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Information | Vote | Gewinner
Ähnlich wie im letzten Jahr gibt es auch dieses Jahr wieder eine bestimmte Anzahl an Punkten, die ihr den Texten geben könnt. Dabei ist zu beachten, dass ihr frei wählen könnt, wie genau ihr die Punkte verteilt und welche Texte mehr Punkte als andere bekommen. Achtet jedoch darauf, dass ihr die Punkte, die euch zur Verfügung stehen, komplett ausschöpft. Votes, welche zu wenige oder zu viele Punkte enthalten, können leider nicht gezählt werden. Des Weiteren solltet ihr eure Punkte mindestens auf drei Texte verteilen, eure Wahl begründen und natürlich nicht für eure eigenen Texte voten. Es ist außerdem hilfreich, euch das "How to vote-Topic" anzusehen. Schreibt ihr in dieser Saison besonders viele Votes, habt ihr die Chance auf einen individuellen Benutzertitel. Weitere Informationen findet ihr hier: Informationen und Regeln zur Wettbewerbssaison 2014
Zitat von AufgabenstellungDas Thema dieses Wettbewerbs lautet "Zwei Perspektiven"
Im Genaueren bedeutet dies, dass ihr von einem Ereignis aus der Sicht zweier, unterschiedlicher Charaktere schreiben sollt, wobei der eine Autor die eine Sicht und der andere Autor die andere Sicht übernimmt.
Ein Pokémonbezug ist zudem nicht zwingend erforderlich.
Ihr könnt 14 Punkte verteilen, maximal 9 an eine Abgabe
Der Vote läuft bis Sonntag, den 06.04.2014, um 23:59 Uhr.
(Bloom)
Mit einem undeutbaren Funkeln in den Augen blickte ich zum Grund meines Glases. Mein Blick war leer und doch verbarg sich darin ein Gefühl, welches ich zu verstecken versuchte. Wieso hatte ich mir das hier noch einmal angetan? Ach ja genau, weil ich an einem Samstag Abend sowieso nichts Besseres zu tun hatte, weil es niemanden gab, der auf mich warten würde. Und dieses Wissen schmerzte. Ich hasste es, wie sich die Erkenntnis langsam einen Weg in mein Bewusstsein suchte, wie mich die Einsamkeit langsam zu überrollen schien. Es gab niemanden, der mich verstand, niemanden, der mir zur Seite stand und niemanden, der für mich da war. Niemand, den es interessieren würde, wie ich mich fühlte.
Erneut nahm ich einen großen Schluck von meinem Apfelsaft. Ja, auch wenn ich den Schmerz zu gerne vergessen wollte, wenn ich das Gefühl hatte, dass es mir mein Herz in Stücke riss, so wollte ich dieses Gefühl dennoch nicht in Alkohol ertränken. Denn ich wusste, wenn ich erst damit anfing, dann würde der Tag kommen, an dem ich nicht mehr leben konnte, ohne das wärmende Brennen in meinem Inneren zu spüren, der Tag, an dem ich vergaß, was es bedeutete zu leben. Ich spürte den musternden Blick des Barkeepers auf mir, doch ich wollte mein Wochenende wirklich nicht kotzend über einer Toilette verbringen und ich wusste, dass genau das passieren würde.
Auf einmal nahm ich wahr, wie sich jemand auf den Barhocker neben mir fallen ließ. Ich musste mich nicht umdrehen, um die Musterung zu spüren, die mir die Person zukommen ließ. Ich spürte förmlich, wie sich die Blicke in meinen Rücken bohrten, wie kleine Messer, und so konnte ich nicht ab, meinen Blick kurz zur Seite zu wenden. Ich sah in zwei tiefbraune Augen eines angetrunkenen Mannes, welche mir lüsterne Blicke zukommen ließen. Ich mochte es nicht, von irgendwelchen Typen beäugt zu werden. Ich fühlte mich dann immer wie ein Stück Fleisch, welches inmitten einer Herde hungriger Löwen gelandet war. So versuchte ich, den Mann neben mir einfach zu ignorieren und so zu tun, als würde ich ihn gar nicht warnehmen. Obwohl alle meine Alarmglocken zu leuten begannen, versuchte ich, meine Gedanken nicht abschweifen zu lassen, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken, selbst dann nicht, als der Barkeeper mir einen Schnaps hinstellte, welchen der Mann für mich bestellt zu haben schien. Schien er meine abweisende Haltung nicht zu bemerken, oder wollte er sie einfach nicht bemerken? Machte ich mich dadurch nur noch anziehender, indem ich unnahbar wirkte?
Auf einmal spürte ich einen warmen Lufthauch auf meinem Nacken und den stechenden Geruch von Alkohol in meiner Nase. Perplex zuckte ich zusammen und sah, wie mich der Fremde grinsend anblickte. Fassungslos und erschrocken rutschte ich ein paar Meter weiter von dem Mann fort. Ich versuchte, selbstbewusst und sicher zu klingen, doch als das erste Wort meine Lippen verließ, wusste ich, dass es mir nicht gelungen war. Zu sehr nahmen mich die Augen des Mannes gefangen, welche mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließen. Sie wirkten hoch erregt, entschlossen und kalt! "Ich bin nicht interessiert! Ich bin lesbisch!" Ein unheimliches Grinsen umspielte seine Lippen und auf einmal überkam mich der Gedanke, dass ihn meine Worte kein Stück davon abhalten würden, mit mir zu kopulieren, sofern dies seine Absicht war.
Ich nahm deutlich wahr, wie er von seinem Stuhl aufstand und einen Schritt in meine Richtung trat. Ängstlich verkrampfte ich mich auf meinem Stuhl. Wie paralysiert blickte ich in diese dunklen Augen, die mich gierig musterten. "Ich bin überzeugt davon, Süße, dass so ein toller Hengst wie ich dich heilen kann!", raunte er. In seinen Worten schwang keine Drohung mit, nein, es klang wie ein Versprechen. Mein Herz schlug immer lauter gegen meine Brust, als wollte es fliehen, mich dazu bringen aufzustehen und davon zu laufen. Doch so sehr ich auch wollte, es ging einfach nicht. Zu groß war die Angst, dass dieser Typ mir folgen würde. Und ich wusste, dass ich allein keine Chance hatte, absolut keine Chance. Aber war es denn hier drin viel besser? Bemerkten denn all die Leute nicht, wie er sich mir bedrohlich näherte? Oder wollten sie es vielleicht gar nicht bemerken? Wieso half mir denn keiner? Ich zitterte am ganzen Leib, während er inzwischen direkt vor mir stand und nach meinem Handgelenk griff. "Komm mit, Süße", hauchte er mir ins Ohr. Mein Körper verkrampfte sich und ich versuchte mich verzweifelt an dem Stuhl festzuhalten. "Lass mich los! Ich will nicht!" Meine Stimme klang heiser und ängstlich, gar verzweifelt. Wieso kam mir denn keiner zu Hilfe? Wieso griff der Barkeeper nicht ein? Wieso ließen mich die Menschen im Stich? Wo war die Solidarität, die Nächstenliebe, mit der wir immer prahlten? Unsere angeblich weiter entwickelte Intelligenz, unser Mitgefühl, was die Tiere angeblich nicht vorweisen konnten? Und doch fühlte ich mich wie ein Tier, ja wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde.
Auf einmal ertönte eine Stimme neben uns und ich spürte, wie meine Hand los gelassen wurde. Den Moment ausnutzend stürmte ich in Richtung Toiletten. Kurz bevor ich die Tür hinter mir zuknallen ließ, blickte ich in das schönste Paar strahlend smaragdgrüner Augen, die ich je gesehen hatte.
Ich wusste nicht, wie lange ich alleine gegen die Klowand gelehnt dasaß, doch es kam mir ewig vor. Ewig, bevor sich die Tür zu den Toiletten erneut öffnete und ich die Gestalt einer Frau wahrnahm, die mich sacht und liebevoll beäugte. Ihre grünen Augen strahlten eine Wärme aus, die ich zuvor noch nie gespürt hatte. "Alles OK bei dir?" Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, denn ich hatte das Gefühl, als würde mir meine Stimme versagen und so konnte ich nur nicken. Lange blickte ich ihr einfach nur in diese wundervollen Augen, bevor ich erneut zu meiner Stimme fand. "Danke." Zögernd lächelte ich sie an, bevor ich sah, wie auch ihre Mundwinkel nach oben zuckten. Vielleicht ... vielleicht war ich doch nicht ganz allein?
(Sarah)
"Willst du noch einen Drink?"
Ich nickte und Sekunden später war mein bester Freund schon mit zwei vollen Gläsern zurück. Wie fast jeden Samstagabend waren wir in unserer Stammbar, um noch etwas zu feiern und den grauen Alltag mal zu vergessen. Aber heute wollte das irgendwie nicht so ganz klappen, ich fühlte mich müde und antriebslos, mir war alles zu laut, wahrscheinlich arbeitete ich einfach zu hart.
"Kevin, können wir heute früher gehen?", fragte ich meinen Freund.
"Wie, du machst schon schlapp?" Ich schaute ihn gespielt empört an und er fing an zu lachen, dann klopfte er mir auf die Schulter und sagte: "Okay, ich sollte morgen ja auch ausgeschlafen sein."
Als er unsere Gläser zurückgegeben hatte und wir gerade gehen wollten, schweifte mein Blick noch einmal zur Theke, als ich sah, wie ein Mann eine Frau anbaggerte, die aber offensichtlich kein Interesse hatte.
"Kevin, schau mal da drüben. Kommt dir das nicht auch komisch vor?", fragte ich leise und deutete auf die beiden.
"Was denn? Ein Mann, der ne Frau anmacht, das kommt nicht selten vor in ner Bar," tat er es ab und zuckte mit den Schultern.
"Aber der hält die doch fest, die versucht doch, von dem loszukommen!" Meine Stimme wurde lauter, doch mein Freund reagierte immer noch nicht. "Jetzt steh doch nicht tatenlos rum, wir müssen ihr helfen."
Kevin zuckte erneut mit den Schultern. "Wissen wir denn sicher, dass er sie bedrängt oder so? Nein? Also. Ich will mich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen."
"Wie du meinst, ich tu jetzt was," schnaubte ich und ließ ihn einfach stehen.
Je näher ich der Situation kam, umso besser erkannte ich, dass hier tatsächlich etwas nicht in Ordnung war.
"Was ist hier los?", fragte ich entschlossen und der Mann ließ die Frau erschrocken los, die daraufhin sofort in Richtung Toiletten verschwand.
"Was sollte das, ich hatte die Süße schon so gut wie im Bett!", brüllte der offensichtlich betrunkene Mann mich an.
"Das sah mir aber anders aus," erwiderte ich, "die hatte wohl eher Angst vor dir."
"Die Schlampe war lesbisch, ich wollte sie doch nur heilen!", brüllte der Fremde, sodass der stechende Geruch von Ethanol in meiner Nase brannte.
Ich sah dem Mann in seine braunen Augen, er meinte es offensichtlich ernst. Ich wurde erfüllt mit einer Mischung aus Ekel und Wut, explosiv wie Dynamit.
"Das ist wirklich unglaublich," murmelte ich. Er grinste. Er rechnete wohl gerade mit meiner Zustimmung. "Wirklich unglaublich." Ich fing an zu schreien. "Unglaublich, was für intolerante Arschlöcher es doch auf dieser Welt gibt!"
Sein bescheuertes Grinsen verflog. Stattdessen starrte er mich nun finster an, noch finsterer als zuvor.
Etwas in mir schrie: Renn weg! Das wird nicht gut ausgehen!
Doch es war still. Angespannt. Die Ruhe vor dem Sturm. Ich spürte nur die Blicke der anderen Barbesucher. Ich stand da wie angewurzelt.
Das Klirren der Glassplitter brach die Stille. Er fuchtelte mit seiner abgebrochenen Bierflasche in der Luft herum, versucht, mich damit zu verletzen.
Blicke. Getuschel. Keine Hilfe.
Ich bekam seinen Arm zu greifen, die Flasche nur Zentimeter von meinem Hals entfernt.
"Die hat ganz schön Kraft." Das wurde letzte Woche noch von mir gesagt. Doch jetzt fühlte ich mich schwach, jede Sekunde ließen meine Kräfte mehr und mehr nach, ich war hilflos. Absolut hilflos.
Wieder diese Blicke. Warum konnte nicht ein einziger von diesen ganzen Menschen um mich herum eingreifen? Sie ließen mich alle im Stich. Sekunden kamen mir vor wie Stunden, wie Tage, wie eine Ewigkeit.
Noch fünf Zentimeter - noch vier - drei - ich kann nicht mehr! Helft mir doch, bitte helft mir! Was steht ihr so blöd rum? Tut was! Irgendwas!
Ich spürte, wie sich eine Träne aus meinen Augen schlich. Ich war verzweifelt. Meine Kräfte schwanden zunehmend.
Ich... kann... nicht... mehr...
"Da ist er!"
Der Druck gegen meine Hände ließ augenblicklich nach, ich blinzelte. Zwei Security-Typen hielten den Mann fest, der immer noch laut herumbrüllte und wild um sich schlug.
Kevin kam auf mich zu gestürmt. "Mein Gott, Sarah! Geht es dir gut?" Ich nickte. "Ich hab die Securitys geholt, als er angefangen hat zu brüllen. Aber die Menschen hier gaffen lieber, als den Weg für Helfer frei zu machen."
Ich deutete ihm, er solle still sein. So viel Gerede konnte ich nun echt nicht ertragen. Er lächelte und legte seinen Arm um meine Schulter.
Wenig später wurde der Betrunkene von ein paar Polizisten weggebracht, er brüllte immer noch Beleidigungen durch die Gegend, aber das sollte nun nicht mehr mein Problem sein.
"Sollen wir jetzt gehen?", fragte Kevin und sah mich mit seinen großen graublauen Augen an. Immerhin hatten wir das schon vor einer gefühlten Ewigkeit vorgehabt.
Ich nickte. "Aber ich muss vorher noch wohin."
Ich verschwand in Richtung Toiletten. Diese Frau war immer noch dort, sie saß gegen die Wand gelehnt da und sah total fertig aus.
Ich beugte mich vor und fragte: "Ist alles okay bei dir?"
Sie nickte. "Danke."
Ihre kristallklaren meeresblauen Augen schimmerten im fahlen Licht der zischenden Deckenbeleuchtung, als sich ein Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete, das ich ob des überaus romantischen Szenarios, das sich hier gerade abspielte, nur erwidern konnte.
Und endlich war alles ruhig.
Wie soll ich dich denn in dieser riesigen Stadt jemals wieder finden? Aber wahrscheinlich denke ich zu pessimistisch. Vielleicht warte ich vergebens hier, im Schatten dieses gigantischen, leuchtenden Turms, der wohl so etwas wie das Wahrzeichen dieser Stadt ist. Hattest du mir das nicht eben noch erklärt? Wieso habe ich dir nur nicht zugehört, als du mir erklärt hast, wie die Welt lebt und funktioniert. Habe nur deiner warmen Stimme gelauscht, dem frischen Wind auf meinem Körper Beachtung geschenkt und deine Sicherheit genossen. Aber jetzt, wo ich aus deinen sicheren Armen gerissen worden bin, in den Massen an Zweibeinern untergegangen bin, jetzt wünsche ich deine Nähe. Für ein Trasla, wie mich, ist es hier nicht sicher. So vertraut mir dein Geruch auch ist, ich bin nicht mehr sicher, ob ich meinen verwirrten Sinnen trauen darf. Wenn ich nun einfach meine kleinen Füße bewege und dem Gefühl nachgehe? Sollte ich nicht lieber auf dem großen, runden Platz bleiben? Die Wolken und der Wind sprechen heute nicht zu mir. Das Flüstern der Natur bleibt aus. Heiß scheint die Sonne, an diesem unglücklichen Tag. Wenn ich meinen Blick schweifen lasse, erkenne ich außer sternförmig verlaufenden Gassen kaum etwas - und doch, ich kann es riechen. Es riecht nach Großstadt, nach Menschen, deren leckerem Essen, nach Frühling und nach Pokémon-Kämpfen. Aber am allermeisten riecht es nach dir! Diese nichtige, kleine Schachtel auf dem Boden am Ende dieses dunklen, grauen Ganges, wieso erinnert sie mich so an dich? Es ist dein Lieblingsessen, mein geliebter Trainer. Aber ich darf nicht weinen, gerade jetzt nicht, wo mir dieses fremdartige Wesen gegenübersteht, an dessen Blick ich erkenne, dass es mir nicht wohlgesonnen ist. Sind wilde Psiau wirklich so gemein, wie du mir erzählt hast? Dieses niedliche graue Fell, die kleinen, runden Knopfaugen, der freche Mund, aus dem spitze Zähne hervorstehen - alles sieht so harmlos aus. Und doch, bevor ich ihm erklären kann, dass ich nicht hier bin um zu stehlen, faucht es mich auch schon an. Dass ich hier verschwinden solle, aber ich weiß doch gar nicht mehr, wohin. Ich bin doch nur dem vertrauten Geruch gefolgt!
„Was machst du hier? Verschwinde gefälligst!”, fauchte ich den Eindringling an, den meine harsche Stimme zusammenzucken ließ. Ich stand auf einem großen Pappkarton und schaute auf mein Gegenüber herab, welches gerade den Kopf zu mir hob. Dichte, grüne Haare verdeckten die Augen des kleinen, humanoiden Pokémon, welches in seinem weißen Kleid einem Menschenkind ähnelte. Lediglich die roten Hörner auf seinem Kopf zerstörten diesen Eindruck. Ein Trasla? Was macht so eines denn hier?
Ich versuchte festzustellen, was es hierher gebracht haben könnte und mein Blick fiel auf den flachen Pappkarton am Boden. Er war halb geöffnet und ein köstlicher Geruch stieg mir in die Nase.
Aha! Da will mir jemand mein Essen streitig machen? Na, warte!
„Hast du mich nicht gehört oder was? Ich sagte, du sollst abhauen!”, herrschte ich mein Gegenüber an und sprang von der Kartonkiste herunter auf den gepflasterten Boden. Doch das Trasla reagierte nicht, sondern blieb wie versteinert stehen. Denkt es etwa, weil es größer ist, kann es mich einfach ignorieren? Das wirst du bereuen! Wütend verengte ich meine Augen zu Schlitzen, als ich das Psycho-Pokémon einige Sprünge vor mir fixierte. Mein kurzer Schweif begann hin und her zu peitschen, während sich die Wut in mir weiter aufstaute. Warum bewegte es sich nicht? Wie konnte ein Eindringling nur dermaßen von sich überzeugt sein? Dachte es etwa, es könnte einfach so in mein Revier spazieren und mir mein Essen streitig machen?
„Ich sag’s dir nur noch ein einziges Mal. Verschwinde endlich! Ansonsten werde ich, Theodore, dir höchstpersönlich zeigen, wessen Gasse das ist!”
Doch das Trasla schien gar nicht daran zu denken, sich zu bewegen. Gut, wenn es es nicht anders wollte - man konnte mir jedenfalls nicht vorwerfen, ich hätte es nicht oft genug gewarnt.
„Wie du willst”, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich konzentrierte mich auf meine psychischen Kräfte und hob meine Ohren an, um diese Energie in Form eines Psystrahl freizusetzen. Sie legte sich auf meine Augen und sobald ich meinen Gegner vor mir fixiert hatte, schoss diese auf ihn zu. Frontal wurde das Trasla von der Attacke getroffen und krümmte sich unter den Schmerzen. Aber es schien ihm weniger zu schaden, als ich angenommen hatte. Und es wirkte auch nicht so, als würde diese Attacke es in die Flucht schlagen. Verärgert beendete ich meinen Angriff, indem ich die Ohren wieder an meinen Kopf legte und die Energie abbrach. Dann eben etwas anderes.
Wenn ich mich doch rühren könnte, dem Psiau, welches nur davon redet, beklaut zu werden, erklären, warum ich wirklich hier bin! Ob du nun Theodore heißt oder nicht. Bevor ich den Mund öffnen kann, trifft mich ein heller, farbiger Strahl, der direkt aus den kleinen Knopfaugen von Psiau zu kommen scheint, am ganzen Körper. Unfassbare Lähmungsschmerzen kriechen meinen kleinen Rücken hinauf, umklammern stumm meinen Nacken, dringen wie tausend kleine Nadeln durch meine Haut. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ein Psystrahl meine Art so hart treffen kann. Selbst die Verlagerung meiner Beine nützt nichts - Schwindel überfällt mich. Ich beginne zu zittern.
Das wabernde blaue Licht, der harte Boden unter meinen Füssen, Schwindel, alles wird mir zu viel. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass Psiau sich nicht noch weiter unnötig verausgabt - ich bin doch gar nicht sein Feind. Vielleicht beruhigt es sich, wenn ich meinen Namen hinausrufe? Durch mein Aufheulen wird es sich wenigstens nicht so verausgaben. Aber auch wenn ich spüre, dass das fremde Psiau durch meinen Versuch, ihn zu stoppen, kurz stockt, so lässt es doch schon die nächste Pein folgen.
Doch bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich als nächstes tun konnte, da heulte das Trasla vor mir laut auf. Der durchdringende Ruf hallte in der Gasse wider und übertönte kurzzeitig das allgegenwärtige Sirren der städtischen Geräusche. Ich blieb verwirrt stehen und rührte mich nicht. Auf einmal war mir gar nicht mehr so sehr nach Kämpfen zumute, im Gegenteil, ich bekam Mitleid mit dem Eindringling. Doch dann fiel mein Blick wieder auf den Pizzakarton und mir wurde die Strategie meines Gegenübers bewusst. Mit einem simplen Heuler würde es mich nicht vertreiben. Pah, mich kriegt man nicht aus dieser Gasse! Dieses Pokémon war doch zu Unrecht hier und nicht ich!
Mir fiel eine bessere Möglichkeit ein, es zu vertreiben und meine Augen begannen bedrohlich aufzuleuchten, als ich mit meinem Silberblick mein Gegenüber fixierte. Wütend entkam mir ein Fauchen. Wie erwartet war das Trasla von meinem angsteinflößenden Blick eingeschüchtert und schien nicht in der Lage zu sein sich zu verteidigen. Doch in dem Moment, als mir dieser Gedanke kam, fiel mir auf, dass es überhaupt noch nicht versucht hatte sich in irgendeiner Form zu wehren. Trotzdem war ich weiterhin gewillt mir mein Essen nicht streitig machen zu lassen!
Der silberne Schimmer in seinen Augen jagt mir kurze, heftige Schauer über den Rücken, ich spüre, wie meinem Körper die Kräfte entzogen werden. Ich weiß, dass es mich auslaugen und schwächen möchte und tatsächlich gelingt ihm das auch. Warum kann ich kaum klar denken? Ich kann förmlich spüren, wie mein innerer Wille mich zu verteidigen gesunken ist. Was so eine Attacke doch ausmacht - aber ich war noch nie die geborene Kämpferin. Auch ein zweites Aufheulen meinerseits scheint Psiau nur noch mehr anzustacheln. Warum reagiert es nur so wütend? Meine Taktik des Beruhigens – das Einzige, was ich gut kann - scheint gar nicht anzuschlagen. Es wird sich noch unnötig verletzen, wenn es so weitermacht!
Nach der nächsten Attacke war ich mir sicher, würde es die Flucht ergreifen. Es musste einfach weglaufen! Mit einem kampfbereiten Miauen, fuhr ich die Krallen an meiner rechten Pfote aus. Diese begannen zu leuchten, als ich mich sprintend auf das wehrlose Trasla zubewegte. Ich näherte mich schnell und doch waren meine Schritte auf den glatten Pflastersteinen kaum zu hören. Nur noch einen Sprung entfernt von meinem Gegner stieß ich mich kräftig vom Boden ab, holte mit der Kralle aus und verpasste diesem Eindringling einen Kratzer im Gesicht. Auf einen Gegenschlag vorbereitet - denn ich war mir sicher, dass falls es nicht fliehen sollte, es spätestens jetzt sich wehren würde - sprang ich zurück und ließ mein Gegenüber nicht aus den Augen. Mein Atem ging schwer und ich schnappte etwas nach Luft. Es war eine Weile her, dass ich das letzte Mal wirklich kämpfen musste - normalerweise verschwanden ungebetene Besucher ja auch nach meinem Psystrahl.
Ich kann kaum atmen, als das Psiau plötzlich über den Karton, in dem sich noch Pizza befindet, hinwegfegt und mich mit seinen Krallen im ganzen Gesicht gleichzeitig zu treffen scheint. Wie höllisch kann ein einzelner Schmerz sein? Und wie stark ist er erst, wenn er sich vermengt. Saure Galle verflüssigt sich in meinem Mund, Angst, Wut und Hilflosigkeit über das Missverständnis mischen sich.
Vielleicht muss ich ihm meine wohlwollende Art anders zeigen. Ob ich ihm helfen sollte, dem armen, wütenden Kerl?
Lieber schließe ich die Augen, sehe dem Übel nicht ins Gesicht, hinterlasse eine Welle aus Wärme, ehe ich ihn so leiden sehe. Nein, das hast du mir beigebracht, mein geliebter Trainer, man darf andere, wilde Pokémon nicht so leiden lassen. Während ich so darüber nachdenke, was das arme Ding nachts für Ängste durchstehen muss – hier draußen, alleine! – merke ich doch, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Ich spüre, wie sich warme, prickelnde Energie zwischen meinen Armen bildet, während ich sie ausbreite, verteilt sich diese umgehend über die gesamte Gasse. Der sonst düstere Gang scheint mir auf einmal so hell, selbst die kleinste Blume scheint von meiner heilenden Aktion zu profitieren. Ich mag es, eine derart starke Energie freizusetzen, denn sie erfüllt mich doch auch selber immer mit Wärme und Zuversicht. Ich kann den düsteren und doch sehnsüchtigen Blick dieses Psycho-Kätzchens nicht deuten und so halte ich den Atem an, registriere jede kleine Bewegung, jeden Augenaufschlag - Psiau scheint sich tatsächlich zu beruhigen und ich atme tief aus. Meine Heilwoge wirkt immer, nicht nur, dass sie mir verlorene Energie zurückgibt, sie belebt auch den Geist meines Gegners. Genau so, wie du es mir erklärt hast, geliebter Trainer.
Mir gingen die Ideen aus, dieses Pokémon zu vertreiben, denn ich hatte eigentlich alles versucht, was mir eingefallen war. Warum bleib sie einfach weiterhin wie angewurzelt stehen? Das machte doch gar keinen Sinn! Doch dann entließ das Trasla vor mir plötzlich eine Woge aus warmer Energie. Ich wollte zurückweichen, doch ich war zu langsam und wurde davon überrollt, wie von einer Meereswelle. Mein ganzer Körper entspannte sich und meine Wut schien plötzlich verflogen zu sein. Ich konnte nicht einmal mehr erklären, warum ich überhaupt so überreagiert hatte. Perplex stand ich da und blickte mein Gegenüber verständnislos an, als sich meine Atmung normalisierte und meine Muskeln nicht mehr schmerzten. Ich fühlte mich ausgeruht wie nach einem langen, erholsamen Schlaf - als hätte es den Kampf zuvor gar nicht gegeben. Als hätte ich nie eine Attacke eingesetzt.
Warum hatte sie das gemacht?
Psiaus Augen treffen meine, ich spüre, die Verwirrung, erkenne die Verwunderung und die Sehnsucht, die Frage, die ihm auf der Zunge brennt. Die alles entscheidende Frage, wieso ich nicht zurückgefeuert habe.
Da. Schritte hinter uns. Ein vertrauter Geruch
„Trasla? Da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht. Komm, wir gehen nach Hause!“
Mein Herz rast. Ich kann nicht anders, als den erstaunten Blick des Psiau zu ernten – eine Woge aus Mitleid erhascht mich – und dann renne ich auch schon los. Da bist du ja wieder. Mein geliebter Trainer.
Seit Jahren daran gedacht, seit Wochen geplant und nun realisiere ich es.
Heute ist es endlich so weit. Das ist mein Tag.
Abgenutzter, kalter Fliesenboden, flackernde Deckenlampen. Tapp, tapp, tapp – Schritte, wie ich sie hier das letzte Mal machen werde. Bekannte Türen, welche nun das letzte Mal von mir passiert werden. Beschmierte Wände, Müll und Dreck. Erinnerungen durchstreifen meine Gedanken und meine Wut brodelt wieder auf.
Ich umklammere es in meiner rechten Hand. Meine Waffe des Triumphes, meine Waffe der Rache. Die Zeit vergeht so langsam, während ich selbstbewusst wie niemals zuvor den leeren, trostlosen Flur entlanglaufe. Kinder sind unschuldig, Jugendliche grausam. All die Jahre, welche ich leiden musste, jeden Tag an diesen elenden Höllenort musste, damit sie mich niedermachten, mich bloßstellten, mich hassten. Durch ihr Verhalten hielt mich wenig am Leben – nur noch der Gedanke an Vergeltung. Doch heute ist endlich der Tag: der Tag an, dem das Opfer sich wehrt und die Macht ergreift.
Das Klopfen, ich spüre es deutlich. Mein Herz. Es fühlt sich an als würde es jeden Moment meine Brust sprengen. Da vorne ist sie. Mit braunen Backsteinen ummauert. Die braune, hölzerne Tür mit dem alten, vergilbten Schild, auf dem Raum 118 steht. Dumpfe Stimmen, Schreie, Gelächter. Eine Freistunde, wie auf dem Vertretungsplan angekündigt. Dienstag, vierte Stunde, ein typisches Gymnasium in Deutschland. Ein Tag, welcher in die Geschichte eingehen wird.
Erst jetzt merke ich, wie sehr ich zittere, diese Aufregung, Nervosität. Meine Rechte umklammert das Messer noch fester, mein Herz klopft ohrenbetäubend laut. Als würde ein Fremder mich steuern, wandert meine linke Hand zur Türklinke und drückt diese langsam runter. Durch einen leichten Tritt meiner Fußspitze schwingt die Tür langsam quietschend auf und mir wird der Blick auf die Subjekte meines Hasses gewahrt. Das Licht, welches von draußen aus den Fenstern den Klassenraum durchflutet, blendet mich. Keiner hat es bemerkt, das Messer, welches ich vorsichtig zu verbergen versuche. Wie gewohnt werde ich ignoriert. Sie reden nicht mit mir. Niemals. Außer um mich zu beleidigen.
Niklas steht mit dem Rücken zu mir und gestikuliert wild, wärend er aufgeregt etwas erzählt. Gelächter. Ihn lieben sie, ihn liebt jeder. Mir ist jedoch gerade alles egal, ich beachte nur das rhythmische Pulsieren in meinem Kopf. Plötzlich seelenruhig, atme ich tief ein und lasse die Luft langsam meine Lunge verlassen. Dann renne ich auf ihn zu und ramme es in seinen Rücken, zieh es raus und gleich ein weiteres Mal. Schreie klingen dumpf durch das Pochen in meinem Kopf. Andere schauen mich entsetzt an wärend er in einer Blutlache zusammen klappt.
Schlagartig drehe ich mich nach rechts und gehe auf sie zu. Ich wollte sie einst, hübsch wie sie ist mit ihrem blonden Haar, doch sie entgegnete mir nur Abscheu. Tränen in ihren angsterfüllten blauen Augen. Ich spüre sie, die Macht. Blitzschnell rast die Klinge auf sie zu, trifft ihren Hals und sorgt für einen roten Schleier, welcher mich trifft. Von hinten kommt wer auf mich zu, doch ich reagiere schnell und auch er liegt bald unten am Boden, im warmen roten Saft seiner Niederlage gebadet.
Noch Wenige sind im Raum, die Meisten entkommen, doch diese nicht. Wie sie in der Ecke kauern, schluchzend, zitternd. Sofort weiß ich, ich werde einen nach den anderen Leiden lassen, so wie sich mich leiden ließen, bis ich mir selbst die Gnade gebe. Jeder von ihnen ist schuldig – durch Blicke, Gesten, Worte oder einfaches Wegsehen. Sie alle haben es mehr als verdient.
Bedrohlich gehe ich auf Jan zu. Das schlimmste menschliche Wesen mit der größten Klappe. Zitternd starrt er mir in die Augen. „Du elender Wahnsinniger!“, klingt es links von mir. Lukas. „Du bist wertlos, ein Nichts! Du kleiner Lauch denkst du hättest eine Chance gegen mich?! Dich hätte es niemals geben sollen!“ Schlagartig spüre ich seine Faust in meiner Magengrube, krümme mich schmerzhaft zusammen. Doch dieses Gefühl hält kaum an. Den nächsten Angriff kontere ich und ramme meine Waffe tief in seinen Oberschenkel. Blut rinnt warm über meine Hand. Dieser verzweifelte Schrei gibt mir den finalen Kick.
Mein Blick trifft seinen und ich schaue tief in seine Augen. Sein Hass, seine Angst, seine Niederlage – jedes einzelne dieser Elemente bringt mir eine kribbelnde Gänsehaut. Noch immer mit festen Griff ziehe ich langsam das Messer aus der Wunde und betrachte die rot glitzernde Klinge. Einen kurzen Moment halte ich inne, um dieses Gefühl der Macht vollkommen auszukosten. Dann führe ich sie langsam zu seinen Hals. Sein Atem wird schnell und panisch, doch rasch verlässt auch ihn die Essenz des Lebens und er sackt zusammen, nachdem meine Waffe seine Kehle liebkoste.
„Es tut mir Leid! Es tut mir so schrecklich Leid! Bitte hör auf, Michael. Bitte!“, Jan schrie und schluchzte. All die Übrigen starrten ihn entsetzt an. Natürlich ist mir bewusst, das dies Lügen aus Verzweiflung und falscher Hoffnung waren. Automatisch, als wären sie ferngesteuert, machen meine Füße erste Schritte auf ihn zu. „Nein, bitte! Es tut mir Leid! Bitte tu es nicht!“ Reine Hysterie. Bei ihm lasse ich mir weniger Zeit als bei Lukas. Je näher ich ihm komme, desto verzweifelter klingt er. Wimmernd mit dem Rücken an die Wand gedrückt sitzt er da, als ich ihn für immer verstummen lasse.
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Ich mag solche Tage nicht. Ich hätte pünktlich zum Sonnenuntergang zu Hause sein können, aber dann wollten sie von der Seelsorge, von der Polizei, von den noch mehr oder weniger zurechnungsfähigen Lehrern, und wie sie alle heißen, mich noch gefühlt zwanzigmal anfassen. Als ich endlich vor der Haustüre stand, war es nun doch schon nach zehn Uhr nachts, und dann wollte verständlicherweise auch meine Mutter mich kaum loslassen. Ich hab ihr gerade so noch das Bett schmackhaft machen können. Endlich mal ein bisschen Ruhe...
Normalerweise würde ich nach so langen Tagen einfach die Glotze anschmeißen und mich von dem irgendwie unterhaltsamen Müll im Programm benebeln lassen. Heute ist ein anderer Tag, heute bin ich als Überlebender der grauenvollen Tat unfreiwillig ein Star und erzählen werden sie über uns alle sowieso nur wieder, was sie hören und glauben wollen. Keine Lust. Überhaupt hab ich im Moment absolut keine Lust mehr auf die Außenwelt, und der Fernseher macht nicht viel mehr oder weniger als einen einseitigen Kontakt zu ihr herzustellen. Und benebeln? Bleibt mir nur noch eine weitere Zigarette, und sie gehört der Luft meines Zimmers. Der blaue Dunst, da kommt Besinnlichkeit auf, da ist es wie Weihnachten im ganzen Jahr...
Und alles nur wegen Michael. Der Name eines Engels – eines gefallenen Engels. Und das wiederum nur unseretwegen, aber das will keiner wahr haben. Sehr wohl kann ich es noch verstehen für diejenigen, die Angehörige oder gute Freunde durch die Sauerei verloren haben ohne selbst was damit zu tun gehabt zu haben, denn die sind diejenigen, die Michaels jüngstes Gericht am härtesten bestraft – und äußerst unverhältnismäßig, denn seit wann sollten die einen für die Fehler anderer büßen? Unverhältnismäßig ist sicher auch der Blutrausch an sich... Ja, wir sind dem Klopfer nicht jederzeit mit Gegenliebe begegnet, aber Leute im Grunde genommen einfach nur für das Ausleben eines ganz miesen Humors umbringen? Man kann nervige Mücken auch mit Kriegspanzern erschlagen.
Wir sag ich, warum wir? Ich bin selber das, was man mehr oder weniger neutral als einen „schwierigen Menschen“ bezeichnen könnte, und damit es mir ja nie so erginge wie dem Micha, oder aber ich vielleicht selbst „dazu gehören“ könnte, hab ich mich irgendwann mal durchaus an den falschen Späßen beteiligt. Der tatsächliche Spaß daran allerdings, der wollte sich bei mir nie einstellen – wie können Menschen an sowas überhaupt Freude haben?? Auch war er nun wirklich nicht der größte Widerling, wenn man mal ganz normal mit ihm geredet hat.
Die Lust selbst dazu verging mir schlussendlich erst, als er in seiner aussichtslosen Lage grundsätzlich jeden für alles, was ihm passierte, wie ein Irrer anschrie, und auch wenn alles, was ich ihm konkret je getan hab, mit das Harmloseste war, so bin ich mir jetzt sicher, dass er auch diese Momente genauso wie den ganzen Rest nicht vergessen hat. Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wie er springen konnte, wenn er verärgert war! Da konnt ich auch kaum anders als ihn ach so liebevoll Michihasi zu nennen. Und die hässlichen Bilder dazu haben andere Idioten gemalt, von denen ich mir wünschte, jemand hätte ihnen mal die Löffel auf gleiche Länge gezogen. Nun ist's zu spät, die ganze Welt geht mit den armen Schweinen auf Kuschelkurs. Salz aus den Augen, kein Salz für die Wunden. Ich werd mir noch gut überlegen, ob ich jemals zu einem Klassentreffen gehen will später...
Ich hab vom Blutbad nur den ersten Akt gesehen, dann hab ich mich feige unter die fliehenden Klassenkameraden gemischt und war ebenfalls weg. Was hätte er mit mir gemacht, wenn ich nicht so glücklich an ihn vorbei gekommen wär? Es gab nur einen verschwindend kurzen Augenkontakt, und dieses ungeahnt fiese Funkeln verhieß mir nichts Gutes... Ja, ich bin ein Feigling und ein Mitläufer, aber wer würde sich denn anmaßen, etwas anderes zu erwarten und es zu meinen? Zivilcourage ist ein schönes Wort – sobald Leute aktiv bedroht werden, bleibt sie gern auch mal nur ein schönes Wort. Rette den eig'nen Arsch und sieh zu, dass du glücklich wirst. Ich weiß, was ich in meinen paar Jahren hier gesehen hab, und nichts und niemand auf der Welt kann mir mit seiner Propaganda was anderes weismachen.
Morgen ist erstmal schulfrei, vielleicht auch noch länger. Dazu noch diverse Schweigeminuten und Trauerfeiern. Davon eine schön offizielle mitten in unserer Sporthalle, und zu Besuch kommt Frau Merkel oder einer ihrer Knechte. Und für die Schüler wird's zur Pflichtveranstaltung, wenn dann der Amoklauf insgeheim für falsche Botschaften instrumentalisiert wird. Das Gift in unseren schwarzen Seelen, so tilg es denn mit neuem Gift, auf dass es Antworten finde, die gefallen... Und ich denk ja schon wie ein Poet. Auf jeden Fall weiß ich auch, was ich empfinde, und es wär mir lieber, niemand versuche mehr, gegen meine Überzeugung anzukämpfen, bis ich am Ende doch noch falsches Mitleid empfinde. Wie gesagt, ich will einfach nur Ruhe, und ich will ganz normal weiter leben.
Und Michael? Der Antiheld ist nun der größte Depp von allen. Der wichtigste Mord ist gescheitert, und zwar der an ihn selbst. Nun wird er für seine Rache zur Verantwortung gezogen. Sie werden ihn für ein paar Jahre wegsperren, eine Psychotherapie anfangen und eines schönen Tages kommt er wieder frei. Für manche, wenn nicht gleich für viele, wird die Strafe nicht hart genug sein. Diejenigen, die er auf dem Gewissen hat, kommen nie mehr zurück. Dafür gibt es keine Wiedergutmachung, und Genugtuung ist auch nur eine Illusion zum Trost. Die Wahrheit ist, die Morde werden im Gegensatz zu dem vergossenen Blutgemisch seiner Mitschüler für immer an ihm haften bleiben und Leute werden ihn danach beurteilen. Vielleicht wird er nicht gehenkt und muss auch nicht für den Rest seines Lebens Sklavenarbeit verrichten. Sie werden ihn nur rund um die Uhr beobachten und so wird er eines aller Gefängnisse nie verlassen. Es heißt: Michael Klopfer.
„Hach ja, ich liebe den Sommer! So schön warm, mit einem leichten Windhauch, der einem durch die Haare weht“, rief Jacob aus, während er sich streckte. Es waren gerade Sommerferien, 30°C und blauer Himmel, also hatten wir beide beschlossen nach Milwaukee zu fahren und das schöne Wetter zu genießen. „Naja, ich mag zugegebenermaßen den Frühling lieber, wenn die Blumen ihre Blüten öffnen und es nicht so gottverdammt heiß ist“, antwortete ich und wich mir den Schweiß von der Stirn. Jacob lachte ein wenig, aber dann blieb sein Blick in dem Schaufenster eines Elektrowaren-Geschäfts hängen, an dem wir gerade vorbeigingen. Darin waren mehrere Fernseher zu sehen, auf denen gerade Nachrichten gezeigt wurden. „He Michael, schau mal“, meinte Jacob beunruhigt „sie geben Tornado-Warnungen für die nähere Umgebung durch!“ „Na und?“, entgegnete ich „ ist doch normal um diese Zeit.“ „Ja, da hast du wohl Recht“, Jacob schien noch immer beunruhigt, aber ich wollte es dabei belassen um ihm nicht aus Versehen noch mehr Sorgen zu machen.
Wir blieben noch ein wenig in der Stadt, entschieden uns dann aber auch schnell nach Hause zu fahren. „Verdammt!“, meinte Jacob auf einmal, als wir gerade zum Bahnhof gingen und ordnete seine Haare, die durch den Wind durcheinander kamen. „Ich habe eben mit meinen Eltern geschrieben, sie sind noch nicht daheim und ich habe keinen Schlüssel mitgenommen.“ „Ist doch kein Problem, du kannst ruhig noch etwas zu mir gehen, bis deine Eltern heim kommen“ antwortete ich, was ihn sichtlich erfreute.
Als der Zug im Bahnhof meines Heimatortes anhielt war es kurz nach 18 Uhr, die Sonne begann schon hinter dem Horizont zu verschwinden und immer mehr Wolken bildeten sich. Ich wohnte etwas weiter auf dem Land, weshalb wir noch einige Minuten zu Fuß gehen mussten, bis wir da wären. Mitten auf dem Weg wurde der Wind immer stärker, Jacob wurde wieder beunruhigt, sogar deutlich stärker, als zuvor in der Stadt. Ich wollte ihm gerade sagen, dass er sich keine Sorgen machen muss, als sein Blick an einem Punkt im Westen hängen blieb. „D-da…“, stotterte er nur. Als ich auch nach Westen sah erkannte ich, was ihm solche Angst bereitete: Nur circa 5 Kilometer von uns entfernt entstand gerade ein Tornado! „Ach du heilige…“ war das einzige was ich hervorbrachte und Jacob schrie panisch: „Ich wusste es, ich wusste es, verdammt ich wusste es!“ Ich versuchte Ruhe zu bewahren und Jacob Sicherheit zuzusprechen, doch ich fand einfach nicht die richtigen Worte. „Mach dir keine Sorgen, der Tornado ist noch so weit weg“, wandte ich mich zu ihm hin „und außerdem...haben wir doch schon mehrere Tornados gesehen.“ Der letzte Teil stimmte nicht einmal, aber er wurde auch vom starken Wind, der uns um die Ohren brauste verschluckt, was mich ein wenig freute. „Lass uns jetzt erstmal zu mir nach Hause gehen, wir haben einen Tornado-Schutzkeller!“ Kaum hatte ich das gesagt fiel mir etwas auf und auch Jacob schien es bemerkt zu haben. „D-du sag mal“, stotterte er leicht „ bewegt sich der Tornado nicht direkt auf euer Haus zu?“
„Verdammt, meine Eltern! Schnell, beeilen wir uns“ stieß ich aus und begann zusammen mit Jacob loszulaufen. Es war noch ein knapper Kilometer bis zu unserem Haus, bis zur Sicherheit. Während wir rannten behielten wir den Tornado immer im Blick, er hatte einen weiteren Weg als wir, war aber deutlich schneller. Doch die Angst und der Rückenwind gaben uns Kraft. Auf dem Weg verschwand der Wirbelsturm hinter ein paar Baumkronen aus unserem Blickfeld, lediglich der starke ohrenbetäubende Wind zeigte uns, dass er noch da war. Als wir schließlich an den Bäumen vorbeigerannt waren und um eine Ecke bogen keimte Hoffnung in uns auf, mein Zuhause war nur noch wenige Meter entfernt. Doch diese Hoffnung wurde direkt zerstört, als ich wieder in Richtung Tornado schaute: Er war direkt vor uns, vielleicht 100 oder 200 Meter entfernt. Ich konnte spüren wie der Wind mich zu ihm zog. Die Angst war so groß, dass ich langsamer wurde, fast stehenblieb, als ich plötzlich eine Stimme nach mir rufen hörte. „MICHAEL!“, schrie jemand aus der Richtung des Hauses und als ich hinsah konnte ich erkennen, dass es meine Mutter war, die zu mir rief. Sie befand sich schon, zusammen mit meinem Vater und einigen Nachbarn im Schutzraum unter der Erde und hatte die Luke ein wenig geöffnet. „Mama…“, flüsterte ich und es begann wieder Hoffnung in mir aufzukommen. „Was machst du denn?!“, schrie Jacob, der mittlerweile einige Meter vor mir stand. „Los beeil dich, wir sind fast da!“ „Ja!“ rief ich und begann weiterzulaufen, den Blick immer auf die rettende Luke gerichtet. Doch es fiel mir deutlich schwerer als zuvor. Der Wind des immer näher kommenden Tornados, der mich nach jedem Schritt stärker zu sich zog als zuvor und die Erschöpfung durch den bereits zurückgelegten Weg machten es mir immer schwerer. Auch Jacob schien diese Probleme zu haben, kam immer langsamer voran. Ich schaute einen Moment in Richtung des Tornados und versteinerte. Er war erneut näher und deutlich größer als noch vor wenigen Sekunden. Die Angst lähmte mich, Tränen brachen aus meinen Augen und ich sank zusammen, sämtliche Hoffnung verloren.
„Verdammt was ist los mit dir?!“, schrie mir Jacob ins Ohr, griff meinen Arm und zog mich hoch. „Wir haben keine Zeit für diesen Schwachsinn!“ Er rannte los und zog meinen schlaffen Körper hinter sich her. Langsam begann ich meine Beine wieder zu bewegen, lief langsam weiter in Richtung des rettenden Kellers. Ich schaute erneut zur Luke, sie war noch geöffnet. Als ich genauer hinsah sah ich meine Mutter und meinen Vater, wie sie lauthals mit den Nachbarn stritten. Das Rauschen des Windes verhinderte, dass ich sie verstehen konnte, ich hörte nur einen einzigen Satz: „Wir haben keine Zeit mehr, wir müssen sie schließen!!“ Erneut spürte ich, wie mir Tränen in die Augen schossen. „Nein…“, flüsterte ich „lasst sie offen.“ Meine Worte waren kaum mehr ein Husten. Ich nahm nochmal alle Kraft, alle Hoffnung zusammen, sprintete los und schrie „LASST SIE OFFEN!“ Ich spürte nur noch den harten Holzboden unter mir und Jacobs Hand um meinen Arm, hörte den Tornado über uns hinweg stürmen, bevor mir schwarz vor Augen wurde.
"... war kein Kind mehr. Und es war Sommer.", sang meine Ehefrau, Sandra, während sie in der Küche den Abwasch machte. Wir befanden uns im schönen Sommer, es war großartiges Wetter und mittlerweile war es schon der fünfzigste Sommer, welchen ich erlebe. Zusammen mit meiner Frau zeugte ich im Sommer, vor 18 Jahren, einen Jungen, Michael, er war zusammen mit seinem Freund, Jacob, unterwegs. "Sturmwarnungen für das ganze Gebiet. Bitte, begeben Sie sich zu einem sicheren Ort und bewahren Sie Ruhe!", sprach die Nachrichtensprecherin im Fernsehen. "Du, Sandra?", rief ich sofort zu meiner Frau. "Ja, was denn?", kam kurzerhand zurück woraufhin ich sie ein wenig entgeistert anschaute. "Hast du das gerade nicht mitbekommen?", fragte ich sie empört und stand bedrückt von meinem Sessel auf.
Sie schaute mich nur verwundert an und hatte ein dezentes Lächeln aufgesetzt. Sie dachte wohl, ich wolle jetzt einen Scherz machen, aber nein, das will ich nicht! "Eine kurzfristige Tornado-Warnung wurde gerade im Fernsehen ausgesprochen. Wir sollen uns an einen sicheren Ort begeben und das schnell!", schrie ich ihr fast schon ins Gesicht aber es war wichtig, dass sie es nicht für einen Scherz halten würde, denn ich kannte meine Frau: Sie konnte des Öfteren nicht die Realität von Scherzen unterscheiden. "W-Was?", fragte sie entgeistert. "Sa-Sag mir, dass das ein schlechter Scherz war.", flüsterte sie und blickte mich, immer noch mit diesem entgeisterten Blick, an. Ich schüttelte daraufhin nur den Kopf. "Nein, Thomas, d-das kann nicht sein.", murmelte sie vor sich hin und war Nahe eines Zusammenbruchs. "MICHAEL, er ist noch draußen!", fügte sie besorgt hinzu. *DingDong* Plötzlich ertönte die Hausklingel und sowohl meine Frau als auch ich schreckten just in diesem Moment auf.
Sofort stürmten wir zu der Tür, in der Hoffnung, dass es sich hierbei um Michael handelte, was aber nicht der Fall war. Terrence, einer unserer Nachbarn, befand sich zusammen mit Frau und Kind vor der Tür. Der Tornado würde immer näher kommen. "Worauf wartet ihr beide denn? Die ganze Nachbarschaft hat sich versammelt, um euch zu eurem Bunker zu begleiten. Ihr habt doch einen für den Fall der Fälle angelegt, so hieß es jedenfalls, oder täusche ich mich da?", fiel er sofort mit der Tür ins Haus und wollte eigentlich nur das Eine von uns und zwar den Zugang zu unserem Bunker. Er und die gesamte Nachbarschaft, blickten uns verängstigt und unsicher an. Sie wollten alle nur in Sicherheit und nun war es auch ich, der meine Frau anschaute, um ihr Einverständnis zu bekommen.
"Nein, nicht.. nicht ohne meinen Sohn!", gab sie verzweifelt von sich und wollte nach draußen rennen, wovon ich sie aber abhielt, weil es einfach zu gefährlich war. Ich hielt sie fest und schaute ihr direkt in die Augen, mittlerweile haben sich schon Tränen in ihren Augen gesammelt. "Sandra, Michael ist ein schlauer Junge, er weiß, was er zu tun hat. Er wird so schnell es geht, hier auftauchen und das vollkommen unbeschädigt, schließlich ist Jacob auch bei ihm. Aber du musst bedenken: Er würde wollen, dass wir uns in Sicherheit bringen und nicht dieses Risiko eingehen, oder denkst du nicht?", versuchte ich sie zur Vernunft zu bringen. Natürlich wollte auch ich nichts mehr als meinen Sohn suchen aber bei dem Sturm wäre das reiner Selbstmord und das hätte ihr jeder andere auch gesagt. Schließlich kam sie zur Vernunft und zur "Freude" aller, machten wir uns auf den Weg zu unserem Bunker. Schnell bemerkten wir, dass der Tornado direkt auf unser Haus zuraste, weswegen wir nur noch einen Ticken schneller gingen.
Am Bunker kamen wir schließlich an und ohne zu zögern, wurde die Luke geöffnet. Alle stiegen langsam hinein, Terrence blieb noch kurz mit uns draußen, ging dann aber auch langsam hinein. Ich stieg als Nächster rein und sah meine Frau noch draußen stehen. "Sandr-", plötzlich wurde ich durch ihren Schrei unterbrochen. "MICHAEL!", schrie sie laut und blickte in Richtung des Tornados. Tatsächlich waren dort Michael und Jacob! Hoffnung machte sich kurzerhand in mir breit, als ich die beiden Jungs angerannt sah. Plötzlich stürzte Michael! "Verdammt, was ist los mit dir?", hörten wir Jacob schreien, bevor dieser Michael am Arm packte und schließlich mit sich zog.
Just in diesem Moment wollte Terrence die Luke schließen, woraufhin Sandra sofort zur Hilfe eilte. "Du lässt die Luke verdammt nochmal offen, auch wenn der Tornado uns alle tötet, ohne meinen Sohn, wird diese Luke nicht geschlossen, hast du mich verstanden?!", schrie sie Terrence mit allen Emotionen und Gefühlen, welche sich in ihr gebildet hatten an und befahl ihm zurück in den Bunker zu verschwinden. "Und lass dich bloß nicht mehr blicken!", schrie sie ihm noch hinterher und erneut war ich begeistert, wie viel Kraft doch noch in meiner Frau steckte. Nun aber stieg Sandra zu mir herab und wir hörten nur noch ein lauten Schrei: "LASST SIE OFFEN!" Und genau in diesem Moment flogen Jacob und Michael in den Bunker hinein und ebenso flog die Luke zu! Überglücklich und mit Tränen überhäuft, hielten wir unseren Sohn in unseren Armen und hörten den Tornado über uns hinweg ziehen. Dass ein normaler Sommertag zu so einem Abenteuer werden würde, damit hätte niemand jemals gerechnet. Alle hatten es wohl überstanden, Gott sei es gedankt!
Das Knacken eines Astes veranlasste Kian dazu, sich umzudrehen und was er entdeckte, hätte ihn nicht noch mehr aus der Fassung bringen können. Mit einem vorsichtigen "Woah!" und nach vorne ausgestreckten Handflächen ging er ein paar Schritte zurück in Richtung seines flugunfähigen Raumgleiters. Er wollte lieber so nah wie möglich an seiner Waffe sein, wenn das... Wesen vor ihm keine friedlichen Absichten hegte.
"Mein Name ist Major Kian Faulkner von den Vereinigten Streitkräften der Erde. Ich komme in friedlicher Absicht. Die Energiezelle meines Raumgleiters ist überhitzt und ich muss hier warten, bis ein Techniker kommt und sie auswechselt. Solange bin ich auf diesem Planeten gestrandet," versuchte er mit ruhiger Stimme seine Situation zu erklären.
Es schien nicht so, als ob der Fremde seine Worte verstanden hätte. Kian konnte auch nicht deuten, ob er nur abwarten wollte, oder jeden Moment angreifen würde. Ungefährlich sah er jedenfalls nicht aus mit seiner Lederbekleidung, den Fellverzierungen, der Halskette aus Knochen und den spitzen Zähnen. Seit Entdeckung der Hyperraumreisen war Kian schon auf vielen Planeten gewesen, um Technologien zur Verteidigung der Erde zu finden, aber auf eine Rasse, wie diese war er noch nie getroffen. Scheinbar war die Spezies bei weitem nicht auf dem selben Entwicklungsstand wie die Menschen, aber immerhin nutzten sie Werkzeuge und - angesichts der Art von Speer in der Hand des Außerirdischen - Waffen.
Noch einmal versuchte Kian Kontakt aufzunehmen. Dieses Mal auf eine einfachere Art und Weise. "Ki-an," sagte er und tippte sich auf die Brust. Dann zeigte er auf seinen Gegenüber. "Du?"
***
Er hatte ja schon vieles erlebt und über ein langweiliges Leben konnte er sich wirklich nicht beschweren. Aber das hier… Das war ungewöhnlich. Erst griff ein Thra’qu das Dorf an und nun fiel auch noch ein… Ja, was war es eigentlich? Grau wie es war, ähnelte es einem großen Stein, aber so, wie es glänzte, erinnerte es eher an Tierhaut. Sowas hatte Neej noch nie gesehen und umso erstaunter war er gewesen, als sich dieser Klotz, der da vom Himmel gefallen war, auch noch öffnete und jemanden ausspuckte.
Dieser Jemand sah ein bisschen aus wie Neej, nur war seine Haut weich und milchig, während Neejs Stamm dunkelgrüne, harte Haut besaß. Auf dem Kopf hatte das Wesen eine Art Fell, aber um vor Kälte zu schützen, war es viel zu kurz und auch auf den Teilen des Körpers, die nicht von seiner merkwürdigen Kleidung bedeckt wurden, wuchsen keine oder nur ganz wenige Haare. Dass ein solches Wesen länger als ein paar Tage in der Wildnis überleben konnte, schien unwahrscheinlich. Wobei Neej zugeben musste, dass die komischen Stoffe, die es trug, bestimmt gut warmhielten.
Aber was machte es hier? War sein Dorf auch von dem Thra’qu angegriffen worden, jagte es ihn auch? Wieso setzte es sich dann unbewaffnet in einen Stein und ließ sich dann vom Himmel fallen? Dass man in einem Wald so keinen Thra’qu erlegen konnte, hätte ihm doch von Anfang an klar sein müssen. Oder war er nur aus Versehen hier gelandet? Hatte ihn sein Dorfältester verbannt? Was wäre denn das für eine Bestrafung, einen Abtrünnigen in einen ausgehöhlten Felsen setzen, um den dann möglichst weit weg zu schmeißen…
Nun fing das Wesen auch noch an zu reden. Oder zumindest sah es so aus… Sein Mund öffnete und schloss sich, aber etwas Verständliches war nicht zu hören. Irgendetwas von wegen Kyann und Planeh’dem. Freund und ungenießbar? Lecker sah er wirklich nicht aus und feindlich gesinnt schien er auch nicht zu sein. Also tat Neej, was man höflicherweise tat, er blieb reglos stehen und wartete auf das, was sein Gegenüber als nächstes tat.
„Kyann,“ sagte der andere, während er auf sich selbst zeigte. „Du?“ Ob es Gefahren gab? Natürlich. Und weil der Freund bisher so nett gewesen war, erklärte Neej ihm alles, was er über den Thra’qu wusste.
Das merkwürdige Geschöpf schien es wohl nicht verstanden zu haben, es kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief.
Ein bisschen schien es ja immerhin sprechen zu können, aber mehr als unverknüpfte Worte hatte es bisher nicht hervorgebracht. Es war wohl besser, in möglichst einfachen Worten mit ihm zu reden.
„Thra’qu!“
***
"Was soll das bedeuten? Ich kann dich nicht verstehen." Eigentlich war es sinnlos, das Kian weiterhin versuchte mit dem Fremden zu reden. Es klang wie ein Schwall an Worten, aber keines davon hatte Ähnlichkeit mit einer Kian bekannten Sprache. "Thraku... Ist das dein Name?" Er beobachtete, ob auf dieses Wort eine Reaktion folgte. Der Einfachheit halber beschloss er, dass er den Bewohner des Planeten Thraku nennen würde - egal, ob es sein Name war, oder nicht.
Immer wieder schüttelte Thraku seinen Speer und deutete damit auf Kian. Zwar zeigte er keine Anzeichen dafür, dass er angreifen wollte, aber dennoch beschloss der Major, vorsichtig zu sein.
Langsam ging er herüber zu seiner Tasche und holte zwei Proteinriegel heraus. "Hast du Hunger? Essen?" Er warf einen der Riegel zu Thraku, öffnete die Verpackung des anderen und biss demonstrativ ein Stück davon ab. "Hmm! Lecker!" Kian lächelte und rieb sich den Bauch. Keine Reaktion. Wahrscheinlich hätte er selbst auch nicht gehandelt, wenn ihm ein Fremder etwas zu essen angeboten hätte.
Nach einer kurzen Zeit des Wartens setzte er sich schließlich auf den Boden. Direkt neben seine Tasche. Hier fühlte er sich sicher, schließlich hatte er so seine Pistole in Griffweite. Ein letztes mal beschloss er zu versuchen, Thraku seine Situation zu erklären. Er zeigte auf seinen Gleiter, flatterte mit den Armen wie ein Vogel und schlug mit einer Faust auf die Erde. "Kaputt, verstehst du?"
Offensichtlich nicht. Der Außerirdische legte nur seinen Kopf schief und schaute ihn fragend an.
***
Warum redete dieses Wesen so viel? Neej schüttelte seinen Speer doch schon minutenlang, warum hörte Kyann, der Freund, nicht einfach auf? Wer seine Waffe schüttelte, gab seinem Gegenüber unmissverständlich zu verstehen, dass er besser ruhig sein sollte. Diese Geste verstand man über die Stammesgrenzen hinweg. Wobei dieses merkwürdige Geschöpf sehr eigen war… Gerade erst hatte es auf seinen Felsen gedeutet, mit dem, was wohl seine Arme waren, gewedelt und dann ein paar Male auf den Boden geklopft, als ob er den Thra’qu anlocken wollte.
Immer wieder wanderte Neejs Blick zum Waldrand. Wenn der Thra’qu dort auftauchte, hätte Kyann keine Chance, sich zu verteidigen. Unbewaffnet war er sowieso schon, aber er versteckte sich auch noch hinter seinem Stein und konnte überhaupt nicht sehen, wann der Feind auftauchte. Stattdessen holte er zwei glänzende Stangen aus dem Lederbeutel neben ihm, der Neej bis dahin noch gar nicht aufgefallen war. Eine von beiden warf er dem Jäger zu, an der anderen zerrte er ein bisschen, bis sie auf einmal gar nicht mehr glänzend war, sagte etwas Unverständliches, biss von ihr ab und rieb sich den Bauch. Neej fragte ihn, warum er aß, wenn er doch Bauchschmerzen hatte, aber er reagierte nicht und aß weiter seine Stange.
Komisches Wesen.
***
Warum sah Thraku eigentlich die ganze Zeit über so gehetzt aus? Er setzte sich nicht hin, schüttelte immer noch ständig seine Waffe und rief unverständliche Worte. Kian konnte sich keinen Reim auf dieses Verhalten seines Gegenübers machen. Wenn er doch nur Thrakus Sprache verstehen könnte. Dann wüsste er zumindest, ob die Möglichkeit bestand, als Mahlzeit eines Außerirdischen zu enden. Vielleicht mochten die Bewohner dieses Planeten Menschenfleisch lieber als Proteinriegel.
Plötzlich kam Bewegung in die Situation. Thraku senkte den Speer und bewegte sich langsam auf Kian zu. Was hatte das zu bedeuten? War das ein Angriff? Unschlüssig darüber, wie er sich verhalten sollte, kam Kian wieder auf die Beine. Seine Waffe! Aber natürlich - Kian brauchte seine Pistole. Ein paar Kugeln würden sicherlich auch die echsenähnliche Haut Thrakus durchdringen und ihn aufhalten. Als er jedoch nach seiner Tasche griff, wurde diese vom Speer des Außerirdischen durchbohrt. Thraku knurrte leise und machte eine Geste, die etwas wie "Bleib unten!" bedeuten könnte, vielleicht aber auch "Ich werde dich zerquetschen!" - wer konnte das schon so genau sagen? Jedoch bemerkte Kian, dass Thrakus Blick eher auf den Wald hinter Kian gerichtet zu sein schien, als auf ihn selbst. Und das Geräusch, das Thraku als nächstes machte, hatte wohl auf sämtlichen Planeten die selbe Bedeutung. "Shh!" bedeutet "Klappe halten!" Wahrscheinlich würde es am besten sein, dieser Anweisung Folge zu leisten.
Ein lautes Rascheln, als würde jemand durchs Unterholz schleichen, ließ Kian schließlich herumfahren und vor Schreck erstarren.
***
Da war er. Er hatte ihn gesehen, hinten, im Unterholz. Er hatte nur ganz kurz seinen Kopf vorgestreckt, doch er hatte sie gesehen, die gelben Zahnreihen, die vielen roten, grünen und gelben Federn. Der Thra’qu war da.
Neej ging in die Hocke und bewegte sich vorsichtig auf den Waldrand zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Kyann nach seiner Ledertasche griff. Reflexartig rammte Neej seinen Speer in selbige. Nicht, dass sein neuer Freund, durchgedreht, wie er war, etwas Dummes tat.
Der war wohl überrascht, jedenfalls zuckte er zurück.
Plötzlich tauchte der Kopf des Thra’qu wieder über dem Gebüsch auf, doch dieses Mal waren seine runden, roten Augen direkt auf Neej gerichtet.
Der Jäger knurrte, gab ein kurzes „Shh!“ von sich, kündigte dem Kriechtier im Wald an, dass er es nun töten würde.
In einer einzigen flüssigen Bewegung zog Neej seine Waffe aus dem Boden und rannte auf den Thra’qu zu. Er holte aus, zielte auf den widerlichen Kopf und warf seinen Speer. Surrend flog dieser auf das Tier zu, doch im letzten Moment duckte dieses sich und verschwand im Dickicht.
Plötzlich raschelte es hinter Neej. Instinktiv drehte er sich um und hob noch während der Drehung seinen Speer auf. Doch das konnte ihn auch nicht mehr retten. Direkt vor seinem Gesicht war das weit geöffnete, reißzahnbesetzte Maul des Thra’qu. Wenn er jetzt nicht reagieren würde, schoss es Neej durch den Kopf, war es das mit ihm. Also ließ er sich nach links fallen. Zwar konnte er so nicht verhindern, dass er verletzt wurde, aber zumindest bohrten sich die nach fauligem Fleisch stinkenden Zähne nicht in seinen Kopf, sondern in seine Schulter, was Neej genug Zeit verschaffte, um seinen Speer direkt in den Schädel des Thra’qu zu stoßen.
Der Jäger hatte, was er wollte, doch das Blut floss unaufhaltsam aus seiner Wunde und er sackte zu Boden.
***
Angewidert schaute Kian herab auf den Leichnam des Wesens, das noch vor wenigen Augenblicken versucht hatte, ihn zu töten. Der massige, schlangenartige Körper, die Federn an dem Ende, das offenbar den Kopf darstellte und die Zähne... Viele Reihen spitzer, gelber Zähne. Wäre Thraku nicht gewesen, wäre Kians Leben sicherlich Geschichte. Thraku! Hektisch lief der Major zu seinem Retter und kniete neben ihm nieder. Der Außerirdische blutete aus einer Wunde an der Schulter, schien aber sonst in Ordnung zu sein.
"Du hast mir das Leben gerettet! Und ich hätte dich beinahe erschossen. Ich weiß, dass du mich nicht verstehst, aber trotzdem will ich dir sagen, dass ich tief in deiner Schuld stehe!" Kian stützte Thraku und half ihm wieder auf die Beine. "Komm schon, Großer. Zeit zum Aufstehen."
Thraku deutete nach oben, schien seinen Speer zu suchen und stieß einen erstaunten Ruf aus. Kian folgte seinem Blick und entdeckte ein Transportschiff, das sich langsam senkte, bevor es über dem Waldstück zu kreisen begann. "Keine Angst!," versuchte er den Außerirdischen zu besänftigen und unterstützte dies mit Gesten. "Das sind meine Freunde. Sie kommen, um meinen Gleiter zu reparieren."
Kian ging herüber zu seiner Tasche und schaltete den Sender ein, mit dem seine Position geortet werden konnte. "Wird wohl langsam Zeit, sich zu verabschieden, nicht wahr, mein Großer? Es sei denn, du willst hier bleiben und 'Hi' sagen."
Thraku, der mittlerweile seinen Speer aufgehoben hatte, schien aber kein Interesse daran zu haben, noch mehr Menschen zu sehen und bewegte sich in Richtung Wald. "Mach's gut, Thraku!," rief Kian ihm hinterher.
***
Ein letztes Mal drehte Neej sich um und schüttelte leicht lächelnd den Kopf. Der Freund schien einfach nicht genug von dem Thra'qu zu bekommen. Vielleicht half es, ihm etwas zu sagen, das er zu verstehen schien. "Kyann!," sagte Neej, tippte sich selbst auf die Brust und deutete dann auf den anderen. "Du?"
Nun endlich war die vollkommene, die ruhige Dunkelheit der Nacht eingekehrt, tauchte ein jedes Lebewesen in Schatten und segnete sie mit einem traumlosen Schlaf. Langsam und bedacht, weder zierliches Tier noch schlafenden Mensch zu wecken, begab sich die schöne Frau, welche man mit Worten gar nicht in der Lage war zu beschreiben, auf ein grasgrünes, kleines Feld inmitten eines Waldes, welches jedoch bald im Begriff war, zerstört zu werden. Aufgrund des asphaltigen Weges, welcher sich bereits jetzt, im Dasein der schönen Frau, durch den Wald schlängelte wie die paradiesische Schlange persönlich. Himmlisch für die Menschen, und doch Sünde für ihr Leben. Sünde, denn die Frau, deren silbergraue Haare im Mondlicht beeindruckend und doch auf gespenstische Weise durch den leichten Wind wehten, wusste, dass es der Natur nicht gut tat. Eine Träne. Still. Leise. So still und leise wie die Zerstörung, die die Menschen anrichteten, jeden Tag. Leise und doch unaufhaltsam.
Die Träne schlich sich die bleiche Wange der Frau hinab, hinterließ ein dünnes, durchscheinendes Rinnsal und tropfte zu Boden. Morgen schon würde an der Stelle eine Magnolie wachsen und ihre Blüten gen Sonnenlicht recken, verzweifelt bemüht, saubere Luft erreichen zu können. Doch sie würde nicht lange genug existieren, um saubere Luft überhaupt wahrzunehmen.
Sie würden letztlich alles Schöne zerstören. Angefangen bei der Magnolie, bis hin zu letztlich sich selbst. War es ihre gerechte Strafe? Die Frau ging weiter.
Sie betrat mit ihren nackten Füßen den Asphalt, das Künstliche. Ein Kälteschauer durchfuhr sie wie ein Blitz, doch ein Blitz erschien ihr weniger erbarmungslos. Weniger schrecklich.
Sie fühlte, wie die kleinen Graskeime unter dem Asphalt verzweifelt um Hilfe schrien, spürte, wie ihre eigenen Venen aufgrund dieser Verzweiflung brannten vor Wut und Trauer. Die wunderschöne Frau betrachtete mit glänzenden, blauen Augen den kreisrunden Mond. Nur er schien noch so zu sein wie vorherbestimmt. Letztlich war alles ihre eigene Schuld gewesen. Mit ihr hatte es angefangen, mit ihr würde es enden. Sie ging weiter, aber auf dem frisch duftenden Rasen. Das Geschrei ihrer Kinder ertrug sie nicht länger, auch wenn es allgegenwärtig war.
Sie ließ den Blick schweifen auf die Spiegelung des Mondes auf einem nahegelegenen See. Hier wirkte die Welt auf den ersten Blick in Ordnung - friedlich und ruhig. Doch auch hier konnte sie die Ausmaßen von dem erkennen, was letztlich auf sie zurückzuführen war - Dosen, Bierflaschen, Papier. Das Wasser verschmutzt von vielzelligen Algen, welche dem Wasser den gesamten Sauerstoff entzogen. Was war aus dieser Welt geworden? Wieso kümmerten sich die Menschen nicht um sie, beschmutzten stattdessen ihren eigenen Lebensraum?
Mittlerweise stand die schöne Frau bereits nahe dem Wasser. Es umspielte spielerisch ihre Knöchel, kühlte sie ab, denn das Wasser war kalt. Aber angenehm kalt. Nicht so voller kaltem Hass wie der Asphalt. Nein, diese Kälte war natürlich. Eine weitere Träne rollte die Wange der Frau hinab und tropfte in den See, wo sogleich eine Seerose entstand. So schön auch ihre roséfarbene Färbung im Mondschein das Wasser lebendiger wirken ließ, so fraßen die Algen das schöne Geschenk beinahe von Innen heraus auf. Sie existierte weniger als zehn Minuten. Alles Schöne hatte keinen Wert mehr. Nicht in dieser Welt.
Erneut blickte die Frau hinauf in des Mondes hellen Schein. Nachts war es gütiger als am Tag. Tagsüber war es scheußlich, unerträglich für die Frau. Sie betrachtete den wolkenlosen, sternenklaren Himmel, während sie in die Mitte des Sees schritt. Das Wasser hatte seit jeher eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Seine Strömung nahm die Frau in seinen Bann. Als sie endlich in der Mitte des Sees angekommen war, schloss sie die Augen, sodass ihre Wimpernkränze, die aufgrund vieler Tränen glitzerten, tiefe Schatten auf ihre Wangenknochen zeichneten. Die Frau streckte beinahe wehmütig die Arme aus, sodass sich die Kinder des Sees schnell wieder mit diesem vereinten. So würde es immer sein. Irgendwann würde sich alles vereinen. Sie hoffte, dass sie dies noch erleben durfte, doch sie war zurecht skeptisch in Anbetracht der Tatsache, was die Menschen da mit ihr machten.
Eine weitere Träne, und dann tauchte sie hinab. Das Wasser umgab sie vollends. Sie tauchte diese Nacht nicht mehr auf. Das einzige, was man an dem See noch wahrnehmen konnte, war eine große, prächtige, weiße Seerose, die bis zum Morgengrauen und darüber hinaus existierte. Und das Wasser, welches sich im gütigen Schein des Mondes noch minutenlang kräuselte, bis auch dieses Naturphänomen zum Erliegen kam.
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Schneller, immer schneller. Der Motor war heiß, die Jagd nach der Geschwindigkeit hatte begonnen. Der Fahrer des schwarz-lackierten Sportwagens hatte lediglich ein Ziel: Kein Tempo auf dem glühenden Asphalt verlieren! Um dieses Ziel zu erreichen, hatte der junge Mann am Steuer sich eben diesen Sportwagen erst einen Monat zuvor gekauft. Und dennoch – er war eigentlich nicht zufrieden, hätte das Fahrzeug am Liebsten direkt durch ein neues, noch schnelleres Modell ausgetauscht, was für ihn finanziell aber nicht machbar gewesen wäre.
Seine tief bräunlich schimmernden Augen fokussierten den Horizont. Die breite Straße in Mitten eines dichten Waldes endete an einem kleinen See, welcher gerade im Sommer des Öfteren für Partys verwendet wurde.
Die Temperaturen stiegen. Seine Polyester-Jacke hatte der junge Mann bereits seiner Begleiterin auf den Schoß gelegt. Diese hatte eine leere Bierflasche auf dem Boden des Wagens entdeckt und sie aus dem offenen Fenster geworfen. Anschließend lehnte sie sich zurück und schloss ihre Augen.
Der Mann zog seine, von einem Drei-Tage-Bart umgebenen, Mundwinkel leicht nach oben und versprach: „Da werden heute wohl noch einige folgen“. Er lächelte, versuchte seine Begleiterin zu beeindrucken. Den Tag zuvor hatte er ihr einen unvergesslichen Abend versprochen, was sie zunächst nicht glauben wollte. Für sie wäre es eine Party wie jede andere auch gewesen.
Kurze Zeit später erreichten sie den See. Den Sportwagen hatte der Mann etwas abgelegen vom Wasser, auf einem asphaltierten Platz neben der Straße, abgestellt.
Gemeinsam liefen die beiden auf dem festen Sand, der das grünliche Gewässer umgab. Noch war es früh, zu früh. Die Party hätte erst am Abend stattgefunden, sodass die beiden noch Zeit für sich alleine hatten. Entspannt setzten sie sich in den Sand und betrachteten den See. In ihrer Leder-Handtasche suchte die junge Frau nach einer Sonnenbrille und setzte sich diese nach erfolgreicher Suche auf ihre Nase. Die weißen Träger aus Kunststoff verschwanden jedoch direkt hinter ihrem blond-gefärbten Haar. Sie senkte den Kopf, blickte in Richtung Boden. Neben ihrer linken Hand, mit welcher sie sich vom Untergrund abstützte, befand sich eine zerdrückte Plastikdose. Es war bei Weitem nicht die einzige Dose am gesamten Strand, doch es war die einzige, die der Frau aufgefallen war.
„Hier wird es auch immer verdreckter“, bemerkte sie. „Eigentlich müssten wir uns auch mal wieder nach einem neuen Platz zum Feiern umsehen“.
Nun war auch dem Mann die Dose aufgefallen. Unruhig beobachtete er sie, schien fast darauf zu warten, dass begonnen hätte, sich zu bewegen. Doch vermutlich hätte er auch einer solchen Aktion relativ gleichgültig gegenübergestanden. Er hatte die Worte seiner Freundin wahrgenommen und schien sich darüber Gedanken gemacht zu haben. Hätten sich die beiden sowie viele andere junge Menschen in der Umgebung einen neuen Platz zum Feiern suchen müssen? Entschlossen beugte er sich vor, lehnte sich anschließend an seine Freundin, um schließlich mit seiner rechten Hand nach der Dose greifen zu können.
Erneut eine Phase des Schweigens, eine Phase der Stille zwischen den beiden, in welcher dem Mann die Dose in seiner Hand betrachtete. Sie musste schon längere Zeit dort gelegen haben. Am oberen Rand waren bereits größere Löcher entstanden, sodass dieser mit nur einer Hand leicht abzureißen gewesen wäre. Vom Schriftzug des Covers waren zudem nur noch wenige Buchstaben lesbar gewesen, doch auf Grund der roten Farbe ließ sich die Dose einer bestimmten Marke zuordnen.
„Ach Quatsch, du übertreibst“, entgegnete der Mann, nachdem er auch die letzten beiden Buchstaben von der Dose abgekratzt und im Sand hat verschwinden lassen. „Solche Probleme kann man lösen“.
Er hob nun auch seine linke Hand und deutete auf eine einzige verbliebene Seerose im Gewässer.
„Die werde ich treffen“, prophezeite er.
Mit einer hektischen Wurfbewegung versenkte er die Dose im Wasser, wobei er die Seerose getroffen hatte.
William White wusste rhetorische Stilmittel durchaus zu schätzen.
Ob dies nun an dem Bachelor of Arts in Literaturwissenschaften lag oder an den frappierenden Ausmaßen der Ironie in seinem Leben, vermochte er nicht zu benennen.
Bedauerlicherweise fand Williams Vorliebe für die bildenden Künste in seinem neuen Arbeitsumfeld herzlich wenig Anklang, obgleich es mit der Kundschaft wenig zu disputieren gab. William besaß ein sehr geringes Maß an Toleranz wenn Dilettanten involviert waren, wohl wechselte er nur wenige Worte mit den Kunden, verwandelte Schnee in Scheine und ging seines unglücklichen Weges, hinaus aus der dunklen Gasse.
Hätte man noch vor zwei Jahren einem von Williams Kommilitonen erzählt, White würde seinen Lebensunterhalt mit Schnee verdienen – oh, man beachte allein die Referenz im Namen! - man wäre milde belächelt worden. Allem voran von William selbst, an dessen Brieftascheninhalt allerdings der Zahn der Zeit genagt und dem die Realität zu spät ins Auge geblickt und verdeutlicht hatte: Der zukünftige Arbeitgeber scherte sich bestürzend wenig um das Sprachniveau seiner Arbeitnehmer.
Demzufolge sollte es den hageren Mann eigentlich nicht stören, mit einer bis zum bersten mit nicht schmelzbaren „Wasserkristallen“ gefüllten Sporttasche durch die beseelten Straßen der Innenstadt zu wandern.
Es machte ihn dennoch etwas unstet, ein Gefühl der Nervosität welches nicht selten bei Neulingen anzutreffen war.
Wer würde es William also exkulpieren, dass er die letzten sechs Stufen der Treppe am Eingang der Untergrundbahn ungewöhnlich geschwind hinauf jagte und dabei nolens volens einen korpulenten Herren zu Fall brachte.
Den harten Asphalt konnte er noch deutlich unter seinen Füßen zu spüren, als ein junger Mann – seit er sich erinnern konnte, war er von leicht übergewichtiger Statur gewesen – den kurzen Weg von seiner Wohnung zur Straße hin entlangschritt. Peter Maier war sein Name; schon seit Generationen stand „Maier“ für den außerordentlichen Erfolg im Verkauf von Taschen jeglicher Art. Ob es nun Handtaschen oder Sporttaschen waren, Taschen aus Stoff oder aus Seide, neu oder gebraucht – all dies war nicht relevant, wobei die Familie Maier schon immer bekannt für ihre Vermarktung von Taschen aus zweiter Hand war. So kam es, dass auch der junge Peter im Taschengeschäft tätig war und an jenem schönen Morgen eine etwas ramponierte, graubraune Sporttasche von seiner Wohnung zu dem Laden am Stadtrand schleppte. Wer den Mann gut kannte, fand es wohl kaum verwunderlich, dass sich in jener Sporttasche noch zahlreiche andere, kleinere und frisch verpackte Taschen befanden – er fand dies ungemein praktisch, da „Platz sparen“ immer eines seiner höchsten Gebote war.
Was heute doch für ein schöner Tag ist, dachte sich Peter immer wieder, als er seine kreisrunde Nickelbrille zurechtrückte und zum Himmel aufsah. Er liebte seinen Wohnort; neben dem immerzu schönen Wetter kannte er hier lediglich freundliche, zuvorkommende Menschen. Zwielichtige Gestalten hatte er in seiner Umgebung noch nie zu Gesicht bekommen und war auch überzeugt davon, dass sich dies niemals ändern würde.
Voller Vorfreude, die in seinen Augen wunderschöne Sporttasche an einen glücklichen Kunden verkaufen zu dürfen, hüpfte er beinahe über den Asphalt, geradewegs in Richtung Untergrundbahn, während er ein fröhliches Lied trällerte. Ihren Blicken nach zu urteilen, musste es für die umstehenden Menschen ein merkwürdiges Schauspiel gewesen sein, als Peter einen besonders hohen Sprung machte und geradewegs vor einem jungen Mann in hellbraunem Mantel landete, der mit leicht verstörtem Blick die Treppe hoch hastete – und geradewegs gegen den Taschenverkäufer lief, welcher samt dem Unbekannten zu Boden ging. Verwirrt spürte Peter den kalten Asphalt unter seinem Körper, sah den Fremden neben sich liegen. Doch er hatte sich schnell wieder gefasst; höflich murmelte er einige entschuldigende Worte, erhob sich dann rasch, klopfte sich den Staub von seiner Hose und nahm seine Sporttasche wieder fest in die Hand, bevor er auch schon weitereilte.
Williams Knie schmerzte.
Die plötzliche Präsenz des Bodens hatte seine Haut gebrochen, Fremdkörper durch die leicht blutende Wunde eindringen lassen und seine Hose ruiniert.
„Welcher Depp springt auch wie ein Besoffener durch die Stadt?!“ schoss es William durch den Kopf, während einige harmlose Flüche über seine Lippen drangen.
Ächzend rappelte er sich auf und wollte dem Rüpel die Leviten lesen, aber der hatte sich bereits seine Besitztümer geschnappt und rücksichtslos aus dem Staub gemacht.
Verdammt nochmal, die Hose war neu -
Mit negativen Energien im Übermaß hob William seine Sporttasche vom Asphalt und warf sie sich über die Schulter, wobei ihm nicht entging, wie viel leichter sie doch schien.
Die Temperatur des Dealers alternierte sprunghaft zwischen dem Siede- und Gefrierpunkt von H2O, sein Herz rutschte ihm in die metaphorische Hose. Umständlich knibbelten seine Finger am Reißverschluss des Gepäcks herum, die Synapsen in seinem Gehirn schienen kurzzuschließen.
Williams Herz setzte einen entmutigenden Schlag aus.
Seine Ware war futsch.
Was ihm beim Anblick in die Sporttasche begrüßte, waren eine Menge kleiner, in Plastiktüten verpackter Baby-Sporttaschen, allesamt leer.
Wenige Sekunden später hatte White sich schließlich gesammelt und sauste wie ein geölter Blitz dem Sporttaschenzüchter hinterher.
Vor dem Eingang zu einem Schnellimbiss nietete er den – ehem – beleibten Mann beinahe abermals um, fing sich jedoch unbemerkt und ließ die Neuronen und Transmitter erarbeiten, wie er vorzugehen hatte. Eine direkte Ansprache stand außer Frage, sein Gegenüber bräuchte nur in seine Tasche schauen zu wollen und William dürfte sich für den Rest seines Lebens die Seife ans Handgelenk schnüren.
Er benötigte ein Ablenkungsmanöver, ein Chichi – aber was für eins?
Glücklicherweise hatte der junge White vor nicht allzu langer Zeit die Mitgliedschaft eines Schauspielvereines innegehabt, in dem eine Grundvoraussetzungen das Improvisationstheater gewesen war.
Mit schweißnassem Haar stürzte er vor den Taschenmann auf den Gehweg, rang die Hände 'gen des Äthers Höhen und verkündete mit vor ungespielter Panik zitternder Stimme:
„Ein Weltraumgefährt! Da! Schauen Sie doch, dort befindet sich ein Weltraumgefährt!“
Nach dem Zusammenstoß hatte sich Peter auf seinem Weg besonders beeilt, in der Sorge, es würden schon dutzende Leute vor dem geschlossenen Geschäft auf seine Ankunft warten. Schließlich waren immerzu zufriedene Kunden von größter Wichtigkeit!
Es war ihm nicht entgangen, dass sich seine Sporttasche etwas gewichtiger anfühlte, doch hatte er die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen? Augenscheinlich nicht, da dem jungen Taschenverkäufer nicht einmal auffiel, von seiner neuen „Bekanntschaft“ verfolgt zu werden. Erst, als diese ihm genau vor die Nase lief, begann er, sich darüber Gedanken zu machen, um wen es sich bei diesem Mann wohl handelte. War er vielleicht betrunken?
Doch er wollte nicht zu viel Zeit verschwenden; Peter versprach sich selbst, genauer über den Unbekannten nachzudenken, sobald er seine Kunden zufrieden gemacht hatte. Er überlegte angestrengt, ob auch seine Stammkunden wieder kommen würden und wie er diesen Freude bereiten konnte, weswegen es nicht verwunderlich war, dass es ihm nicht weiter auffiel, wie aufgeregt der Mann in dem hellbraunen Mantel mit den Händen fuchtelte. Dazu schrie er einige Worte, welche Peter allerdings nicht deutlich verstehen konnte; die Stimme des Mantelmannes überschlug sich beinahe. Aus diesem Grund schenkte ihm der Taschenverkäufer auch nur ein kurzes, mitleidiges Lächeln, bevor er geradewegs an ihm vorbeischritt.
Perplexität lähmte Williams Körperzellen für exakt 8 Sekunden, als sein Gegenüber seine Präsenz völlig negierte und in der Menge der gaffenden Passanten dahinschwand.
Es genügte die Motivation, sich nicht noch mehr vor der Gesellschaft zu blamieren, um nicht auf der Stelle seine Wut kundzutun.
Mittlerweile bildeten gewisse salzige Körperflüssigkeiten des Dealers schmale Flecken auf seinem Mantel, und er strich sich etliche Male nervös das Wasser von der Stirn. So drängte William sich durch die Menschen, sein Ziel nie aus den Augen lassend. Sobald der „Taschendieb“ seinen Bestimmungsort erreicht hätte, wäre alles verloren. Der Dealer wäre nicht mehr in der Lage, seine Ware zeitnahe zu erreichen, und er könnte seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten und die Sicherheitsbeamten würden ihn finden und …
Er vermochte nicht, diesen Gedankengängen länger nachzugehen.
Er benötigte noch eine weiteren, heimtückischen Plan.
Pronto.
William votierte gegen die ingeniöse Idee, die Rinde einer Musa geschickt auf den Pfad seines unwissenden Widersachers zu platzieren und ihm nach dem plötzlichen Einwirken vielfacher Gravitationskräfte – zugegeben, die Wissenschaft der Natur war nie Williams Stärke gewesen – den Schnee zu entreißen und weiter zu laufen, als seine Füße ihn je tragen würden.
Der Bergtroll-artige Mensch würde ja wieder nur über sie hinwegtreten.
Gerissenes Biest.
Doch welcher Tätigkeit sollte William stattdessen nachgehen?
Inspiration neigte dazu, einem an den Orten zu begegnen, an denen man sie am wenigstens erwartete, und so rannte sie in den Händler hinein, während er dem Schnee weiter in Richtung der Wohngebiete folgte. In Form einer lieblichen älteren Lady mit einem weißem, ungezähmten Chihuahua an der Leine.
Peter Maier hatte Hunde nie gemocht. Im Normalfall mied er jegliche Arten dieser Tiere und machte – sollte er einem davon auf der Straße begegnen – stets einen großen Bogen um das Biest. So spürte er im selben Moment, als er einen schneeweißen Chihuahua zusammen mit einer etwas betagten Dame auf der anderen Straßenseite gehen sah, ein aufgeregtes Kribbeln in Magengegend.
Nur wenige Augenblicke später sah er den mysteriösen Mann von vorhin um die Ecke einer Hauswand – ebenfalls auf der anderen Straßenseite liegend – lugen, beinahe so, als würde er auf die ältere Dame warten. Als sie an jener Ecke vorbeischlenderte, sprang der junge Mann tatsächlich schnell aus seinem Versteck und begann, auf die Frau einzureden. Bedauerlicherweise konnte Peter nicht hören, was sein Verfolger sprach, jedoch bekam er direkt ein mulmiges Gefühl, als die Hundebesitzerin dem Unbekannten die Leine in seine Hand drückte und an Ort und Stelle verweilte, als der Mantelmann mit dem Chihuahua über die Straße – geradewegs in Peters Richtung – lief. Vielleicht hatte er ihr versprochen, dem Hündchen eine Extraration Sport zu verpassen?
Abermals drifteten Peters Gedanken leicht ab.
Wenn die alte Dame sportbegeistert war, interessierte sie sich dann vielleicht für sein riesiges Sortiment an Sporttaschen? Sollte er sie ansprechen und fragen, ob sie einmal bei seinem Laden vorbeischauen wollte?
Er sah zum Himmel auf und überlegte angestrengt, wie er dies anstellen sollte, ohne einen aufdringlichen Eindruck zu hinterlassen. So kam es, dass es ihm nicht weiter auffiel, als sein Verfolger die Hundeleine losließ und der Chihuahua mit eng angelegten Ohren und wütendem Gebell auf Peter zugeschossen kam. Nicht einmal Sekunden, bevor sich der Hund auf den Taschenverkäufer werfen konnte, realisierte dieser die Gefahr und schrie laut auf. Der langgezogene, hohe Ton irritierte den Chihuahua offenbar, so dass er mitten in seiner Bewegung innehielt und nicht mehr dazu kommen sollte, seine spitzen Zähne in dem Hosenbein Peters zu vergraben – denn im selben Moment blieb auf der Straße direkt neben ihnen ein LKW stehen, auf dem ein riesiges Paar Wiener Würstchen abgedruckt war; und genau danach roch der Wagen auch.
„Der Ampel sei dank!“, dachte Peter erleichtert, als der Chihuahua laut kläffend auf den Wagen zulief. Der junge Mann rückte seine Brille zurecht und lief abermals weiter. Seine Kunden waren jetzt das Wichtigste für ihn.
Die Wahrscheinlichkeit eines Geschehens sich genau in diese unglücklichen Konstellation abzuspielen war so gering, William würde eine Mängelrüge beim internationalen Komitee des Daseins und der Mathematik einreichen.
Seit fünfzehn Minuten folgte er nun dem wandernden Törtchen durch die Stadt, aber sein Gegner gab sich nicht den Hauch einer Blöße. Schon seit White den kläffenden Fifi der Seniorin mit Hilfe eines freundlichen Händchens des Schwertransportfahrers wieder angeleint hatte. Dabei hatte William ihn innerlich angebrüllt, angezeigt, angegriffen und angefleht, mit einem steigenden Grad der Verzweiflung sogar für alle Umstehenden hörbar. Nur der vermaledeite Typ zuckte nicht mit der Wimper.
Wie es jemandem mit einem so intensiv ausgeprägtem Aufmerksamkeitsdefizit gelang, sicher die Straße zu überqueren, grenzte an ein Wunder.
Und während William bereits panisch und körperlich geschwächt schnaufte, behielten die Schritte des Mannes dieses merkwürdige Federn bei.
Himmel nochmal, handelte es sich bei ihm wirklich um einen Menschen?
Williams metaphorisches Herz zog sich zusammen und machte gleichzeitig einen Satz , als der Mann sich plötzlich um 90° drehte und durch eine Glastür im Inneren eines kleineren Geschäftes verschwand.
Das war Williams Chance.
Er sprintete die letzten Meter zwischen ihm und seinem Ziel auf wackeligen Beinen und wollte gerade mit einem finitem Laut der Erleichterung die Glastür aufstoßen, als sich eine Abbildung des genauen Ladeninneren auf seiner Retina bildete und in den omnipotenten Eiweißklumpen in seinem Kopf geleitet wurde.
Vor ihm – auf zahllosen Regalen, Auslagen und Ständern – prangten hunderte Doppelgänger seiner Sporttasche.
Er hasste den Frühling. Hatte ihn schon immer gehasst.
Menschen drangen aus ihren Häusern und umschwirrten ihn in den stickigen Straßen wie Bienen, Gespräche quollen zu schwindelerregendem Lärm an. Die Luft roch nach einer Mischung aus üblen, süßlichen Pollen, Schweiß und Dreck. Sie ließ ihn würgen.
Der Mann drängte sich weiter durch die Straßen, vorbei an schwatzenden Menschengruppen, Kindern, die ihm vor die Beine liefen und ihn zum Stolpern brachten. Er brüllte sie nicht an. Schenkte ihnen nur einen abwesenden Blick, den sie nicht bemerkten. Zu sehr waren die kleinen Gören damit beschäftigt, andere Leute anzurempeln und die Sonne zu genießen. Die Sonne, die seinen schwarzen Anzug aufheizte und ihn vor lauter Wärme schnaufen ließ.
Die Kleinen konnten ihr Leben noch genießen. Wenn sie in ein oder zwei Jahren in die Schule gehen würden, dann würde ihnen die Freude auch noch ausgetrieben werden.
Ein schrecklicher Gedanke eigentlich. Umso schrecklicher, dass er ihn bei Seite schob, tief in die Ecke seines Bewusstseins, wo er ihn nicht stören konnte.
Mit einem Blick auf die Uhr fluchte er leise.
War schon wieder viel zu spät dran. Alles der Fehler dieser Leute. Wäre die Straße frei, würde er sehr viel schneller vorrankommen. Aber so rempelte ihn alle zwei Sekunden jemand an. Er kam sich vor, als würde er gegen einen Fluss ankämpfen, ein Ertrinkender, der hektisch nach Luft schnappte, panisch mit den Füßen strampelte.
Und trotzdem unterging.
Der Gedanken versetzte ihn tatsächlich für einen Moment in Panik. Wenn er jetzt fiel… Würde man ihm aufhelfen? Oder würden sie ihn zertrampeln? Geblendet von der Sonne, den Glasfassaden, von ihrer Freude?
Dann würde er zu einem Haufen Matsch auf dem Boden werden, den irgendein bedauernswerter Straßenkehrer heute Abend entsorgen durfte.
Der Mann fröstelte, obwohl ihm doch so heiß war. Er zog den Kopf ein, die Schultern hoch, presste seine Aktentasche, in der die Blätter raschelten, eng an seine Brust. Das Herz darin pochte. Zu ungleichmäßig, als dass es gesund wäre. Mal langsamer, mal schneller. Wie eine Melodie, die nur es selbst kannte. Und ein Takt darin war ein stechender Schmerz, der durch seinen ganzen Körper drang.
Der Mann zuckte zusammen, als er ihn zum ersten Mal spürte. Die Menge um ihn herum verschwamm zu einem bunten Meer aus Kleidung, Haut, Schweiß und Lärm.
Sein Atem ging nur noch rasselnd, durchzogen von dem Schmerz, der ihn nervös machte, ja, sogar panisch.
Er musste hier heraus. Er brauchte Luft und Platz. Freiraum! Raus aus dieser Menschenmenge! Raus aus dem Lärm und Gestank, der seine Sinne vernebelte. Schwarze Ränder zeichneten sich an den Seiten seiner Sicht ab, drangen weiter vor Wasser, das ihn verschluckte.
In seinen Ohren pfiff es. Sein Blut rauschte durch seine Adern. Die Finger krallten sich an der ledrigen Tasche fest, als wäre sie das, was ihn bei Bewusstsein hielt.
Als die Schatten verschwanden und der Schwindel sich lichtete, fand er sich auf einer Bank wieder. Eine einfache Holzbank am Rande der Straße. Äste und Blätter über ihm schirmten die Hitze und das Licht ab. Die Aktentasche lag vor ihm auf dem Pflaster. Jetzt krallte er sich nur noch an der Kante fest, bis sein Herzschlag sich beruhigte. Es dauerte. Es dauerte viel zu lange. So lange, dass er fürchtete, es würde niemals aufhören.
Aber sein Puls beruhigte sich, das Zittern, das seinen Körper erschütterte wie ein Erdbeben, und die Kraftlosigkeit verschwanden. Er war wieder Herr über sich selbst. Jetzt war alles wieder in Ordnung.
Angespannt atmete er aus, ein rasselndes, von dem Schock geschütteltes Atmen.
Ein Blick fiel auf sein Handgelenk. Schon viel zu spät.
Dann konnte er sich auch noch etwas ausruhen. So, wie er sich jetzt fühlte, würde der Mann es ohnehin nicht zur Arbeit schaffen.
Das Mädchen rannte rückwärts über die Linien auf dem Boden, passte auf, nicht danebenzutreten, sonst würden sie noch die Haie fressen. Es war ein lustiges Spiel, eines, das sich mittlerweile zur Tradition entwickelt hatte, wann immer sie mit ihren Eltern hierherkam. So vertrieb sie sich die Zeit, während die Erwachsenen in irgendeinem Geschäft etwas suchten oder sich irgendwelche Sachen anschauten.
Achtlos, wie sie war, bemerkte sie nicht, dass sie sich immer weiter der Bank näherte – bis sie schließlich mit etwas zusammenstieß. Nach einem Moment der Überraschung drehte sie sich hastig um.
Vor ihr saß ein so blasser Mann, dass er bis auf die tiefen, dunklen Augenringe genauso gut weiß angemalt hätte sein können, und dessen schwarzer Anzug ihn noch farbloser erschienen ließ als ohnehin schon. Dem Mädchen wurde langsam bewusst, dass sie in ihn oder besser gesagt seine Knie hineingelaufen war.
„Tut mir leid!“, entschuldigte sie sich schnell. „Ich hab dich nicht gesehen.“
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte der Mann mit schwacher Stimme. So als wäre es nicht in Ordnung, sondern ihm einfach nur egal.
Plötzlich wurde dem Kind bewusst, dass es gerade definitiv nicht auf einer Linie stand – damit hatten sie wohl die Haie erwischt. Sie machte schnell einen Schritt auf die rettenden ‚Brücken‘, doch sie hatte ohnehin schon verloren.
„Oh nein!“, rief sie theatralisch aus. „Ich bin gestorben!“
Was sollte sie denn jetzt machen? Hm, vielleicht waren ja die Spalten jetzt mal Gräben mit Lava drin...
Während sie überlegte, fiel ihr Blick auf den Mann, der sie musterte. Warum war er denn so blass? Normalerweise waren Leute nicht so blass, nicht wahr?
Sie entschloss sich, ihn einfach zu fragen: „Duuuu?“
Er antwortete nicht, also hatte er sie wohl überhört. Sie probierte es noch einmal.
„Duuuu? Warum siehst du so weiß aus?“
Das schien dann doch eine Reaktion bei ihm auszulösen, denn sein Blick sah plötzlich anders aus. Irgendwie traurig und noch etwas, was sie aber einfach nicht deuten konnte – auf jeden Fall nicht gut.
„Ich habe... Viel zu tun.“ Er klang auch nicht gut. Eigentlich wirkte gerade gar nichts an ihm gut. Nur müde.
„Ich habe auch viel zu tun“, erwiderte das Mädchen kopfschüttelnd, „aber ich seh‘ trotzdem nicht so krank aus.“
Darauf bekam sie wieder keine Antwort, sondern nur ein Seufzen. Das machte ja gar keinen Spaß mit ihm!
„Du bist langweilig“, meinte sie und drehte sich schmollend um. So viele Erwachsene hörten einfach irgendwann auf, mitzumachen, was sie immer wieder blöd fand. Nahmen sie sie nicht ernst? Ständig ließ man sich alleine oder ignorierte sie sogar. Als wäre sie Luft. Sie wollte aber keine Luft sein! Sie wollte einfach nur spielen, war das denn zu viel verlangt?
Gerade, als sie sich entschieden hatte, dass die Linien dieses Mal Lavagräben waren, und weiterspielen wollte, hörte sie hinter sich ein erstauntes: „Langweilig?“
Sie drehte sich wieder zu dem blassen Mann um und nickte. Das war doch klar! „Ja, langweilig! Du sitzt nur da rum und sagst nichts und spielst nichts und machst nichts. Das macht doch gar keinen Spaß!“ Einen Moment hielt sie inne. „Oder macht dir sowas keinen Spaß? Aber was macht dir dann Spaß? Dir muss es doch Spaß machen, zu reden. Jedem macht es Spaß, zu reden!“
Wieder ein Seufzen. Zumindest das schien ihm Spaß zu machen. „Weißt du... Ich bin da etwas anders als du. Ich bin einfach froh, wenn ich nach Hause komme und mich ausruhen kann.“
Ausruhen, ausruhen… Was war denn an Ausruhen so toll? Ihre Eltern machten auch immer Mittagsschlaf und sowas, aber sie fand, das war verlorene Zeit.
„Ausruhen ist langweilig. Spiel doch lieber, wenn du dich ausruhen könntest! Am besten mit deinen Freunden.“
Der Mann lächelte schwach, ein komisches Lächeln, als wäre er gar nicht glücklich. „Wenn ich nach Hause komme, da sind alle, mit denen ich spielen könnte, längst schon im Bett.“
„Du bist komisch“, entgegnete das Mädchen. „Wann musst du denn ins Bett?“
„Ich arbeite bis mitten in die Nacht hinein.“
Bis mitten in die Nacht? Da musste sie schon längst schlafen, auch wenn sie eigentlich noch wach war und überhaupt nicht müde war.
„Das ist gemein. Ich will auch später ins Bett! Dann könnte ich noch länger spielen oder malen oder... Es gibt so viele Sachen!“, stieß sie aus und blies ihre Wangen auf. Warum durften Erwachsene eigentlich so lange wach bleiben, wenn sie die Zeit nicht einmal fürs Spielen nutzen? Das war doch total bescheuert!
Mit einem weiteren freudlosen Lächeln schüttelte der Mann den Kopf. „Ich hab da keine Zeit zum Spielen. Ich muss wichtige Sachen machen und dafür brauche ich so lange.“
„Wichtiger als Spaß zu haben?“ Sie konnte sich sowas nicht vorstellen. Man musste sich doch auch freuen im Leben! Spaß haben und sich freuen!
„Woher weißt du denn, dass es mir keinen Spaß macht?“
Das wirkte auf das Mädchen eher wie ein Versuch, das Schlechte gut aussehen zu lassen. „Man sieht es dir doch an. Warum machst du Arbeit, die du doof findest?“
Der Mann senkte den Blick und öffnete den Mund, als die Stimme der Mutter des Mädchens zu den beiden schallte. „Ich hab dir Eis mitgebracht!“
Eis! Das Kind grinste und winkte dem Mann. „Tut mir leid, ich muss jetzt weiter. Vielleicht solltest du zumindest versuchen, etwas mehr Spaß zu haben. Das ist doch sonst blöd!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und hüpfte zu ihrer Mutter, sehr darauf bedacht, die Gräben zu überspringen, während der Schatz, ihr Eis, immer näher kam.
Ihre Mutter lächelte sie an und deutete mit dem Kopf auf den Mann auf der Bank. „Mit wem hast du denn da gesprochen?“
„Ach, der saß da und sah so blass aus, und dann hab ich mich ein bisschen mit ihm unterhalten. Er war nett, aber irgendwie traurig.“ Sie lächelte ein wenig. „Ich hoffe, er ist jetzt glücklicher!“
„Okay, aber sei immer vorsichtig.“
„Na klar! Und wo ist jetzt das Eis?“ Das brachte ihr ein Lächeln ein und das Eis, das ihre Mutter wie einen wahren Schatz hervorhob.
„Hier ist es!“ Gemeinsam lachten sie und verließen die Straße in Richtung Heimat, weg von den Läden und dem traurigen Mann.
Warum machst du Arbeit, die du doof findest?
Es waren diese acht kleinen Wörter, die sich dagegen wehrten, seinen Kopf zu verlassen, so sehr er sie auch zu vertreiben versuchte.
So einfach war es nicht. Was verstand denn ein kleines Mädchen von seinem Leben?
Hasste er seinen Job? Die Tatsache, dass er bei vierundzwanzig Grad in einem Anzug durch die Stadt ging und sich gleich in einen der riesigen Gebäudekomplexe verkriechen musste, in denen die Klimaanlagen öfters ausfielen als sich seine Arbeitskollegen die Socken wechselten? Hasste er es, dass er den ganzen Mittag, Nachmittag, Abend, ja sogar die halbe Nacht hinter einem Schreibtisch sitzen musste?
Nein.
Ja.
Vielleicht.
Ach verdammt, nichts vielleicht! Er hasste es! Er hasste jeden Moment, den er seinem Chef mit einem mühevoll aufgesetzten Lächeln gegenüber stehen musste! Er hasste seine Kollegen, die ihm die Arbeit zuschoben und dann selbst das Lob einheimsten! Er hasste selbst seinen verdammten Schreibtisch, der über und über mit Akten vollgestapelt war!
Wofür das Ganze?
Für seine Frau, die zu Hause bis spät in die Nacht wartete, die er jedes Mal enttäuschen musste? Die tonlos „Ist in Ordnung“ ins Telefon hauchte, wenn er ihr sagte, dass es wieder später werden würde? Die ihm trotzdem jeden Morgen ins Ohr flüsterte, dass sie ihn liebte?
Für seine Kinder, die er, wenn es hoch kam, am Wochenende sah? Mit denen er aber nicht spielen konnte, da er diese beiden Tage dafür brauchte, sich etwas zu erholen, weil er sonst vor lauter Stress aus dem Fenster springen würde?
Für etwas mehr Geld, das sie eigentlich gar nicht nötig hatten?
Und da traf er eine Entscheidung.
Der Mann stand auf, griff in seine Hosentasche und zog sein Handy hervor. Sieben entgangene Anrufe, alle von seinem Chef. Er rief zurück.
Als dieser sich meldete, schon Luft holte um ihn anzuschreien, da begann der Mann zu grinsen.
„Ich kündige!“, schrie er in das Telefon, holte aus und warf es so fest auf den Boden, dass die Bestandteile im hohen Bogen über den Asphalt flogen. Er trat auf die Aktentasche, einmal, zweimal! Immer wieder, bis sie völlig zerknittert war.
Und dann drehte er sich um, lief zurück nach Hause… Immer darauf bedacht, nicht in die Lavagräben zu fallen.
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