Es war ziemlich eng in dem kleinen Kellerraum, als sich die Wolke hineinquetschte. Inzwischen hatte Noah festgestellt, dass sie neben Beinen und Füßen auch ein Gesicht hatte. Es sah ein wenig aus wie das eines Hundes, hatte aber Hörner, die Noah an die Bilder von Drachen erinnerten. Aber Drachen lebten nicht in Kytar, sondern auf der anderen Seite der Welt. So etwas Spannendes konnte hier nicht passieren. Allerdings war gerade etwas Aufregendes passiert. Und nun befand sich Noah mit einer Drachen-Hunde-Wolke und einem fremden Jungen in seinem geheimsten Rückzugsort.
"Mann, was war das denn gerade?" Der fremde Junge sah Noah fragend an.
Noah blinzelte. "Das fragst du mich? Du bist doch gerade mit deiner Wolke einfach so in den Herbstball gestürzt!"
"Wolke? Ach, du meinst Frey. Der ist ein Wolkendrache. Und wir wollten eigentlich nur herausfinden, was es hier so zu entdecken gibt."
Noah fühlte sich etwas überfordert von den Fragen, die in seinem Kopf schwirrten, also fing er einfach mit irgendeiner an. "Ein Drache?"
"Ja", antwortete der Junge. "Ein Wolkendrache. Sag ich doch. Sein Name ist Frey. Und entschuldige, wenn er etwas unruhig wirkt. Wolkendrachen sind nicht gerne in Innenräumen."
"Ich hab noch nie von Wolkendrachen gehört." Noah betrachtete die Nicht-Wolke. Aktuell machte Frey einen recht entspannten Eindruck.
"Echt nicht? Da wo ich herkomme, sind die fast überall."
"Na ja", Noah zuckte mit den Schultern, "hier in der Gegend leben eh keine Drachen."
"Wie langweilig." Der Junge ließ den Blick durch den Raum schweifen, ehe er wieder Noah ansah. "Wie fliegt ihr denn dann?"
"Ähm, gar nicht?"
"Und ich dachte, hier wäre es aufregender ..."
"Na ja, ihr habt gerade ganz schön für Aufregung gesorgt."
Jetzt zuckte der Fremde mit den Schultern. "Wir hatten halt nicht mit einer unsichtbaren Wand gerechnet."
"Du meinst das Fenster?"
"Wenn die so heißt." Der Junge wandte sich wieder dem Raum zu. "Wo sind wir hier eigentlich?"
"In meinem Geheimversteck. Der ehemalige Rückzugsort meiner Mutter. Mein Vater weiß nichts von diesem Raum", klärte Noah ihn auf und versuchte den Raum mit seinen Augen zu sehen. Ob der Fremde pure Unordnung statt des gemütlichen Chaos sah, das Noah hier so liebte? All die verstreuten Fotos, die halbgelesenen Bücher, der Krimskrams in den Regalen ... alles was sein Vater in seiner Burg nicht duldete. Vielleicht gefiel es Noah deshalb so gut.
"So viel ungewöhnliches Zeug", kommentierte der Junge.
"Ach ja?" Verwirrt sah sich Noah noch einmal um. So ungewöhlich erschien es ihm gar nicht. Aber hatte der Fremde nicht auch schon keine Fenster gekannt? Da fiel Noah plötzlich etwas ein: "Sag mal, wie heißt du überhaupt?"
"Elian."
"Ich bin Noah."
"Freut mich."
Es entstand eine kurze Pause voll unangenehmen Schweigen, ehe Noah weiterfragte: "Und wo kommst du her?"
"Von den Meereswolken. Etwas südöstlich von hier."
Elian sagte es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass Noah glaubte, sich verhört zu haben. "Von den Meereswolken?"
"Ja, ich weiß, ich seh nicht wirklich so aus. Meine Mutter kam weiter aus dem Westen, aber -"
"Moment, stopp. Du wohnst in den Wolken?" Noah wusste, dass es unhöflich war, andere zu unterbrechen, aber Elian war eben durch ein Fenster gestürzt, da würde das sicher erlaubt sein. Als Ausgleich oder so.
Elian aber sah Noah so verwirrt an, wie er ihn. "Ja. Natürlich."
Noah sah zu Elian, dann zu dem Wolkendrachen und ließ sich schließlich rückwärts auf sein Lesekissen fallen. "Natürlich ..."
"Ich dachte, ihr wüsstet hier von den Wolkenreichen ..." Noah schüttelte langsam den Kopf, während Elian sich neben ihm niederließ. "Mann, warum sind eure Böden so hart?"
"Vielleicht weil sie aus Stein und nicht aus Wolken bestehen?", versuchte Noah es.
"Ja, muss wohl sein", bestätigte Elian, als sei es das natürlichste auf der Welt. Dann fiel sein Blick auf eines der alten Fotos, die überall auf dem Boden verteilt lagen. Vorsichtig nahm er es auf und betrachtete es eingehend. "Was ist das?"
"Das ist ein Foto, es ..."
"Ich weiß, was ein Foto ist", unterbrach Elian. "Aber warum ist da meine Urgroßmutter drauf?"
"Was?" Noah rutschte zu Elian und betrachtete das Foto. Es zeigte eine alte Frau mit freundlichem Gesicht. Die alten Sepiatöne waren schon etwas ausgeblichen, aber aus den Augen strahlte noch immer eine Wärme und auch ein bisschen die Lust nach Abenteuern. Noah schüttelte den Kopf. "Das kann nicht deine Urgroßmutter sein. Das ist nämlich meine Urgroßmutter."
Elian ließ sich nicht beeindrucken. "Aber bei uns zuhause hängt ein Foto von genau dieser Frau."
"Wie sollte das sein, wenn ich bis vor zwei Minuten nicht einmal wusste, dass man in Wolken wohnen kann?"
"Keine Ahnung. Aber" - Elian sah auf und Noah sah es in seinen Augen blitzen - "das ist genau das Abenteuer, das ich gesucht habe!" Voller Elan sprang Elian auf. "Komm! Lass uns deinen Vater suchen und ihn fragen."
So schnell er konnte, rappelte Noah sich auf, um ihn aufzuhalten. "Bist du wahnsinnig geworden? Weißt du, was mein Vater mit uns anstellt, wenn er uns findet? Ich werde sicher wochenlang nur auf meinem Zimmer sitzen und altwördische Texte über korrektes Benehmen übersetzen dürfen. Und dich und deinen Wolkendrachen schmeißt er in den Kerker. Außerdem ist es noch nicht einmal seine Großmutter."
"Na gut, dann gehen wir eben deinem Vater aus dem Weg und fragen deine Mutter."
Traurig sah Noah sich in seinem Geheimversteck um. "Die ist nicht hier. Sie hat meinen Vater schon vor fast drei Jahren verlassen. Inzwischen lebt sie irgendwo jenseits der Grenze. Ich hab sie schon ewig nicht mehr gesehen."
"Oh. Das tut mir leid." Tröstend legte Elian eine Hand auf seinen Arm. Erst jetzt bemerkte Noah, dass er noch immer voller Schokolade war. Unwillkürlich musste er anfangen zu lachen. Und es war genau dieser Moment, in dem er sich entschied, dass er Elian mochte. Und dass er mit ihm zusammen ein Abenteuer erleben wollte.
"Ich sollte mich wohl eigentlich zuerst umziehen, bevor wir ins Dorf gehen. Wenn nur die Enten nicht wären ..."
Verwirrt sah Elian ihn an. "Wir können doch deine Mutter fragen? Und was haben Enten damit zu tun?"
"Nicht ganz. Und leider eine ganze Menge."
~1000 Wörter
"Ich hab schonmal Enten gesehen", sagte Elian. "Sie schienen mir bisher sehr freundlich und unproblematisch."
"Sind sie auch meistens." Noah seufzte und ließ sich wieder auf sein Kissen sinken. "Es war zur Zeit meines Urgroßvaters - väterlicherseits", fügte er hinzu, als er die Neugierde in Elians Blick bemerkte. "Das war bevor die Burg Fenster hatte. Da war sowieso noch vieles sehr anders. Aber die Gesetze sind geblieben. Und eines davon besagt, dass bei unbefugtem Eindringen in die Burg oberster Befehl ist, diesen Eindringling zu schnappen. Und häufig genug waren es Enten, die durch die fensterlosen Öffnungen flogen - und später dann zum Abendessen gereicht wurden."
Schockiert sah Elian ihn an, aber Noah zuckte nur mit den Schultern. "Das ist schon ewig nicht mehr passiert. Ich hab das Gesetz selbst noch nie in Aktion erlebt. Aber es wird noch immer 'der Entenparagraph' genannt - und ich habe dagegen verstoßen, als ich mit euch geflohen bin. Vermutlich ist gerade das gesamte Personal auf der Suche nach uns. Es ist also nicht einfach so möglich, irgendwohin zu gelangen."
Elian sah noch immer nicht beruhigt aus. "Und du bist dir sicher, dass dein Vater uns nicht ..."
"Ganz sicher", bestätigte Noah. "Aber der Kerker ist bestimmt eine Option. Vermutlich sogar seine liebste. Wenn es um den Herbstball geht, ist mit Vater echt nicht zu spaßen."
Elian schwieg eine Weile, dann sagte er mehr zu sich selbst als zu Noah: "So hatte ich mir das nicht gerade vorgestellt ..."
"Das Gute ist", warf Noah ein, "ich weiß einen Weg, wie wir vielleicht trotzdem das Schloss verlassen können." Dann sah er noch einmal an sich herunter. "Das Schlechte ist, dass ich so auf keinen Fall ins Dorf gehen kann. Selbst ohne die Schokolade würde ich sicher sofort erkannt werden. Aber so ..."
Elian sah sich um. "Hast du hier nicht vielleicht irgendwo einen Umhang? Oder eine Decke, die man so verwenden könnte?"
"Meine Mutter hat eine Jacke hiergelassen. Die müsste irgendwo hinter deinem Drachen neben der Tür sein. Aber sie ist mir viel zu groß."
Fasziniert beobachtete Noah, wie Elian über Frey kletterte und sich schließlich zwischen ihn und die Wand quetschte. Dann hielt er ein ausgeblichenes, rotes Stück Stoff in die Höhe. "Die hier?"
"Ja." Es war ein seltsames Gefühl, Elian mit den Sachen seiner Mutter zu sehen. Als stünde es ihm nicht zu, sie anzufassen. Schnell schüttelte er den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Das war ja nun wirklich albern. Allerdings hatte Elians Kletteraktion ihn auf ein anderes Problem aufmerksam gemacht: "Ist aber auch egal, weil Frey sowieso alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird."
Elian rutschte gerade an der Seite des Drachen herunter und wandte sich dann zu dessen Hundegesicht. "Ach, Frey wird sicher auch ein bisschen über uns warten. Nicht wahr mein Großer?"
Der Wolkendrache stieß einen Laut aus, der Noah nun ganz und gar nicht mehr an einen Hund erinnerte. Eher an einen wilden Bären.
"Wenn er aber so laut ist, könnte es auch sein, dass wir eh nicht aus der Burg herauskommen."
Elian streichelte beruhigend über Freys wolkigen Hals. "Er meint es nicht so, Frey. Noah ist halt Wolkendrachen nicht gewohnt." Dann wandte er sich wieder Noah zu und bedeutete ihm aufzustehen, sodass er die Jacke um ihn herumlegen konnte. "Ja, du hast recht, sie ist ein wenig lang", bekundete er fachmännisch. "Aber das kriegen wir schon hin." Dann ging er zielstrebig auf das alte Nähset von Noahs Mutter zu und begann damit, den Mantel so abzustecken, dass sie zumindest nicht mehr auf dem Boden schleifte. "Wenigstens etwas, was ich von zuhause kenne", kommentierte er. Dann betrachtete er sein Werk. "Nicht perfekt, aber es sollte hoffentlich für unser Vorhaben reichen. Also kannst du mir jetzt erklären, wie wir in dein Dorf kommen."
Noah sah zweifelnd an sich herunter. Es sah wirklich nicht zu schlecht aus, aber ob es den Weg aus der Burg überleben würde ... "Nun ja, kann dein Wolkendrache schwimmen?"
~647 Wörter
Elian sah Noah mit einem Gesichtsausdruck an, den dieser nicht wirklich deuten konnte. "Natürlich kann Frey schwimmen", antwortete er dann. "Aber ... muss ich auch schwimmen können?"
Überrascht sah Noah ihn an. "Du kannst nicht schwimmen?"
"Warum sollte ich? Wenn in den Wolken zu viel Wasser ist, regnen sie sich einfach ab."
"Oh, ja, natürlich." Noah fühlte sich ein wenig überrumpelt. So hatte er noch nie darüber nachgedacht. Aber er hatte ja auch bis vor ein paar Minuten keine Ahnung gehabt, dass man überhaupt in den Wolken leben konnte. "Vielleicht kannst du dich ja an Frey festhalten, während wir tauchen."
"Tauchen!?" Schockiert starrte Elian ihn an. "Du hast nur nach Schwimmen gefragt. Wie willst du uns denn hier rausbringen?"
"Nur ein paar Gänge von hier entfernt liegt die Küche und die hat einen direkten Zugang zum Meer. Eine Art Brunnen. Da können wir durchtauchen. Das Gitter ist auch ganz einfach zu entfernen und wieder einzusetzen. Wenn wir an den Wachen und dem Küchenpersonal vorbeikommen, ist das kein Problem."
"Kein Problem. Du hast gut reden ..." Unruhig tigerte Elian vor ihm hin und her, bis es Noah irgendwann zu viel wurde und er ihm die Hände auf die Schultern legte.
Ja, sie kannten sich kaum, aber er hatte das Gefühl, dass sie schon jetzt so etwas wie eine beginnende Freundschaft verband. Und vielleicht waren sie sogar verwandt. Also war sich Noah seiner nächsten Worte absolut sicher: "Wir schaffen das."
"Du und ich?"
"Wir beide."
Noah hatte die Unsicherheit in Elians Stimme nicht überhört, aber erleichtert merkte er, wie der Funken in seine Augen zurückkehrte.
"Na gut. Suchen wir den Brunnen und erleben wir ein Abenteuer!"
~272 Wörter
Das letzte Kapitel ist so kurz, weil ich noch irgendwie das Magische Puder einbauen musste. Ich bin mir aber insgesamt noch so überhaupt nicht sicher, wie sich diese Geschichte entwickeln wird. Sie hat irgendwie noch kein Ziel. Aber ich hab gesehen, dass ich mit einem Schicksalssprung enden sollte. Das klingt so viel größer als alles, was ich mir bisher vorgestellt habe. Na ja, mal sehen, was noch so passiert.
3458 Wörter bis hierher.