen und Visionen um Kiana herum. Aber Kiana durfte sich nicht ablenken lassen von dem bunten Karussell, den fremden Melodien und dem Geruch der Blumen. Sie musste den Herzschlag erreichen. Sie wusste selbst nicht genau, woher dieser Wunsch kam, aber bestimmt hatte das Gedicht ihr genau das sagen wollen. Sie musste einfach nur den Herzschlag erreichen. Doch egal, wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Zeit nicht dazu bringen, sie durchzulassen.
Kiana hielt inne. Alles dröhnte. So kam sie nicht voran. Wieso nur schien es beim Herzschlag alles so viel geordneter?
„Zusammenführen …“
Dieses eine Wort schwebte inmitten der Eindrücke durch Kianas Kopf und die Erinnerung an die Worte des Tempels hallte in ihr. Sie musste die Zeiten zusammenführen und sie nicht trennen.
Sich auf jede einzelne Empfindung einzulassen, war nicht weniger anstrengend als gegen sie zu kämpfen, aber ganz langsam kam sie näher an den Herzschlag heran. Der einzige Hinweis darauf, dass sie endlich Fortschritte machte, zeigte sich in dem lauter werdenden Klopfen. Und obwohl sie nicht das Gefühl hatte, sich von der Stelle zu bewegen, hatte sie noch nie etwas getan, das so viel Kraft von ihr verlangte. Trotzdem machte sie weiter. Fast unmerklich wurde der Wirbel aus Eindrücken um sie herum langsamer, so lange bis schließlich mit jedem Herzschlag nur noch eine Erinnerung über sie hinweg schwappte.
Als sie die Tränen der Anstrengung in ihren Augenwinkeln spürte, öffnete Kiana schlagartig die Augen. Panik stieg in ihr auf, als sie merkte, dass sie den Herzschlag nicht mehr hören konnte. Hatte sie versagt? Schwer atmend versuchte sie, sich umzusehen, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Nur die fremden Bilder erreichten noch immer ihren Geist. Langsam und gleichmäßig. Und da wurde es Kiana bewusst. Der Herzschlag war nicht verschwunden. Sie konnte ihn zwar nicht mehr hören, aber sehr wohl spüren. Ihr eigenes Herz pochte in ihrem Körper, mühsam und viel zu heftig nach dem vorherigen Kraftakt, aber regelmäßig und genau im Rhythmus der Zeit, die um sie herum verweilte.
Dann, völlig unvermittelt, setzte sich die Zeit um Kiana in Bewegung, zerrte an ihr und drängte sich dem schwachen Licht entgegen, das plötzlich wieder in das Innere des Tempels drang. Doch statt mitgerissen zu werden, erschien es Kiana eher, als würde sie den Halt verlieren.
Blinzelnd blickte sie sich um. Sie lag auf dem steinernen Boden in der Mitte des Tempels, ohne mitbekommen zu haben, wie sie fiel. Mühsam richtete sie sich etwas auf, als ihr die Gestalt im wieder offenen Eingang auffiel.
„Kiana!“ In der Stimme ihrer Großmutter mischten sich Sorge und Stolz und sie eilte in den Tempel, um sich neben ihre Enkelin zu hocken.
Erleichtert ließ Kiana sich in ihre Arme sinken. Sie fühlte sich wieder wie das kleine Mädchen, das den Legenden gelauscht hatte, und spürte gleichzeitig die Zukunft, die aus der Wahrheit der Geschichten und ihrer Verbindung mit der Zeitmagie erwuchs. Doch in diesem Moment war das alles unwichtig. Immer noch fest an ihre Großmutter gedrückt, flüsterte Kiana mit einem Lächeln: „Ich hab’s geschafft, Oma!“
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