Herzlich willkommen in der zweiten Runde der Fanwork-Votes!
In diesem Thema findet ihr die Abgaben zur Kategorie Fanfiction, in der die Teilnehmer ein Drama zum Thema "Ein Tag in der Stadt" erstellen mussten.
ZitatSchreibt ein Drama zum Thema „Ein Tag in der Stadt“. Ob das der Tag eines Arbeiters ist, der Tag eines Dorfbewohners in einer Stadt oder etwas anderes in der Richtung ist: Schickt uns ein Drama, das dem Thema gerecht wird! Die Wortobergrenze liegt bei 2.000 Worten. Gezählt wird nach der Seite Wörterzählen.de.
Verwendet wird das Vote-System aus dem Mapping-Bereich, bei dem ihr eine bestimmte Anzahl Punkte an die Abgaben verteilen könnt. Dabei steht es euch frei, ob ihr alle Punkte vergeben wollt oder nicht. Für die Teilnehmer eines Teams ist zudem erwähnenswert, dass ihr mit einem Vote die durchschnittlich erhaltene Punktzahl eures Teams anteilig (d.h. im Verhältnis eurer vergebenen Gesamtpunktzahl zur maximal zu vergebenden Gesamtpunktzahl) gutgeschrieben bekommt. Das heißt, wenn viele Mitglieder eines Teams voten, bekommen sie dadurch auch viele Punkte gutgeschrieben. Weitere Informationen zum Vote-System findet ihr hier.
Da 12 Abgaben eingetroffen sind, könnt ihr 23 Punkte frei verteilen, jedoch maximal 8 an eine Abgabe. In eurem Vote müsst ihr Feedback an alle Abgaben mit mindestens drei positiven und/oder negativen Aspekten der Abgabe formulieren. Außerdem sollen die Votes begründet und nachvollziehbar sein. Votes für die Abgabe des eigenen Teams sind nicht gestattet.
Um für uns die Auswertung zu erleichtern, würden wir euch bitten, den Namen eures Teams, solltet ihr in einem sein, mit anzugeben.
Deadline für den Vote ist am Sonntag, den 06.08.2017 um 18 Uhr.
In diesem Sinn wünschen wir euch viel Spaß beim Voten!
Skandal in Spießingen
DES SITTENVERFALLS ERSTER AKT
FRAU BORNIER und HERR BORNIER auf einer Parkbank. FRAU BORNIER liest eine Boulevardzeitung.
FRAU BORNIER. Es ist nicht zu fassen, was diese Halunken von der Presse schon wieder über unsere Stadt erzählen! „Skandal in Spießingen: Bürgermeister Giermann korrupt?“
HERR BORNIER. Was!? So ein Quatsch! Sowas gibt es hier nicht! Nicht in Spießingen! Niemals!
FRAU BORNIER. Genau! Hier gibt es keine Korruption!
HERR BORNIER. Keine Verbrechen!
FRAU BORNIER. Keine Skandale!
HERR BORNIER. Hier, hier haben die Menschen noch Anstand!
FRAU BORNIER. Nicht so wie in diesem schmutzigen Fiesingen! Weißt du, was mir die Gerda gestern erzählt hat? Der Sohn von der Bäckerin Meier, der hat jetzt ganz grüne Haare!
HERR BORNIER. Was? Grün!? Und die Meier erlaubt das?
FRAU BORNIER. So sind sie halt, die Fiesinger. Sitten gibt es da nicht.
HERR BORNIER. Schrecklich, sowas. Wenn unser Sohn so nach Hause kommen würde, dann…! (ballt eine Faust)
FRAU BORNIER. Unser Theodor ist ein gut erzogener Junge! Sowas würde ihm im Traum nicht einfallen. Der Schuldirektor sagt, so einen artigen Schüler hat er sein Lebtag nicht gesehen.
HERR BORNIER (skeptisch). Wann hast du schon wieder mit dem Direktor gesprochen?
FRAU BORNIER. Oh, ähm… wir haben uns zufällig in der Stadt getroffen. Beim Metzger. Sachen gibt’s, oder? Da hat unser Spießingen 25.000 Einwohner und dann ist es manchmal doch so klein.
HERR BORNIER. Soso.
Schweigen.
HERR BORNIER. Gibst du mir mal die Zeitung? Vielleicht ist an der Geschichte mit dem Bürgermeister ja doch etwas dran. Dann wähle ich ihn sicher nicht me—
Ein wütender Schrei aus der Ferne.
HERR POLTER (aus der Ferne). Was ist das denn, um Himmels willen!?
HERR BORNIER. Wer brüllt denn da so rum!?
FRAU BORNIER. Bestimmt ein Fiesinger. Komm, wir sagen ihm, wie man sich in Spießingen zu benehmen hat. Hier lässt man Leute in Ruhe die Zeitung lesen! Und geflucht wird hier auch nicht. Wir sind eine anständige Stadt.
FRAU BORNIER und HERR BORNIER treten ab, in Richtung der Quelle des Schreis.
HERR POLTER vor einer Mauer, an der ein Graffiti-Schriftzug prangt: „SATNLUVR“. FRAU BORNIER und HERR BORNIER treten hinzu.
FRAU BORNIER. Ach du heilige Scheiße! Himmel, Herrgott, Sakrament!
HERR BORNIER. Ist das eins dieser… Grah-fities? In unserem Spießingen! Was für eine Schande!
HERR POLTER. Wenn ich den Lausbuben in die Finger kriege, der meine Mauer so verschandelt hat, dann kann er was erleben! Der kriegt hinten drauf, bis er nicht mehr sitzen kann!
FRAU BORNIER. Wir müssen die Polizei rufen. Das ist ja entsetzlich!
FRAU BORNIER telefoniert. THEODOR BORNIER tritt hinzu.
THEODOR BORNIER. Ach, hier seid ihr hingegangen. Ich dachte, ihr seid noch im Par— (entdeckt das Graffiti) Ein Tag!? In unserer Stadt!?
HERR BORNIER. Teck? Was ist denn das?
THEODOR BORNIER. Tag. Das ist Englisch, Papa. So nennt man das, wenn jemand im Graffiti-Stil seinen Sprayer-Namen hinterlässt.
FRAU BORNIER (legt auf). Woher weißt du denn sowas?
THEODOR BORNIER. Das hat mir jemand in der Schule erzählt.
FRAU BORNIER. Doch nicht etwa dieser Tom?
THEODOR BORNIER. Doch, Mama.
FRAU BORNIER. Theodor Heinrich Bornier! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dich nicht mit solchen Leuten abgeben sollst?
THEODOR BORNIER. Entschuldigung, Mama.
HERR POLTER. Doch nicht etwa der Tom Müller? Ich wette, der war das! Der hört ja auch immer diese scheußliche Rockmusik mit diesem schrecklichen Geschrei. Ich bin mal an dem Müller-Haus vorbeigelaufen und dann musste ich durchs offene Fenster diesen Höllenlärm hören. Ich habe die Polizei gerufen, aber die meinten, für Ruhestörung sei das zu leise. (Schreiend) Ist das denn zu fassen!? Verbrecher auf freien Fuß, aber mir machen sie Ärger! Diese Dreckspolizei ist schon genauso schlimm wie dieser Bengel! Zum Teufel mit ihnen!
POLIZIST in Uniform tritt hinzu.
POLIZIST. Bitte mäßigen Sie sich im Ton, sonst ist das— (entdeckt das Graffiti) Wer tut denn sowas!?
FRAU BORNIER. Ein abscheuliches Verbrechen, nicht wahr?
POLIZIST (schüttelt ungläubig den Kopf). So etwas habe ich hier noch nie gesehen…
HERR POLTER (schreit). In den Knast! In den Knast mit dem Verbrecher!
POLIZIST. Wir nehmen uns der Sache an. Bitte bewahren Sie bis dahin Ruhe.
FRAU BORNIER. Ruhe? Das können Sie vergessen.
HERR BORNIER. Diesem Schmutzfinken werden wir zeigen, was passiert, wenn man unser schönes Spießingen verschandelt!
DES SITTENVERFALLS ZWEITER AKT
FRAU BORNIER und GERDA vor deren Haus. GERDA steht in der Türschwelle.
FRAU BORNIER. Hast du schon von dem schrecklichen Unglück gehört, Gerda?
GERDA. Es ist furchtbar. Die Erika von gegenüber hat sich das… (schaudert) Ding angeschaut. Ich könnte das nicht. So etwas… so etwas Widerwärtiges kann ich mir nicht ansehen!
FRAU BORNIER. Es ist eine Schande für unsere Stadt! Und die Polizei „nimmt sich der Sache an“. Ja, ja. Die wollten ja nicht mal den Tom Müller wegen Ruhestörung verhaften. Als ob die diesen dreckigen Hund finden, der unsere Stadt ruiniert! Nein, wir müssen das tun, wir. Wir müssen Spießingen retten!
GERDA. Du, die Erika, die hat den Täter gesehen, auf dem Weg zu dieser… dieser Untat! Wenn wir uns den Schuft schnappen, dann…
FRAU BORNIER. Dann verjagen wir ihn nach Fiesingen, wo er hingehört! Und Spießingen ist wieder sauber! Sag schon, wer war’s?
GERDA. So ein kleiner Lausbengel. Die Haare schwarz gefärbt und dann dieses gruselige Hemd. Da stand „ABCD“ drauf, mit einem Blitz in der Mitte! Die Erika hat gesagt, das ist so eine… (schaudert) satanische Botschaft!
FRAU BORNIER. Das ist der Tom Müller! Auch noch ein Satanist! Der hat nichts mehr zu lachen, das schwöre ich dir.
Der BÜRGERMEISTER auf einem Podest auf dem Marktplatz. Einige Bürger haben sich um das Podest versammelt, darunter FRAU BORNIER, HERR BORNIER, THEODOR BORNIER, HERR POLTER und GERDA.
BÜRGERMEISTER. Sehr geehrte Bürger von Spießingen. Wir haben uns heute hier versammelt, um über eine Tragödie zu sprechen, die sich gestern Nacht ereignet hat.
GERDA. Tragödie? Eine Schandtat!
HERR POLTER (schreit). Mein Haus! Mein Haus ist zerstört! Ein Schandfleck!
BÜRGERMEISTER. Mein herzliches Beileid, Herr Polter. Ich wünsche niemandem, Opfer einer solchen Gräueltat zu werden.
HERR POLTER. Davon wird mein Haus auch nicht sauber!
BÜRGERMEISTER (räuspert sich). Gestern Nacht hat ein noch unbekannter Verbrecher das Haus unseres ehrwürdigen Nachbarn Herrn Polter, und damit ganz Spießingen, aufs Schlimmste beschmutzt. Als Bürgermeister dieser Stadt möchte ich im Namen aller Bürger verkünden, dass wir solche Übeltaten in unserer schönen Stadt nicht dulden!
(Beifall.)
FRAU BORNIER. Raus aus der Stadt, du Schmutzfink! Raus aus der Stadt!
ALLE (skandieren). Raus aus der Stadt! Raus aus der Stadt! Raus aus der Stadt!
BÜRGERMEISTER. So ist es. Wer sich an die Regeln und Sitten unserer Stadt nicht halten will, der möge diese verlassen.
ALLE. Raus aus der Stadt! Raus aus der Stadt! Raus aus der Stadt!
BÜRGERMEISTER. Unsere Polizei hat bereits alle Einsatzkräfte mobilisiert, um den Täter zu finden. Ich versichere Ihnen, dass mit mir als Bürgermeister eine solche Schandtat nicht mehr vorkommen wird.
(Tosender Beifall.)
FRAU BORNIER (zu ihrer Familie). Die werden noch lange suchen, aber die Gerda und ich, wir haben den Täter schon längst gefunden.
HERR BORNIER. Was!? Wer war’s?
FRAU BORNIER. Der Tom Müller. Die Erika aus der Kirchstraße hat gesehen, wie er mit einem dieser Sprühdinger zum Haus vom Opfer gelaufen ist! Und ein Satanist ist er!
HERR BORNIER. Wusste ich’s doch, dass es der Bub faustdick hinter den Ohren hat!
THEODOR BORNIER. Puh. Ihr hattet Recht. Mit dem geb ich mich nicht mehr ab. Nur um ihm zu sagen, was ich von ihm halte.
FRAU BORNIER. Tu das, mein Sohn.
THEODOR BORNIER und TOM MÜLLER auf dem Schulhof.
THEODOR BORNIER. Warum hast du das getan, du Drecksack!? Ich dachte, wir wären Freunde?
TOM MÜLLER. Was… was meinst du? Was habe ich getan? Was auch immer, es tut mir leid!
THEODOR BORNIER. Das Haus zerstört!
TOM MÜLLER. Ein Haus wurde zerstört?
THEODOR BORNIER. Mit einem Tag besudelt!
TOM MÜLLER. Ach so, du meinst das Graffiti? Das, das war ich doch nicht! Du kennst mich doch, ich bin doch kein Hopper.
THEODOR BORNIER. Was ist das dann für komische Musik, die du immer hörst? Meine Mutter sagt, das ist satanistisch!
TOM MÜLLER. Ich habe dir doch schon gesagt, das ist Metal, kein Hip-Hop, und überhaupt nicht sata—
THEODOR BORNIER. Die Erika aus der Kirchstraße hat gesehen, wie du’s getan hast! Die Mauer besprüht! Du „Satanlover“!
TOM MÜLLER. Kirchstraße, Kirchstraße… Ach, vielleicht meinst du die ältere Frau, die mich immer beschimpft, wenn ich auf dem Weg nach Hause an ihrem Haus vorbeigehe.
THEODOR BORNIER. Zurecht! Wärst du mal nach Hause gegangen, anstatt sowas zu tun!
TOM MÜLLER. Aber ich bin direkt nach Hause gegangen! Vielleicht meinte sie, weil ich in die Richtung gegangen bin, dass ich—
THEODOR BORNIER (schreit). Lüg mich nicht an!
THEODOR BORNIER beginnt, auf TOM MÜLLER einzuschlagen. Einige MITSCHÜLER treten hinzu. Es entsteht eine große Schlägerei. Am Ende liegt TOM MÜLLER bewusstlos auf dem Boden.
DES SITTENVERFALLS DRITTER AKT
FRAU BORNIER und der SCHULDIREKTOR in dessen Büro. Sie hält seine Hand.
SCHULDIREKTOR. Ich sage das nur ungern, Hilde, aber es gab wieder eine Beschwerde über Theodor. Ein Mitschüler soll von ihm verprügelt worden sein.
FRAU BORNIER. Du kennst mich doch, Fritz. Würde ich jemanden schlagen?
SCHULDIREKTOR. Natürlich nicht, Hilde.
FRAU BORNIER. Dann würde das auch mein Sohn nicht tun. Ich gebe mir schließlich alle Mühe bei seiner Erziehung. Mein Theodor ist ein braver Junge.
SCHULDIREKTOR. Das weiß ich. Es tut mir leid, dass ich dir immer solchen Ärger mache.
FRAU BORNIER. Das ist nicht deine Schuld. Das war bestimmt dieser Tom Müller. Wahrscheinlich hat er meinen Theodor aufs Übelste provoziert und angegriffen, und dann hat er ihm die Schuld an allem gegeben! Mein Junge konnte sich nicht anders verteidigen!
SCHULDIREKTOR. Da hast du bestimmt Recht.
FRAU BORNIER. Ach, Fritz, danke, dass du immer so einsichtig bist. Du bist wunderbar.
SCHULDIREKTOR. Du auch, Hilde.
Der SCHULDIREKTOR küsst FRAU BORNIER.
FRAU BORNIER. Aber diese Müllers, gegen die müssen wir etwas übernehmen. Weißt du, wer das Haus geschändet hat? Der Tom!
SCHULDIREKTOR. Was!? Das ist ja furchtbar!
FRAU BORNIER. Hilfst du mir, unsere Stadt zu retten?
SCHULDIREKTOR. Für dich tue ich doch alles.
FRAU BORNIER, HERR BORNIER, THEODOR BORNIER, HERR POLTER, der SCHULDIREKTOR und GERDA vor dem menschenleeren Haus der Familie Müller. Sie sind mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet. FRAU BORNIER und der SCHULDIREKTOR haben jeweils eine Sprühdose in der Hand.
ALLE. Raus aus der Stadt! Raus aus der Stadt! Raus aus der Stadt!
HERR POLTER (schreit). Wenn ihr nicht bald verschwindet, dann gnade euch Gott!
FRAU BORNIER. Mauerschänder haben in unserem schönen Spießingen nichts zu suchen!
ALLE. Mauerschänder! Mauerschänder! Mauerschänder! Raus aus der Stadt! Raus aus der Stadt!
FRAU BORNIER. Bist du bereit, Fritz?
SCHULDIREKTOR. Und wie. Alle sollen wissen, wer hier wohnt.
FRAU BORNIER und der SCHULDIREKTOR sprühen mehrmals das Wort „Mauerschänder“ in roter Farbe quer über die Hauswand und die Fenster.
HERR BORNIER (sehr skeptisch). Hilde? Seit wann bist du mit dem Direktor per Du?
FRAU BORNIER. Raus aus der Stadt! Mauerschänder!
THEODOR BORNIER. Wo ist eigentlich der Mauerschänder?
GERDA. Und wo sind seine unfähigen Eltern? Das Licht haben sie aus und das Auto ist auch nicht da.
FRAU BORNIER. Und das um diese Uhrzeit! Bestimmt sind sie auf dem Friedhof, und, und… machen irgendwas Satanisches!
Ein NACHBAR tritt hinzu.
NACHBAR. Was… was machen Sie da?
FRAU BORNIER. Die Sitte in Spießingen wiederherstellen!
HERR PORTER. Wir verjagen den Müller und seine ganze Sippschaft!
NACHBAR. Da sind Sie zu spät. Die Müllers sind vor ein paar Stunden abgehauen. Sie meinten, sie sind hier nicht mehr sicher, weil sie verdächtigt werden.
FRAU BORNIER. Unfassbar! Diese Feiglinge! Jetzt gehen sie und besudeln noch eine Stadt! Ich hoffe, sie sind wenigstens in Fiesingen, wo sie hingehören!
Der BÜRGERMEISTER in seinem Büro. Er hält eine Sprühdose in der Hand.
BÜRGERMEISTER. So einfach kann es sein, das dumme Volk abzulenken. Skandale können Wahlen gewinnen, man muss einfach nur wissen, wann man selbst das Ruder in die Hand nehmen muss. „SATNLUVR“ wird wohl noch eine Weile im Amt bleiben
Der Mann an Bahngleis 5
(An einer Straßenbahnstation mitten in der Stadt, komplett mit einem Schild mit der Nummer 5, zwei Sitzbänken, Plakaten und Anzeigen aller Art. Menschen strömen vorbei, alle tragen eine Maske, die ihre Gesichter unkenntlich, und Kleidung, die ihre Körper beinahe undefinierbar macht. Gesprächsfetzen, Motorengeräusche und Lärm aus allen Richtungen. Ein Mann, hager, gekleidet in einen alten Anzug, betritt die Bühne. Er starrt auf sein Smartphone, das Gesicht angestrengt und hochkonzentriert verzogen. Als eine der Gestalten in ihn rennt, fällt sein Smartphone auf den Boden, wo es in Einzelteile zerbricht.)
Markus: Ach, verdammt, pass doch auf wo du- Hey! (Die Gestalt verschwindet in der Menge) Na großartig. Wundervoll. (Markus beugt sich herunter und hebt die Einzelteile auf. Er versucht kurz es wieder zusammenzubasteln. Frustriert stöhnt er, lässt alles in seiner Tasche verschwinden und setzt sich auf einen freien Sitzbankplatz. Neben ihm eine weitere Gestalt, die nicht reagiert. Er schaut sie kurz an, dann richtet er seinen Blick ins Publikum.) Als wollte mir die Welt den Mittelfinger zeigen. Warum auch nicht. Mit mir kann man es ja machen.
(Er grummelt vor sich hin, holt die Einzelteile noch einmal heraus, steckt sie dann aber wieder weg.)
Markus: Komplett hin. So ein Tag wird das heute also, hm? (Kurzes Schweigen. Dann ein langgezogenes Stöhnen.) Auch schon mal so einen Tag gehabt? Bestimmt. Hat doch jeder Mal. Manche eben öfter.
(Er schaut ins Publikum) Gestatten? Markus. Otto-Normal-Mensch, wie er im Buche steht. 37 Jahre alt. Büroangestellter… Pardon. Ex-Büroangestellter. Vor zwei Wochen geflogen, weil… Warum noch gleich? (Überlegt, dann ein Achselzucken) Egal. Ist wohl sowieso nicht wichtig. Interessiert ja eigentlich auch niemanden.
(Schweigen. Ein Schwall Menschen strömt vorbei. Nachdem sie weg sind, beugt sich Markus weiter vor.)
Markus: Und, was treibt ihr hier so? Auf dem Weg zur Arbeit? Uni? Bisschen bummeln? Die Einkaufsstraße ist um die Zeit immer voll. Schön die Hand auf der Handtasche lassen, sonst bekommt der Inhalt Beine. (Er versucht sich an einem Lächeln, verdreht dann die Augen.) Oh Mann. Als ob ihr auf jemanden wie mich hören würdet, was für ein schlechter Scherz. Ist ja auch egal. Meine Frau meint immer, ich wäre ein bisschen zu negativ eingestellt. Ein bisschen negativ… Völliger Quatsch. Ich bin ein Schwarzseher durch und durch. (Beinahe stolz) Irgendetwas finde ich immer, und wenn es nur eine Kleinigkeit ist, ein Staubkorn im metaphorischen Heuhaufen, nichts entgeht meiner pechschwarzen Brille und-
(Eine junge, männliche Gestalt, ein Smartphone am Ohr, läuft über die Bühne.)
Junge: Ja, Mann! Wenn ich es dir doch sage, die ist total ausgerastet! … Ja. Nur, weil die Tür ein wenig zu laut zugegangen ist. Die ist wie eine Furie hinter Julia her, wir dachten, die bringt die auf dem Weg zur Schulleitung noch um!
Markus: (der Gestalt zugewandt) Na, das wäre doch mal eine Schlagzeile gewesen. (In einem übertrieben dramatischen Tonfall) ‚Cholerische Frau ermordet Schülerin!‘.
(Zum Publikum) Stellt euch das mal vor: ‚Schulleitung ist geschockt: „So etwas hätten wir von ihr niemals erwartet. Unser aufrichtiges Beileid und unsere Gebete gelten der Familie“‘ Dann zwei, drei Tage lang ein paar Berichte über die Unzurechnungsfähigkeit der guten Dame, dann kommen in irgendeinem Zoo süße Pandababys auf die Welt und alles versinkt in einem durch Niedlichkeit induzierten Diabetes-Koma. (kurzes Schweigen.) Lehrer heutzutage haben es auch wirklich nicht leicht. Sie sollte es mal mit Boxen probieren. Das soll ja Wunder bei Stress bewirken. Hat einer von euch Erfahrung damit? Meine Kampfsporterfahrung beschränkt sich leider auf schlechte Karate-Kid-Imitationen in der Mittelstufe. (Er lacht trocken.)
(Zwei weibliche Gestalten stehen im Publikum auf, betreten die Bühne, unterhalten sich angeregt.)
Frau 1: Er kann aber auch total niedlich sein!
Frau 2: Er hat dich jetzt das zweite Mal betrogen, krieg‘s endlich in deinen Kopf rein! Er ist ein Arsch und er hat dich nicht verdient!
Frau 1: Ja, aber… Du hättest den Blumenstrauß sehen sollen, den er-
Frau 2: (deutlich aufgebracht) Er verarscht dich! Von vorne bis hinten!
Frau 1: Ja, aber-
(Markus streckt neugierig seinen Kopf. Dann seufzt er und schüttelt ihn.)
Markus: Ahhh, Liebesdramen. Sie liebt ihn und er liebt sie aber die da hinten sieht auch nicht schlecht aus… Und das Ganze ausgefochten mitten auf der Straße, wo alle es mitbekommen. Also… mitbekommen würden. Wenn denn jemand zuhören würde. Tut aber keiner. Es ist einfach gruselig, wenn jemand dich belauscht, oder? Total unheimlich. Und unhöflich! (Er schaut den Frauen hinterher, die sich laut diskutierend entfernen.)
…Sie sollte sich wirklich von ihm trennen. Die Blumen waren sicher von der nächsten Tankstelle. 5€ höchstens. Wetten?
(Schweigen. Das Geräusch einer einfahrenden Straßenbahn, der nächste Schwall Menschen strömt über die Bühne, vorbei am Publikum, einige setzen sich auf freie Plätze.)
Markus: Huh. Das war eigentlich meine Bahn. Nicht, dass das irgendwie wichtig wäre. Kann schlecht zu spät zu einer Arbeit kommen, die ich gar nicht mehr habe.
(Er schaut aus dem Augenwinkel zu der Gestalt neben sich, die auf ihrem Smartphone herum tippt. In ihren Ohren stecken Kopfhörer. Man kann die Musik gedämpft hören.)
Markus: Da wird wohl jemand zehn Jahre eher taub werden, bei der Lautstärke. Kann‘s ihm nicht verübeln. Wer will so früh am Morgen denn schon von mörderischen Lehrerinnen und betrügenden Freunden hören? Oder von seltsamen, mittelalten Typen in abgewrackten Anzügen vollgetextet werden?
(Kurzes Schweigen. Er lauscht.)
Markus: Hey. Das Lied kenne ich sogar. Work, work, work. Ha! Ich sag’s ja. Ein großer, leuchtender Mittelfinger. Wenn ich arbeiten könnte, würde ich. Hab mir nicht aus Jux und Tollerei vier Jahre den Hintern in der Uni platt gesessen. Dafür waren die Sitze da deutlich zu unbequem. Aber was nützt dir ein Wirtschafts-Studium, wenn dein Boss Budget-Kürzungen vornimmt? Ah, richtig… Deswegen wurde ich rausgeschmissen. Glatt vergessen.
(Schweigen.)
Markus: Wenn wir schon von vergessen sprechen… (Er starrt auf seine Füße, deutlich beschämt) Hab glatt vergessen, meiner Frau davon zu erzählen. Ja. Ja, ganz recht. Ich verlasse jetzt seit zwei Wochen zur gewohnten Zeit das Haus und tue so, als würde ich zur Arbeit fahren. Weil ich zu feige bin, ihr die Wahrheit zu sagen. Will sie ja nicht enttäuschen. Das… hat sie nicht verdient. (Er schaut wieder auf.) Oh, denkt nichts Falsches von mir. Ich bin nicht wütend oder so. Es werden ständig Leute gekündigt. Sowas passiert. Dieses Mal war eben ich dran. (Er zuckt mit den Schultern.) So funktioniert Wirtschaft. Was nicht mehr gebraucht wird, wird entsorgt, um Platz für Neues zu machen.
(Schweigen. Markus schaut sich einige der vorbeilaufenden Menschen an.)
Markus: Das Gehirn ist ganz ähnlich. Das Gedächtnis besonders. Ich wette, keiner von euch erinnert sich an die Haarfarbe vom Schuljungen. Wie sahen die beiden Frauen von vorhin aus? Würdet ihr sie wiedererkennen? Ich nicht. All diese Menschen, alle, die ich in den letzten zehn Minuten gesehen habe… Ich würde sie nicht wiedererkennen. Hab mir ja nicht Mal Mühe gegeben, sie überhaupt richtig wahrzunehmen.
(Ein weiterer Schwall von Menschen, das Geräusch einer Straßenbahn.)
Markus: Niemand achtet hier so wirklich auf die anderen Menschen um sich herum. Das hier ist ein Ort, an den man kommt, um weiterzureisen. Hier bleibt man nicht länger als nötig. Also kann man die Gedanken auch schon einmal vorschicken. Ist sowieso viel angenehmer, wenn-
(Ein lautes Hupen unterbricht ihn. Markus zuckt zusammen. Die Gestalten verharren kurz, schauen alle in dieselbe Richtung. Ein wüster Fluch. Wie auf Kommando gehen alle gleichzeitig weiter.)
Markus: (Schaut weiter in dieselbe Richtung) Huh. Manche haben ihren Führerschein wohl wirklich im Lotto gewonnen.
(Markus schaut auf die Anzeigetafel, dann zurück ins Publikum.)
Markus: (erstaunt) Ihr seid ja immer noch da. Was denn? Hat eure Bahn etwa Verspätung? Wäre ja nichts Neues… (Kurzes Zögern) Oder hört ihr mir tatsächlich zu?... Ach, Unsinn. Ich quatsche doch nur vor mich hin. Das sinnlose, pseudo-poetische Gelaber eines Mannes, der zu viel Freizeit hat. Von mir werdet ihr nichts Interessantes erfahren, wirklich nicht. Wenn ihr so viel Zeit habt, nutzt die doch lieber, um den Buchladen da drüber zu besuchen. Der soll eine riesige Auswahl haben. Wollte da selbst schon immer mal hin, aber ich hatte nie die Zeit dazu. Morgens in die Bahn gestiegen, abends wieder aus und ab nach Hause.
(Schweigen.)
Markus: Oder vielleicht einfach mal komplett aus der Stadt raus? Urlaub machen, weit weg von Wolkenkratzern, Straßenbahnen und der grauen Menschenmenge. Kann ab und an ganz schön stickig werden, hm? Und der Alltagstrott wird auf Dauer einfach fürchterlich langweilig. Nicht, dass das mit dem Urlaub so einfach wäre. Muss ja auch erst Mal Geld dafür da sein. Und der Chef muss mitspielen. Meiner hat mir unbefristeten Urlaub geschenkt. Ziemlich großzügig, hm? (Er lacht trocken.) Meine Frau hat immer von Frankreich gesprochen. Nicht Paris, zu viel Ähnlichkeit hiermit. Irgendwo in die Wildnis, wo es Lavendelfelder gibt. Wildnis... Manchmal ist sie wirklich…
(Eine weibliche Gestalt rauscht, ein Kind in der Hand, auf die Bühne. Sie ist in großer Eile und zerrt es weiter, die Bühne herunter, vorbei am Publikum. Das Kind brabbelt unverständlich.)
Mutter: Na komm schon, wir verpassen sonst den Bus! Los, los, einen Schritt schneller, Schatz!
(Markus schaut ihnen hinterher, deutlich amüsiert.)
Markus: Ha. Die Eile in der Großstadt. Keiner hat mehr Zeit für irgendetwas. Wie klischeehaft. Und die, die Zeit haben, haben sie aufgedrückt bekommen. Wenn wir eine Wahl hätten, dann wären wir jetzt ganz wo anders, hm? (Er lacht trocken.) Das arme Kind. Wenn sie weiter so zerrt, kugelt sie ihm noch die Schulter aus. Mit Kindern muss man vorsichtig umgehen. Sonst werden sie auf dem Weg zur Schulleitung von Lehrerinnen mit Burn-Out und Aggressions-Problemen die Treppe herunter geschubst. Und davon möchte man doch wirklich nicht in der Zeitung lesen.
(Der Lärm einer weiteren, einfahrenden Straßenbahn. Markus schaut in die Ferne, stößt einen Seufzer aus.)
Markus: Manchmal braucht man jemanden, der einen voran zieht. Stehen zu bleiben funktioniert in einer Großstadt einfach nicht. Besonders nicht hier, wo alle an einem vorbei ziehen. Wo niemand Notiz von einem nimmt. Heute Abend, wenn ihr zu Hause seid, dann werdet ihr mein Gesicht genauso vergessen haben wie alle anderen. Vielleicht erzählt ihr eurer Familie von dem seltsamen Kauz, der euch ein Ohr abgekaut hat. Wenn das hier zumindest für einige Lacher gut ist, dann hat es immerhin ein paar von euch den Tag versüßt. Ist ja auch nicht schlecht… Schätze ich.
(Hinter dem Publikum nähert sich eine Frau der Bühne, etwa Mitte dreißig. Ihr Gesicht ist nicht von einer Maske bedeckt. Sie trägt ein Lächeln auf den Lippen und eine alte Handtasche über der Schulter, eine Bluse und Jeans. Zielstrebig geht sie auf die Bühne zu.)
Markus: Ich für meinen Teil… Keine Ahnung, was ich mache. Muss mir wohl ein neues Handy besorgen. Mein Geschwafel möchte ich niemandem weiter antun. Morgen also wieder hier, hm? Keine Sorge. Ich werde mich, wie jeder normale Mensch, einfach auf mein Handy konzentrieren und niemanden mehr zutexten. Ihr seid also erlöst. Gelobet sei der-
(Sein Blick fällt auf die Frau, die sich ihm nähert. Ihm entgleiten die Gesichtszüge.)
Markus: (beinahe heiser) Ella, was tust du denn hier?
Ella: (lächelt unentwegt) Ich wollte ein wenig einkaufen gehen.
Markus: Oh.
(Schweigen.)
Markus: Also, ähm… Meine Bahn hat Verspätung, und-
Ella: Ist schon gut. Ich weiß Bescheid.
(Markus erstarrt. Er ringt mit den Worten.)
Markus: Hör mal, Ella, ich wollte es dir wirklich sagen, aber-
Ella: Wir sind schon lange nicht mehr zusammen einkaufen gegangen. Hast du Lust?
(Markus verstummt. Er wirft einen Blick ins Publikum, dann zurück zu Ella. Sie schweigen für einige Zeit, dann steht Markus auf.)
Markus: (zögerlich) Es gibt da diesen Buchladen, den ich schon immer mal besuchen wollte.
(Ella greift seine Hand und lächelt ihm zu.)
Ella: Dann also dorthin.
Markus: Und schön die Hand auf die Tasche, sonst-
Ella:… bekommt der Inhalt Beine!
(Beide lachen, gehen von der Bühne, am Publikum vorbei. Markus schaut ins Publikum, zuckt mit den Schultern.)
Markus: Vielleicht sehen wir uns Morgen dann doch nicht. Gerade noch mal Glück gehabt, was?
(Markus und Ella verschwinden. Das Geräusch einer Straßenbahn, Stimmengewirr und Motorengeräusche werden kurz lauter, gesichtslose Gestalten schwärmen über die Bühne und am Publikum vorbei, dann verstummen die Geräusche endgültig und die Gestalten sind verschwunden.)
Personen:
JULIE
STIMME
GESCHÄFTSMANN
KOLLEGE
STUDENT
STUDENTIN
PASSANT 1
PASSANT 2
PASSANT 3
PASSANT A
PASSANT B
PASSANT C
Anmerkungen zur Besetzung:
Die Passanten 1, 2 und 3 sowie A, B und C können jeweils von derselben Person in verschiedenen Kostümen gespielt werden.
Anmerkung zur Aufführung:
Die Gespräche finden zeitgleich statt und werden immer wieder durch die Stimme unterbrochen. Sollten sich Unterschiede in der Sprechgeschwindigkeit ergeben, ist es kein Problem, den längeren Part abzubrechen und lautlos weiterzusprechen, während die Stimme zu hören ist. Die Passanten überqueren während dieser Dialoge die Bühne.
X. Szene
JULIE geht durch die Stadt, der STUDENT und die STUDENTIN vor ihr, der GESCHÄFTSMANN und sein KOLLEGE hinter ihr. Sie unterhalten sich gleichzeitig.
STUDENTIN. … schon irgendwie süß.
STUDENT. Ach ja?
STUDENTIN. War ja klar, dass du das mal wieder nicht verstehst.
STUDENT. Was erwartest du auch?
STUDENTIN. Ja, ja.
STUDENT. Jetzt komm schon …
STUDENTIN. Themenwechsel, okay? Wie laufen deine Klausuren so?
STUDENT. Bescheuertster Themenwechsel überhaupt.
STUDENTIN. Mach einen besseren Vorschlag.
(PASSANT 1 betritt zeitgleich vor Julie die Bühne, PASSANT A hinter ihr.)
PASSANT 1 (kommt auf Julie zu). Hey!
(Julie schaut auf.)
PASSANT A (kommt von hinten auf Passant 1 zu). Hey. (Umarmt ihn.) Oh Mann, dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.
(Julie wendet ihren Blick ab und geht weiter.)
PASSANT 1 (schnell). Ja, es ist schön, dich wiederzusehen, aber ich habe es leider ganz eilig … (Schaut auf die Uhr.)
PASSANT A. Na gut, ein anderes Mal.
PASSANT 1. Ja, bis dann!
(Passant 1 und Passant A gehen in verschiedene Richtungen ab.)
GESCHÄFTSMANN (zugleich). Das nervt schon.
KOLLEGE. Ja, aber es geht. Mir macht die Arbeit Spaß.
GESCHÄFTSMANN. Na wenigstens etwas.
KOLLEGE. Na ja, du hast ja auch zuhause noch etwas, worauf du dich freuen kannst. Meine Familie ist die Arbeit.
GESCHÄFTSMANN. Apropos, Molly lässt dich übrigens schön grüßen.
KOLLEGE. Oh, vielen Dank, grüß sie zurück. (Geschäftsmann und Kollege sowie Student und Studentin sprechen tonlos weiter.)
STIMME (von hinter der Bühne). Was tust du hier eigentlich? Gehst durch die Stadt, die du nicht kennst, voller Menschen, die du nicht kennst, und erwartest … ja, was erwartest du eigentlich? Du gehst einfach nur durch die Gegend. Was tust du hier eigentlich?
(Julie reagiert nicht auf die Stimme, starrt auf den Boden und geht weiter. Man hört wieder die Gespräche der anderen durcheinander.)
STUDENTIN. Das verstehe ich wirklich nicht. Und wenn man dich dann umbringt –
STUDENT (fällt ihr ins Wort). Dann starte ich wieder von vorne. Was ist daran so schwer zu verstehen?
STUDENTIN. Dass man überhaupt was spielt, wo man umgebracht werden könnte.
STUDENT. Wir leben nich in einer Friede-Freude-Ponyhof-Welt.
STUDENTIN. Trotzdem brauche ich keine Ballerspiele, um meine Zeit zu verbringen.
STUDENT. Nein, du liest lieber, wie sich die Menschen umbringen; viel kultivierter.
STUDENTIN (wie ein kleines Kind). Bäh.
(Der Student grinst schief.)
STUDENTIN. Aber wenn du es so siehst, könnte dir bestimmt was davon gefallen.
(Zeitgleich kommen PASSANT 2 und PASSANT B von vorne und überqueren die Bühne.)
PASSANT 2. Also bis Berlin ist das eigentlich immer ganz stabil, da kann man durcharbeiten.
PASSANT B. Ja, aber ich fahre bis Frankfurt, da geht das nicht, da sind ja auch so viele Tunnel auf dem Weg.
PASSANT 2. Ja, bis Hannover ist es in Ordnung und dann bricht es ab.
PASSANT B. Es ist unmöglich …
(Passant 2 und Passant B ab.)
KOLLEGE (zugleich). … da war sie noch im Kindergarten. Das war auf dem Firmenfest, weißt du noch?
GESCHÄFTSMANN. Ja, sie war ganz vernarrt in die Hüpfburg. Alles andere hat sie kein bisschen interessiert.
KOLLEGE. Immer noch besser als die anderen Kinder. Die saßen nur bei ihren Eltern. Da macht man ein Kinderfest und die haben keine Lust.
GESCHÄFTSMANN. Man muss es so machen, weil es früher so war.
KOLLEGE. Das sind alles die Eltern, die das vorleben. Immer nur am Handy.
GESCHÄFTSMANN. Viel ist aber auch geschäftlich. Ich würde ohne mein Handy in der Branche nicht überleben. (Das Handy klingelt. Der Geschäftsmann nimmt ab und spricht tonlos mit einem Kunden. Der Kollege wartet und schweigt, die Studentin und der Student unterhalten sich lautlos weiter.)
STIMME (von hinter der Bühne). Und alles sieht gleich aus. Ein Geschäft neben dem nächsten, immer wieder Leute, die deinen Weg kreuzen; du bemerkst sie zwar, aber du beachtest sie nicht. Wer weiß, wen du alles treffen könntest, aber nein, du gehst einfach stumm geradeaus. Immer weiter durch die immer gleichen Straßen dieser Stadt.
(Julie blickt sich um, schaut gedankenverloren die Straße hinunter und in ein paar der Schaufenster, geht aber stumm weiter. Man hört wieder die Gespräche der anderen durcheinander.)
GESCHÄFTSMANN. … bei Ihnen sein. … Auf Wiedersehen. (Legt auf.) Das war unser Kunde in Stuttgart.
KOLLEGE. Musst du schon wieder auf Geschäftsreise?
GESCHÄFTSMANN. Ja, ich fliege bald wieder, ist aber keine große Sache.
KOLLEGE. Wieso haben wir eigentlich keine Zweigstelle in Stuttgart? So oft wie du da hinfliegst.
GESCHÄFTSMANN. Frag das den Chef und nicht mich. Aber … ach, ich nehm’ halt meinen Laptop mit und arbeite in der Zeit. Dafür kann man die ja gut nutzen.
(Zeitgleich kommen PASSANT 3 und PASSANT C von vorne und überqueren die Bühne.)
PASSANT 3. Es war wunderbar. Nur Sonnenschein und dreißig Grad.
PASSANT C. Wirklich kein bisschen Regen?
PASSANT 3. Nicht ein Tropfen. Wir konnten den ganzen Tag am Strand liegen und es uns gut gehen lassen. Es war traumhaft!
PASSANT C. Du Glückspilz, ich …
(Passant 3 und Passant C ab.)
STUDENT (zugleich). Und wo musst du jetzt hin?
STUDENTIN. Ich hab doch dieses Tutorium für die Ersties.
STUDENT. Ja … ja, da war was. Welches Fach?
STUDENTIN. Linguistik.
STUDENT. Igitt.
STUDENTIN. Ach komm, hör auf, so schlimm ist das nicht.
STUDENT. Mit Deutsch konnt’st du mich schon in der Schule jagen. Bin froh, dass ich das nicht mehr mach muss. Wie kann man sich das überhaupt freiwillig antun? Viel zu trocken.
STUDENTIN. Übertreib nicht so.
STUDENT. Ganz ehrlich, wie viele machen bei dir mit? (Student und Studentin sowie Geschäftsmann und Kollege sprechen tonlos weiter.)
STIMME (von hinter der Bühne). Du solltest endlich mal etwas an deinem Leben ändern. Oder noch viel besser: Fang endlich damit an! Fang an zu leben! Ich weiß, dass du es kannst. Und du weißt es auch. Du musst es nur endlich wagen!
(Julie atmet tief und wird kurz langsamer, spürt aber den Geschäftsmann und seinen Kollegen näher kommen und geht weiter. Man hört wieder die Gespräche der anderen durcheinander.)
GESCHÄFTSMANN. Das sind ja meistens so Schlipsträger, Banker, die nach Stuttgart fliegen. Das hörst du ja immer, wenn die telefonieren; alles nur Zahlen. Und dann stehst du völlig zusammengequetscht im Flughafenshuttle und die reden mit ihren Kunden über Geheimhaltung und Datenschutz und so und alle in diesem Bus können zuhören.
STUDENTIN (zugleich). … auch. Ich hab schon überlegt, so was zu machen. Man hat einfach gemerkt, dass niemand was wusste, absolut niemand hat was dazu gesagt. Und – tschüss! (Wendet sich nach rechts.)
STUDENT. Ach, du musst da lang? Ich muss hier lang. Tschüss!
(Student und Studentin in verschiedene Richtungen ab.)
STIMME (von hinter der Bühne). Bitte, zeig mir doch wenigstens, dass du mich hörst …
(Auftritt STIMME. Sie bleibt vor Julie am Rand der Bühne stehen. Julie hält an, der Geschäftsmann und sein Kollege gehen an ihr vorbei und ab, ihre Münder bewegen sich lautlos.)
STIMME. Bitte … (Hält Julie eine Hand entgegen.)
JULIE (nach einer kurzen Pause). Ich komme. (Sie nimmt die Hand und beide gehen gemeinsam ab.)
Eine kleine, idyllische Stadt, beinahe noch ein Dorf, am Rande eines Wäldchens. Bewohnt von ruhigen, zurückgezogenen Menschen, die die Weltoffenheit der Großstädte fürchten. Ein Glockenturm in der Mitte der Stadt läutet zwölf Mal zur Mittagsstunde. Die Sonne steht im Zenit.
[Silas betritt die Hauptstraße]
Silas. Welch Anblick offenbart sich mir hier, so farbenfroh und lebendig?
Eine Stadt, so schön und doch noch nie gesehen.
Wo war ich all die Zeit, als die Stadt gewachsen?
Als sie wuchs aus nur einem Backsteinhaus?
Als Menschen diese Stadt zur Stadt dann machten?
Ein Bäcker streift den Weg von Silas, dieser atmet gierig den Duft des frischen Gebäcks ein. Silas schaut nach links und erblickt einen Schmied. Er lässt all diese Eindrücke auf sich wirken. Dann richtet sich sein Blick wieder auf den Weg vor ihn und die sich darauf befindliche Menschenmenge, die in der Hektik der Stadt ihr Leben lebt.
Silas. Die Stadt, sie lebt; des Bäckers Brot so zart,
der Schmied, er schmiedet seinen Lebensunterhalt.
Bewohner jagen von links nach rechts, von hier nach da.
Ihre Augen hektisch, sehen alles - und nehmen doch nichts wahr.
[passiert einen Jäger, der mit seinem Gewähr unsichtbare Ziele in der Luft zu jagen scheint]
Silas (zu sich selbst). So wie ein Bäckersmann sein täglich Brote backt,
so schießt der Jäger täglich seine Beute ab.
[ein kurzer Schauer überkommt ihn]
Wie es wohl sein mag, Leben für ein anderes zu nehmen?
Zu töten, was einem selbst zuvor nie etwas getan?
Schießt er aus Spaß, aus Freude?
Oder doch nur, um seinen Hunger zu stillen?
[Jäger bemerkt, dass er von Silas beobachtet wird, schmunzelt und tritt einen Schritt vor]
Jäger. Ay junger Freund, so tret' doch näher heran,
ich sehe doch, wie angetan du schaust
auf mein Gewähr, ein Prachtstück ist's, nicht wahr?
[lädt demonstrativ, lacht]
Nur keine Scheu, ich schieße nur auf Wild, das sich nicht wehren kann,
das kann nicht schreien und richtet keinen großen Schaden an.
Auf das Tiere dann werden mein Abendmahl,
und Geweihe zieren die Wand vor dem Kamin.
[Silas beäugt das Gewähr gleichwohl mit Skepsis und Faszination]
Silas. Doch eines will sich mir nicht ganz erschließen, Jäger:
Töten Sie die Tiere nur zum Spaß?
Sie sind doch wehrlos gegen solch eine Waffe, wissen kaum was geschieht.
Sie jagen die Unschuld - wieso?
Jäger. Ich will es ja erklären, nur fällt mir kaum was ein.
So frage ich dich, mein Freund:
Ein Fuchs tötet doch auch die kleine Maus, um seinen Hunger zu stillen.
Und ist dies grausam? Nennst du das Mord oder Not?
Ich nenne es den Lauf der Natur.
[die Glocke schlägt zur nächsten vollen Stunde]
Jäger. Die Zeit vergeht am Tage viel zu träge,
wann endlich bricht die dunkle Nacht herein?
Dann kann ich wieder jagen jenes Monster,
das Nacht für Nacht uns allen den Schlaf hier raubt.
Silas (hellhörig geworden). Monster? Wovon sprechen Sie?
Jäger. Du kommst aus dieser Stadt und weißt nicht, was dort draußen lauert?
Dann will ich es dir Naseweis mal erklären, damit du weißt, welches Leid die Stadt bedrückt.
Ein Tier bewohnt die Wälder, wenn man's Tier denn nennen kann.
Pranken, denen eines Löwen gleich,
Fell, verfilzt und voll Blut.
Man sagt, einer hätt' mal in seine Augen gesehen, und gesehen nur den blutroten Tod.
Jeder Zahn eine Waffe, weit tödlicher als jedes Gewähr.
So verschließen die Leute hier jede Nacht ihre Türen,
denn des Tags ward es noch nicht erblickt.
Doch geht erst der Mond auf, die Sterne verschlingend,
ertönt meist ein monströses Geheul.
Und seit mehreren Tagen ging die Sonne nicht auf, ohne dass ein weiteres Opfer gebracht.
Und so frage ich dich nochmals, junger Freund - Mord oder Not?
[Stille]
Silas (nachdenkend). So lass mich dir doch helfen heute Nacht,
mit zwei Jägern rechnet es nicht.
Ich lenke es ab und du schießt es dann nieder,
damit es kein Unheil mehr bringt in diese Stadt.
Jäger (Silas skeptisch betrachtend). Du dürrer Knabe? Ha!
Ich schätze deinen Willen und deinen Mut, doch du wärst binnen weniger Sekunden tot.
Das ist meine Aufgabe, genieß du lieber das Treiben der Stadt.
Nur wenn es dunkel wird such dir einen Unterschlupf,
damit nicht du morgen die Schlagzeilen zierst.
Silas (enttäuscht). Wie Sie wollen.
[Jäger ab.]
[Silas nimmt seinen Marsch über die Hauptstraße wieder auf. Es ist später Nachmittag, die Sonne steht tief. Vogelgezwitscher begleitet Silas. Er denkt noch lange über die Geschichte des Jägers nach.
Silas. Kann es wirklich etwas geben, das so grausam ist und mordet?
Das die Menschen dieser Stadt in Angst und Schrecken versetzt?
So viele Menschen, so viele gelebte Leben.
So viele Leben -
[passiert eine Brücke, auf ihr ein sich innig umarmendes Paar]
- so voller Liebe, Hoffnung.
So viele Leben -
[schaut in den Fluss unter der Brücke, sieht Fragmente, die die Form von Knochen haben]
- voll Angst, Verderben, Tod.
[Silas geht gedankenverloren weiter, die anfängliche Euphorie über die Schönheit der Stadt lässt schnell nach]
Silas. Weshalb nur war ich niemals zuvor hier?
In einer Stadt, die mir doch alles zu bieten scheint?
So kommt sie mir bekannt vor und doch fremd.
So ist sie doch wie jede andere Stadt -
hat Glockenturm, Marktplatz, Brunnen, Häuser -
und dennoch liegt etwas über ihr - nur was?
Wenn ich's doch nur erfassen könnte.
[Fensterläden klappern, die ersten Türen werden bereits verriegelt. Das morgendliche Treiben der Stadt löst sich langsam auf. Nur noch gelegentlich kreuzen Menschen den Weg von Silas]
Silas. So schnell überkommt einen in einer lebendigen Stadt also die Einsamkeit.
Ob ich noch einen Ort finde, an dem die Leute sich noch zu später Stunde einfinden, vergnügen?
Ebenso, wie sie es des Tags in der Stadt tun?
[Schall drängt an sein Ohr, aus einer engen Seitengasse kommend]
Ich denke, ich habe jenen Ort gefunden - eine Taverne!
[Silas betritt die Taverne]
Welch' Sinne werden hier alle betört?
Der Duft von benebelnden Durstlöschern, welche die Realität verschwimmen lassen;
der Klang der Musik, tief, dunkel, melodisch,
bis sie sich irgendwann in das Unterbewusstsein der Menschen drängt;
all' die schönen Menschen, die tanzen, ausgelassen sind, und die Nacht nicht zu fürchten scheinen.
Dieser Ort macht die Stadt nachts fast lebendiger als am Tage.
[Silas setzt sich an einen langen Tisch neben eine ihm unbekannte Frau. Sie hat lange, kastanienbraune Haare. Sie heißt Ariadne]
Ariadne (beobachtet Silas). Oh, bist du neu hier in der Stadt? Oder haben dich meine Augen schon einmal erblickt?
Doch gewiss würde ich mich an dich erinnern,
drum sag, wie ist dein Name, fremder Mann?
Silas (fasziniert von Ariadne). Du hast Recht, ich bin neu in dieser Ortschaft,
und doch fühle ich mich heimisch und wohl.
Silas der Name, doch viel wichtiger ist der deine.
Ariadne. Ich heißt Ariadne. Sehr erfreut.
Also, was genau führt dich denn hierher?
Silas. Um ehrlich zu sein - ich weiß es nicht mehr.
Plötzlich war ich einfach da.
Doch so wie ich das sehe, sollte ich dankbar sein,
Schließlich hätte ich sonst dich nicht getroffen.
[Eine angenehme Stille legt sich über die beiden, sie schauen einander in die Augen und vergessen die Zeit]
[Später am Abend, beide haben bereits mehrere Trünke auf]
Ariadne. Es ist schon so spät, der Mond geht bald auf,
dann leeren sich die Straßen und kein Mann geht mehr hinaus,
aus Angst vor der Bestie, die dort lauert in der Nacht.
So lass' uns doch hinauf gehen in eines der Zimmer,
dort werden wir sicher sein bis in den Morgen.
Silas. Oh glaub mir, ich würde nichts lieber tun,
doch es scheint, als würde mir der Lusttrunk nicht bekommen.
Mein Kopf pocht eigenartig, meine Sicht verschwimmt -
ich glaube, der Trubel der Stadt hat mir zu schaffen gemacht.
Ich sollte hoch gehen und schlafen, auch wenn es nicht das ist, was ich ersehne.
Ariadne (etwas enttäuscht, aber lächelnd). Na gut, Silas. Es kann tatsächlich sehr ermüdend sein, sieht man eine Stadt wie unsere zum ersten Mal.
[Sie lehnt sich vor und haucht Silas einen zarten Kuss auf die Wange]
Dann gute Nacht und pass auf, dass dir die Bestie nicht des Schlaf raubt. [ab.]
[Silas geht die Treppe hinauf in sein gemietetes, kleines Zimmer. Er zieht sich aus und legt sich auf eine kleine Pritsche, die ein Bett darstellen soll. Vor seinen Augen dreht sich alles]
Silas. Was ist nur dieses Gefühl in meiner Brust?
Hätte ich sie doch nicht gehen lassen sollen?
Sie war wie ein Engel, so gütig und rein,
hach, ich sehne mich nach ihrer Nähe.
[Ein pochender Schmerz in seiner Brust lässt Silas hochfahren]
Welch Leid überkommt mich da?
Was tat ich, um solch Schmerzen zu verdienen?
Ist das denn gerecht, so kurz nachdem ich einen Engel traf?
[langsam wird ihm schwarz vor Augen]
Sollte es jetzt mit mir zu Ende gehen, so ist mein größter Wunsch
ein letztes Mal noch Ariadne zu sehen.
[Silas verliert das Bewusstsein.]
[Einige Zeit ist vergangen. Ariadne kommt nicht umhin, doch noch zu Silas' Zimmer zu schleichen und leise an die Tür zu klopfen]
Ariadne. Silas? So öffne doch die Tür und lass mich rein,
der Tag heute soll noch nicht zu Ende sein.
[keine Antwort, aber Geräusche wie von berstendem Holz durchbrechen die Stille]
Ariadne (ängstlich, mit zitternder Stimme). Silas? Alles in Ordnung?
[Langsam öffnet sie die Tür, nur um zu sehen, was man hätte erahnen, aber niemals wissen können.
Der Raum ist mit einer unheimlichen Stille bedeckt, silbriges Licht scheint durch ein schräg liegendes Dachfenster. Es lässt eine Silhouette erahnen, vor der Pritsche hockend. Schwerer Atem dringt aus dem Schatten hervor, man kann eine kleine Wolke sehen, so kühl ist es in dem Raum. Es ist Silas' Silhouette - und dann auch wieder nicht. Es bewegt seinen Kopf, schaut Ariadne direkt an - mit Augen, rot leuchtend wie Blut. Mit Augen, denen nichts menschliches mehr innewohnt.]
Ariadne (schreit). Silas?!
[Der Mond war aufgegangen.]
Ein Vater, eine Mutter und deren Kind betreten an einem heißen Tag ein Lokal. Sie setzen sich an einen kleinen Tisch, in die Ecke des Gastraumes. Der Raum ist nahezu komplett verdunkelt, Vorhänge verstecken die Außenwelt. Nur das sanfte Licht der Kerzen koppelt sich mit dem Leuchten der Rettungswegschilder an jeder Tür und lässt die Schweißperlen auf der Haut glänzen. Der Vater schaut auf sein Handy, tippt lautstark darauf herum, wendet sich ab und geht. Auch wenn das Radio an ist, kann man es in der Ferne leise donnern hören.
KIND quengelnd: Mir ist warm.
SIE: Ich weiß, mein Schatz.
Bevor das Kind sich an die Mutter klammern kann, stößt sie es weg.
KIND schaut sie an und trampelt: Mama, mach etwas! Mir ist warm!
SIE zieht das Kind auf den Stuhl: Hör auf, setz dich endlich hin. Mir ist doch auch warm, da brauchen wir nicht kuscheln!
KIND schreit die Mutter an: MAMA! Mir ist warm! Warum gehen wir nicht raus?
SIE zischt genervt: Frag deinen Vater.
KIND: Wie denn? - Er ist nie da! – Er schaut nur auf sein Telefon! –
SIE versucht die Ruhe zu bewahren: Das wird schon seine Gründe haben.
KIND auf das Fenster zeigend: Können wir wenigstens das Fenster öffnen?
SIE: Nein.
KIND grübelt und schaut sich um: Hmm – Können wir -
SIE: Denk bloß nicht darüber nach, wir werden auch kein ein anderes Fenster öffnen!
Enttäuscht setzt sich das Kind wieder hin und sucht nach einer Beschäftigung. Es nimmt die Tasche der Mutter, kramt darin herum und findet einen alten Reiseführer. Auf dem vergilbten, zerfledderten Buch steht „Berlin“ drauf. Das Kind blättert darin um und schaut sich Bilder von dem Fernsehturm, dem Brandenburger Tor, dem Reichstag und der Siegessäule an. Die kleinen Texte kann es noch nicht gut lesen, vielleicht ein paar Zahlen. Es hat schon aufgegeben, die Mutter darum zu bitten, ihm etwas vorzulesen. Die Mutter ist abwesend, laut atmet sie durch, blickt sich nach ihrem Mann um, doch findet ihn nicht. Währenddessen kommt das Donnern näher und ein Kellner geht unbesorgt auf den Tisch zu.
KELLNER fröhlich: Guten Tag!
SIE blickt verwirrt auf: Oh, hallo!
KELLNER: Darf ich Ihnen schon etwas vorbeibringen? Möchten Sie ein Getränk oder eine kleine Mahlzeit?
SIE stottert: Ähm – naja – ich wollte – wir wollten eigentlich zusammen bestellen – ich, ich warte noch auf meinen Mann.
KELLNER: Ich verstehe. Er macht eine Kopfbewegung in Richtung des Kindes Soweit ich mitbekommen habe, könnte Ihr Kind eine kleine Erfrischung vertragen.
SIE: Sicher. Schatz? Tippt das Kind an Möchtest du etwas trinken? – Warte – Was hast du da?
KELLNER schaut über den Kopf des Kindes herüber: Mensch, der Alexanderplatz. Da habe ich als Jugendlicher viel Zeit mit meinen Freunden verbracht! An der Weltzeituhr haben wir uns getroffen und dann sind wir gelaufen, gelaufen, gelaufen. Bis die Sonne untergegangen ist!
KIND murmelt unverständlich: Der Alexanderplatz? Die Weltzeituhr?
KELLNER ganz euphorisch: Und dann sind wir gemeinsam nach Hause gefahren, mit der U-Bahn! Warten Sie – Wie hieß denn gleich die – Mir fällt es gleich ein -
SIE: Das müsste die U5 gewesen sein.
KELLNER laut lachend: Genau, genau! Bis nach Hönow musste ich raus. Da bin ich sicherlich viele Jahre gefahren, vielleicht war es auch nur ‘ne Stunde!
SIE lächelt dezent: So oft war ich gar nicht in der Stadt, ich bereue es ein bisschen.
KELLNER stemmt die Hände in die Seite: Bei mir ist das auch ein paar Jährchen her!
KIND murmelt: Ein paar Jahrzehntchen trifft es eher.
SIE gibt dem Kind einen leichten Hieb in den Hinterkopf: Mensch! Nicht so frech!
KELLNER: Der Kleene hat Recht, wir müssen hier nichts beschönigen. Wie Berlin – wie Berlin bin auch ich gealtert. Mittlerweile ist meine Jugend auch gut 60 Jahre her, 77 dürfte ich nun sein – mindestens - irgendwann habe ich aufgehört zu zählen! Das macht mein Mann für mich! Er lacht herzlich.
KIND: Können wir auch mit der U-Bahn fahren?
SIE überlegt: Ich weiß gar nicht, fährt die überhaupt noch?
KIND: Doch! Das steht hier drin! Es hebt das Buch hoch und fuchtelt damit herum.
KELLNER: Soweit ich weiß, hat die Stadt den Betrieb vor ein paar Jahren eingestellt. Tut mir leid, Kleiner.
KIND enttäuscht: Hmm – okay - Ich hätte gerne eine Cola.
SIE: Zwei, bitte.
Der Kellner wischt sich unauffällig den Schweiß von der Stirn, schnappt sich eifrig das kleine Notizbuch aus seiner Hosentasche, schreibt sich die Bestellung auf und nickt mit dem Kopf. Bevor er geht, klopft er dem Kind noch einmal auf die Schultern und verschwindet danach hinter dem Tresen.
KIND legt das Buch vor die Mutter: Warum sind wir in Berlin, wenn wir nichts von dem hier machen?
SIE: Dein Vater und ich wollten das alles mit dir machen, aber –
KIND: Aber was? Warum sind wir nirgendswohin gegangen?
SIE: Schatz –
KIND verzweifelt: Wo sind die ganzen Sachen hin? Hier ist gar nichts! Alles ist grau, voller Staub, kaputt! Sind wir überhaupt in Berlin?
SIE legt einen Arm um das Kind: Das fragen wir uns –
KIND wirft den Arm der Mutter herunter und setzt sich einen Stuhl weiter: Es ist zu warm um zu kuscheln.
SIE atmet aus.
Bevor der Kellner zurück kommt, blättert das Kind noch ein paar Seiten durch den Reiseführer. Auch die Mutter wirft ab und an einen Blick hinein. Der Schweiß tropft nur so von der Stirn, von dem Vater ist noch immer keine Spur – Die Mutter versendet ein paar Nachrichten. Mittlerweile wird das Donnern immer lauter.
KELLNER stellt die Gläser ab: Für die hübsche Dame und den kleenen Herrn: Zwei Gläser erfrischende Cola!
SIE: Vielen Dank.
KIND: Dank –
Ein Krachen unterbricht das Kind, vor lauter Schreck lässt der Kellner fast ein Glas fallen. Im Regal hinter dem Tresen wackeln die Gläser, die Kerzenflammen schaukeln leicht.
KIND fragend: Gewittert es? Das haben die gar nicht angesagt?
KELLNER macht den Vorhang auf: Draußen scheint die Sonne. Ausnahmsweise hat der Wetterbericht nicht gelogen.
SIE sagt leise: Es wird doch nicht –
KIND: Was wird es nicht?
KELLNER reißt die Augen auf: Ich mach das Radio lauter.
Der Kellner bewegt sich mit zügigen Schritten zum Tresen, dreht das Radio lauter.
RADIO-ANSAGE: […] Die Flugzeuge befinden sich momentan schon auf den direkten Weg über der Hauptstadt. Wir bitten alle Anwohner unverzüglich Schutz zu suchen. Verwenden Sie dabei die vorhandenden Keller, verhalten Sie sich ruhig. Wir bitten Sie –
Die Gäste im Lokal werden laut und unruhig.
KELLNER schaltet das Radio wieder leiser und erhebt seine Stimme: Werte Gäste, mögen Sie mir bitte zügig und direkt folgen. Lassen Sie alles stehen und liegen!
Der Kellner geht voran und weist den Gästen den Weg.
KIND blickt um sich: Was passiert hier?
GAST wütend und mit den Armen fuchtelnd: Wundert mich nicht, dass das passiert. Die Regierung hat es provoziert. Was anderes können sie nicht!
WIRT: Jetzt sein ‘se doch mal still!
SIE das Kind an die Hand nehmend: Komm mit, Schatz.
KIND steckt heimlich das Buch mit ein.
Gemeinsam laufen alle in den Luftschutzkeller hinunter. Die Luft ist stickig, warm, erdrückend und viele ältere Gäste atmen schwer. Der Kellner schließt die große Stahltür mit einem kräftigen Ruck, verteilt Wasserflaschen. In dem Raum befindet sich neben Bänken, Stühlen, dem Radio und ein paar Zeitschriften, auch Nahrungsbehälter, eine Digitaluhr mit Kalender, Decken. Über den Leuten hört man das Pfeifen fallender Bomben, Donnern und Krachen.
SIE besorgt: Ich kann deinen Vater nicht erreichen.
KIND: Wo ist er? Wohin wollte er?
SIE: Ich weiß es nicht.
KELLNER setzt sich zu den beiden: Berlin ist auch nicht mehr das, was es mal war.
KIND trotzig, verschränkt die Arme: Berlin ist eine Lüge, es gibt es gar nicht.
KELLNER lacht: Kind, Bielefeld gibt es nicht, aber Berlin, Kleener, Berlin ist keine Lüge. Berlin hat gelebt, wir haben es gelebt. Alles, was du in deinem Buch gesehen hast –
KIND holt das Buch hervor.
KELLNER nimmt das Buch und streicht herüber: Das Buch mag zwar von 2017 sein, aber glaub mir, Kleener: All das, das war real. Es war nicht nur Staub, es gab grüne Parks, viele schöne Feste und Menschen. Meine Güte gab es viele Menschen in Berlin! Doch viele sind gegangen, es war Ihnen zu voll, zu laut und irgendwann zu warm. Die Temperaturen stiegen und stiegen. Welcher Tag ist es eigentlich?
KIND schaut auf den Kalender: 14. Dezember 2077.
KELLNER: Im Dezember lag in meiner Jugend noch Schnee, heute zerfließen wir im Schweiß. Weißt du, früher kam der Weihnachtsmann mit dem Schlitten, heute muss er wahrscheinlich mit einem Boot fahren!
Der Kellner und das Kind lachen herzlich, auch die Mutter scheint etwas entspannter. Der Kellner erzählt von seiner Jugend, von all den Sehenswürdigkeiten Berlins und den Dummheiten, die er mit seinen Freunden damals angestellt hat. Es donnert laut.
SIE legt den Arm um das Kind: Schatz, was wünscht du dir eigentlich zu Weihnachten?
KIND lehnt sich an die Mutter: Antworten.
Max geht aus
Erste Szene
Der Vorhang geht auf. Ein kahler Gang, beleuchtet von Leuchtstoffröhren. Am hinteren Ende, in der Mitte ein Schild mit der Inschrift "Ausgang 3". Zwei Wächter sitzen in einem kleinen Räumchen neben dem Ausgang und schauen durch ein Fenster auf den Gang. Max, in einem ehemals feinen, aber zerknitterten Anzug gekleidet, kommt den Gang entlanggelaufen und wendet sich an die beiden Männer.
Max Einen guten, nein, prächtigen Morgen wünsche ich Ihnen!
Wächter 1 Morgen.
Wächter 2 Guten Morgen, Max.
Max Wunderschöner Tag heute, oder?
Wächter 1 Es regnet draußen.
Wächter 2 Und es ist kühl, ziemlich sogar.
Wächter 1 Und neblig.
Wächter 2 Und neblig, genau.
Max Ach, solches Wetter macht den Kopf klar, nicht wahr?
Wächter 2 Ja, stimmt.
Wächter 1 Keine Ahnung.
Wächter 2 Keine Ahnung.
Max Wie dem auch sei, ich darf heute raus.
Wächter 1 Schon wieder? Warst du nicht erst vor Kurzem draußen? (blättert durch Akten)
Max Vor einem halben Jahr.
Wächter 1 Tatsächlich.
Wächter 2 Haste schon was geplant?
Max Oh ja! Ich treffe mich mit meiner Tochter in der Stadt.
Wächter 2 Schön, schön!
Wächter 1 Wenn das so ist, hast du sicher keine Zeit zu verlieren. Los, raus mit dir.
Max Sehr wohl! Wir sehen uns dann heute Abend. Spätestens um 20 Uhr, richtig?
Wächter 1 Ja, sei gefälligst pünktlich.
Wächter 2 Genau, komm nicht zu spät.
Max Werde ich bestimmt nicht. Nun denn meine Herrschaften, machen Sie es gut!
Wächter 1 Jetzt mach schon, raus mit dir.
Wächter 2 Na los doch.
Zweite Szene
Eine kleine, abgedunkelte Gaststätte. Draußen über der Tür hängt die Inschrift „Zum ulkigen Schaffner“. Leise spielt ein Radio im Hintergrund. Pierre sitzt gelangweilt hinter dem Tresen und starrt in den leeren Speiseraum. Die Tür klingelt leise, als Max die Gaststätte betritt.
Max Mensch Pierre, lange nicht gesehen!
Pierre Max! Schon wieder Ausgang?
Max Ja, endlich wieder. Machst du mir einen Espresso?
Pierre Kannst du auch zahlen?
Max Natürlich. (Max legt Geld auf den Tisch, Pierre nimmt das Geld)
Pierre Kommt mir gar nicht so lange vor, dass du das letzte Mal hier warst.
Max Ein halbes Jahr kann schnell vorbeigehen.
Pierre Naja, für dich bestimmt nicht. Max , sag mal...
Max Ja?
Pierre Mein Sohn ist ja jetzt der Schülerzeitung beigetreten…
Max Großartig!
Pierre …da dachte ich mir, dass es sich anbietet, wenn er dich zu der Sache interviewt. Das würde sicherlich einen guten Artikel hergeben, meist du nicht?
Max Sicherlich. Die Besuchszeiten sind immer Donnerstags von…
Pierre Aber Max, ich lasse meinen Sohn doch nicht extra zur JVA rüberfahren, was würden denn die Leute sagen?
Max Ich kann ihn auch anrufen.
Pierre Das ist doch unnötig. Warte, er ist bei einem Freund, kommt aber bestimmt gleich wieder. Setz dich doch hin, trink deinen Latte und warte eben auf ihn.
Max So viel Zeit habe ich nicht…
Pierre Ach was, du bist doch bestimmt froh, mal ein normales Gespräch zu führen?
Max Ein normales Gespräch zu führen?
Pierre (unsicher) Ja.
Max (steht auf) Es tut mir Leid, aber ich treffe mich bald mit meiner Tochter.
Pierre Tatsächlich?
Max Ja, wahrhaftig.
Pierre Sie war schon immer eine gute Seele, nicht wahr?
Max (geht) Ja, das ist sie. Mach’s gut, Pierre. War schön dich zu sehen.
Pierre Jetzt warte doch, was ist mit deiner Latte?
Die Tür klingelt leise, als Max die Gaststätte verlässt.
Dritte Szene
Ein Taxi, der Fahrer schläft. Max klopft an die Scheibe und der Fahrer fährt erschreckt hoch.
Max Guten Morgen!
Fahrer Hallo! (reibt sich die Augen) Wo willst Sie hin?
Max Zum Gänseteich.
Fahrer Gänseteich? Ich nicht kennen. Vielleicht Entenpark? Da kommen auch Gänse manchmal.
Max Ich bin mir nicht sicher. Meine Tochter meinte, es gäbe einen Gänseteich im Westteil der Stadt…
Fahrer Achso, Gänseteich? Wieso Sie nicht gleich gesagt? Steigen Sie ein!
Max Sicher.
Fahrer Sie treffen sich also mit ihrer Tochter?
Max Ja. Habe sie schon lange nicht mehr gesehen.
Fahrer Schön für Sie, meine Kinder gehen mir jeden Tag auf Gespenst. Ständig fragen sie: Und Papa, wie viele Betrunkene hast du heute nach Hause gebracht? Und ich sage immer: Zu Viele. (lacht)
Max Meine Tochter fragt mich nicht mehr so viel.
Fahrer Seien Sie froh! Sind zu viele Fragen. Da ist Frau besser, fragt immer Gleiche (lacht).
Sie sitzen eine Weile schweigend da.
Fahrer So, wir endlich da! 20,30 Euro bitte.
Max Hier, bitteschön. Behalten Sie den Rest und kaufen Sie etwas Gutes für ihre Kinder. Oder ihre Frau.
Fahrer Vielen Dank der Herr, machen gut! (Fährt davon)
Vierte Szene
Eine kleine, gelbe Telefonzelle neben einer Laterne. Die Laterne geht flackernd an, als Max die Telefonzelle betritt.
Max Verdammte Scheiße. (Kramt im Geldbeutel) So. (Schmeißt mehrere Münzen in den Münzschlitz und wählt eine Nummer) Los, los, los, geh ran, geh ran, geh ran! (Tritt ungeduldig von einem Bein auf das andere) Hallo? Hallo, ich bins! Luise Schatz, wie geht es dir? Was? Ja, ich bin es! Natürlich bin ich im Park! Was? Ich höre dich schlecht, was? Ja, ich bin im Park! Was? Arbeit? Ja… Nein, aber… Es ist doch Sonntag? …Nein, nein… Hast du das nicht schon gestern gewusst? Nein, das will ich natürlich nicht… Ja… Nein, ich habe kein Handy... Ja, aber letztes Mal sagtest du… Nein, ich kann meinen Ausgang nicht planen! Ich sollte überhaupt froh sein, dass ich ihn bekommen habe! Und jetzt? Was hätte ich denn machen sollen? Nein, das geht nicht. Ich muss in zwei Stunden wieder zurück! Was? Nein! Hallo? Hallo? Luise? Hallo?
Fünfte Szene
Am Eingang zur JVA.
Wächter 2 Mensch Max, wieder zurück?
Max Ja.
Wächter 2 Aber es ist erst 18 Uhr?
Max Ja.
Wächter 2 Sag Mal Mensch, deine Augen sind total rot.
Max Wirklich?
Wächter 2 Ja! Du hast doch nicht etwa deinen freien Tag mit Gras verschwendet, oder?
Max Aber nein…
Wächter 2 Na, das will ich doch auch hoffen! Wars denn gut? Hatts’te Spaß?
Max Sicher, und wie! Wie letztes Mal auch.
Wächter 2 Und deine Tochter?
Max Wird mit jedem Tag schöner.
Wächter 2 Achja? Dann musst du sie mir mal vorstellen!
Max Ich…
Wächter 2 Mensch, ich mach doch nur Spaß, kein Grund, bockig zu werden! Also dann Max, mach’s gut! Der Lohn versäuft sich nicht von allein!
Max Ja, bis morgen.
Wächter 2 Und übermorgen! Und der Tag darauf auch, du weisst ja Bescheid. Bis dann!
Max Ja, bis dann.
Vor dem Bahnhof von Illumina City. PERDITA studiert eine Straßenkarte und blickt sich suchend um. Auftritt EXORZISTIN.
PERDITA: Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir vielleicht helfen? Ich suche die Herbstallee 3 und bin leider fremd hier. Könnten Sie mir nicht den Weg erklären?
EXORZISTIN: Der Herr Arceus ist unser Hirte. Er wird sich all der verlorenen Voltilamm annehmen und sie führen.
PERDITA: Auch in die Herbstallee 3?
EXORZISTIN: Er führt uns zu unser aller Seelenheil. Amen.
PERDITA: Klingt nett, aber ich möchte vorerst nur in die Herbstallee 3.
EXORZISTIN: Wir sind alle wie gefallene Blätter im Herbstwind, faul, kränklich und schwach. Wir haben uns von dem Baum, der uns nährt, zu weit entfernt und treiben rastlos im Sturm. Aber der Herr Arceus …
PERDITA: Sie wissen den Weg also nicht?
EXORZISTIN: Doch, ich kenne den Weg. Den Weg zu Arceus.
PERDITA: Aber …
EXORZISTIN: Es ist der einzig wahre Weg. Alle anderen Wege sind Täuschung und führen zum Teufel Giratina, und die Zahl des Giratina ist vierhundertsiebenundachtzig und …
PERDITA: Ich will bestimmt nicht zu Giratina oder zu einer Vierhundertsiebenundachtzig. Ich möchte nur in die Herbstallee 3.
EXORZISTIN: Aber du, mein Kind, bist verloren in dieser großen Stadt, diesem modernen Babylon voll der schändlichen Sünde …
PERDITA: Ja, also, danke. Ich glaube, ich frage besser jemand anderen.
EXORZISTIN: Und so lehnst du den Weg ab zu Arceus und zu dem ewigen Seelenheil, doch ich sage dir: Gewaltig wird sein Zorn über dich hereinbrechen.
PERDITA: Ich gehe den Weg zu ihm einfach später. Erst muss ich in die Herbstallee 3.
EXORZISTIN: Doch ein Weg, der heute offen ist, kann morgen versperrt sein. Amen, ich habe dich gewarnt.
EXORZISTIN ab. Auftritt ZWILLINGE.
PERDITA: Hallo, ihr beiden, ihr wisst nicht zufällig, wie ich in die Herbstallee komme? Ich muss dort zur Hausnummer 3.
ERSTER ZWILLING: Da gehen Sie am besten erst nach rechts …
ZWEITER ZWILLING: (gleichzeitig) Da gehen Sie am besten erst nach links …
PERDITA: Moment, nach links oder nach …
ERSTER ZWILLING: Und dann biegen Sie nach dreihundert Metern nach links ab …
ZWEITER ZWILLING: (gleichzeitig) Und dann biegen Sie nach fünfhundert Metern wieder nach links ab …
PERDITA: Halt, halt, was denn nu…
ERSTER ZWILLING: Dann müssen Sie nur noch am Pokémon-Center rechts vorbeigehen und sich nach links wenden, dann sind Sie schon da. Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen!
ZWEITER ZWILLING: (gleichzeitig) Dann gehen Sie nur noch an dem Café links vorbei und wenden sich nach rechts, dann sind Sie schon da. Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen!
ZWILLINGE ab.
PERDITA: Nun, es sind ja noch Kinder.
Auftritt WEISER.
PERDITA: Guten Tag, mein Herr. Ich bin fremd hier und wollte sie fragen, ob Sie vielleicht den Weg zur Herbstallee 3 wissen und ihn mir erklären ...
WEISER: Ob ich das weiß? Nun, wenn ich, nur einmal angenommen, eine Vorstellung davon hätte, wie man nach Nouvaria kommt, ohne den Weg wirklich jemals selbst gegangen zu sein und ohne, dass man ihn mir wirklich erklärt hätte …
PERDITA: Ich will aber doch gar nicht nach Nou…
WEISER: … und mich jemand fragen würde, ob ich ihn dorthin führen könnte und zudem meine Vorstellung, obgleich nur zufällig vorhanden, tatsächlich wahr sei, so wäre es doch unbestritten, dass ich den Fragesteller genauso gut dorthin zu führen in der Lage wäre, wie wenn ich diesen Weg eintausendmal am Tage zu gehen pflegte und ihn wahrhaftig kennen würde, oder nicht?
PERDITA: Was?
WEISER: Jedoch, obgleich der Erfolg in dieser Situation der gleiche wäre wie wenn man sagen würde, ich wüsste den Weg, so stellen wir doch fest, dass zu einer zufällig wahren Meinung etwas hinzukommen muss, wollen wir von Wissen sprechen, nämlich so etwas wie eine Angabe von Gründen, warum ich an diese Meinung glaube, ebenso lehrt uns dieses Beispiel doch vortrefflich, dass der Erfolg, der aus wahren Überzeugungen folgt, nicht zur Erklärung des Mehrwertes tatsächlichen Wissen beitragen kann. Ich sage nun also: Um etwas zu wissen, darf diese gewusste Meinung nicht nur von uns geglaubt werden und wahr sein, sondern wir müssen auch gute Gründe haben, sie anzunehmen und an ihre aufrichtige Wahrheit zu glauben.
PERDITA: Das ist wirklich sehr … interessant, aber wenn Sie mir vielleicht dann einfach sagen könnten, ob Sie …
WEISER: Und eben darum muss ich notwendigerweise sagen, dass ich den Weg nach Nouvaria nicht weiß, auch wenn ich zufällig richtig liegen könnte – doch wer würde sich auf den Führer verlassen wollen, der im Grunde genauso blind ist wie man selbst?
PERDITA: Sie wissen also nicht, wie ich nach Nouva… zur Herbstallee Nummer 3 komme?
WEISER: Nun …
Ein Dartiri kackt ihm auf den Kopf.
WEISER: Verfluchte niedere Kreaturen! Man sollte sie alle entfedern, damit man sie teeren und wieder federn kann!
WEISER zornig ab. Auftritt TOURISTIN.
PERDITA: Entschuldigen Sie …
TOURISTIN: Entschuldigen Sie, Sie wissen nicht zufällig, wie ich zum Prismaturm komme?
PERDITA: Äh … Ich bin fremd hier.
TOURISTIN: So ein Zufall, ich auch.
PERDITA: Ja, also eigentlich wollte ich Sie gerade fragen, ob Sie den Weg zur Herbstallee 3 wissen.
TOURISTIN: Sie sind ja witzig. Ich habe doch gerade gesagt, dass ich hier auch fremd bin.
PERDITA: Ja, das weiß ich ja jetzt auch.
TOURISTIN: Nun, was fragen Sie mich dann noch?
PERDITA: Ich habe doch nur …
TOURISTIN: Jetzt halten Sie mich mal nicht auf. Ich muss heute noch den Prismaturm und das Museum sehen, dann in diesen Saftladen, will sagen, die Saftbar und dann fährt wohl auch schon mein Bus nach Romantia City ab … Was ich damit sagen will: Ich habe wirklich nicht die Zeit, mir hier ihr ausschweifendes Geschwätz anzuhören.
PERDITA: Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit.
TOURISTIN: Wie bitte?
PERDITA: Nichts. Schönes Wetter heute.
TOURISTIN: Sehen Sie, genau das meine ich. Ich habe keine Zeit, um über das Wetter zu reden! (im Weggehen) Bah, Touristen …
TOURISTIN ab.
PERDITA: Die Menschen hier sind seltsam.
Auftritt HEXE.
PERDITA: Wirklich sehr, sehr seltsam …
HEXE: Sie wirken verloren …
PERDITA: Ein wenig vielleicht. Ich möchte zur Herbstallee 3 und kenne den Weg nicht. Wissen Sie vielleicht …
HEXE: (holt eine Glaskugel hervor) Ich sehe Unheil … Großes Unheil wird über sie kommen … Die Kristallkugel lügt nie …
PERDITA: Das ist eine Schneekugel.
HEXE: Alles in ihr wirbelt umher und verschwimmt, doch der Schleier lichtet sich … Das Unheil, es wartet auf Sie … Es wird Sie noch heute treffen … Oder an einem anderen Tag …
PERDITA: Faszinierend.
HEXE: Das macht dann zweihundert Pokédollar, wenn ich bitten darf.
PERDITA: Dürfen Sie, aber kriegen werden Sie trotzdem nichts.
HEXE: Miststück!
PERDITA: Es sei denn, Sie wissen den Weg zur Herbstallee 3.
HEXE: Sehe ich aus wie ein Navigationsgerät? Ich habe auch meinen Stolz.
HEXE ab. Auftritt POLIZIST.
POLIZIST: Haben Sie dieser Betrügerin etwa Geld gegeben?
PERDITA: Nein.
POLIZIST: Verdammt!
PERDITA: Bitte?
POLIZIST: Ich hätte sie auf frischer Tat ertappen können. Naja, vielleicht nächstes Mal.
PERDITA: Tut mir leid für Sie. Aber schön zu hören, dass die Polizei sich um sie kümmert. Sie müssen ihren Beruf ja sehr eifrig ausüben.
POLIZIST: Mit meinem Beruf hat das nichts zu tun. Ich bin nur auch auf sie hereingefallen, vor zwei Wochen.
PERDITA: Aha.
POLIZIST: Aber das war mir so peinlich, dass ich es niemandem erzählen wollte.
PERDITA: Verständlich.
POLIZIST: Also warte ich jetzt, bis ich sie irgendwann bei jemand anderem erwische. Nur scheint sich irgendwie keiner von ihr hereinlegen zu lassen. (kratzt sich mit seiner Dienstwaffe am Kopf) Merkwürdig, wo ich doch …
PERDITA: Ja, sehr merkwürdig. Geradezu unbegreiflich! Wo ist die Herbstallee 3?!
POLIZIST: Die? Irgendwo im Westen der Stadt. Oder war es der Norden? Ich kenne mich leider nicht so gut aus.
PERDITA: Ein Jammer.
POLIZIST: Ja, ein Jammer. Ich habe mich mal in der Sackgasse da vorne verlaufen.
PERDITA: Schrecklich.
POLIZIST: Aber wer kann sich schon den ganzen Stadtplan merken?
PERDITA: Ein guter Polizist vielleicht?
POLIZIST: Möglich. Aber es ist schon schwierig mit den Adressen. Sommerallee, Herbstallee, Winterallee, Frühlingsallee, Place Rouge, Place Cyan … Wo lag noch gleich das Pokémon-Center?
PERDITA: Ich hörte, es gibt in dieser Stadt drei davon.
POLIZIST: Gut möglich. Ach ja, stimmt, eines liegt am Zentral-Plaza … Ich glaube, neben Haus Nummer 7.
PERDITA: Haus Nummer 7 …
POLIZIST: Und das zweite auf dem Südring, bei Haus Nummer 29.
PERDITA: Soso …
POLIZIST: Und das letzte … das müsste hier irgendwo sein. Irgendwo auf dem Nordring …
PERDITA: Ja … Irgendwo … Auf dem Nordring …
POLIZIST: Da fällt mir ein, wenn Sie den Weg nicht kennen …
PERDITA: (mit zusammengebissenen Zähnen) Ja? Was dann?
POLIZIST: Dann könnten Sie ein Taxi nehmen. Natürlich nur, wenn Sie genug Geld dabeihaben. Oh, da vorne ist ja gerade eins. He, Halt! Taxi!
Ein Taxi hält an.
PERDITA: Danke.
POLIZIST: (steigt ins Taxi ein) Wieso?
ERSTER TAXIFAHRER: Wo soll es denn hingehen?
POLIZIST: Zum Polizeipräsidium, bitte.
Das Taxi fährt ab.
PERDITA: Unfassbar …
Ein Dartiri kackt ihr auf den Kopf.
PERDITA: Das darf doch nicht … TAXI!
Ein Taxi hält an.
ZWEITER TAXIFAHRER: Guten Tag.
PERDITA: (steigt in das Taxi ein) Guten Tag.
ZWEITER TAXIFAHRER: Wo möchten Sie denn hin?
PERDITA: (schweigt)
ZWEITER TAXIFAHRER: Nun?
PERDITA: Ich weiß es nicht mehr.
Ende.
Ein kleines Café an einer geschäftigen Einkaufsstraße einer generischen Großstadt. Die drei leeren Tische sind liebevoll mit Blumen dekoriert, auf einer Auslage hinter einer sauberen Glasscheibe werden verschiedene Kuchen angeboten. Hinter dem Tresen poliert ein junger Kellner ein Glas und schaut gelangweilt aus dem Fenster. Eine Frau betritt den Laden, sie macht einen gehetzten Eindruck und lässt ihre drei Einkaufstüten an einem Tisch fallen.
Kundin: Gott sei Dank, endlich einen Moment Ruhe, man stößt bei diesen Massen ja an seine Grenzen!
Kellner: Ja, die Weihnachtseinkäufe.
Kundin: Wir haben Mitte März.
Kellner: Weihnachtseinkäufe im März? Die Menschen sorgen heutzutage vor wo sie können!
Kundin: Sie kaufen natürlich nicht für Weihnachten ein!
Kellner: So? Also ich könnte mir das schon gut vorstellen. Was haben Sie denn gekauft?
Kundin: Ach, nur so ein paar Klamot- was geht Sie das denn an?
Kellner: Nichts, nichts, ich betreibe nur Konversation.
Kundin: Jedenfalls brauche ich nach so einem Tag in der Stadt erst einmal ein bisschen Ruhe.
Kellner: Na da sind Sie hier goldrichtig, niemand kommt in dieses Café.
Kundin: So, warum denn nicht?
Kellner: Ach, das hat sich so herumge- was geht Sie das denn an?
Kundin: Na hören Sie mal, immerhin bin ich hier Kundin!
Kellner: Wie Recht Sie doch haben, jedenfalls weiß ich es auch nicht.
Kundin: Sie haben doch gerade zur Erklärung angesetzt!
Kellner: Habe ich das? Entschuldigen Sie, ich arbeite bereits seit Stunden ohne Pause!
Kundin: Naja, wie auch immer. Was haben Sie denn an Tee da? Vielleicht etwas mit Kräutern?
Kellner: Wir haben Kräutertee.
Kundin: Ja gut, dann den. Und was ist hier in dem Kuchen?
Kellner: Der ist vegan.
Kundin: Ja aber was ist da drin?
Kellner: Bananen. Die Süße kommt von den Bananen.
Kundin: Und die Sahne?
Kellner: Ja ist schon viel Sahne drin.
Kundin: Na, ich denke der wird es trotzdem.
Kellner: Passt natürlich nicht zu den Kräutern.
Kundin: Wie meinen?
Kellner: Der Kräutertee. Empfehle ich nicht dazu.
Kundin: Dann nehme ich einen anderen Kuchen.
Kellner: Das ist schon der beste Kuchen hier.
Kundin: Ja, aber ich will Kräutertee.
Kellner: Genau genommen empfehle ich den zu keinem Kuchen.
Kundin: Na, dann eben kein Kuchen.
Kellner: Kein Kuchen? Das ist unüblich!
Kundin: Aber ich will den Kräutertee!
Kellner: Niemand hält Sie davon ab, der Kunde ist König.
Kundin: Aber Sie sagen doch...
Kellner: Ich empfehle lediglich.
Kundin: Also den Kuchen mit Kräutertee...
Kellner: Wobei es mich natürlich eine Menge Überwindung kosten würde, das so zu servieren.
Kundin: Um Gottes willen, was empfehlen Sie denn mit Kräutertee?
Kellner: Unser Truthahn-Sandwich.
Kundin: Ich bin Veganerin.
Kellner: Unser Kuchen hier ist vegan.
Kundin: Den wollte ich ja auch.
Kellner: Sehr gerne, ein Getränk dazu?
Kundin: Wollen Sie mich verarschen?
Kellner: Nicht doch, ich bediene Sie hier nur.
Kundin: Hören Sie, junger Mann. Ich verlange einen Kräutertee und diesen Kuchen!
Kellner: Wir führen keinen Kräutertee.
Kundin: Sie... was? Natürlich haben Sie Kräutertee, Sie haben ihn mir schon angeboten!
Kellner: Das allerdings.
Kundin: Also, bekomme ich jetzt meinen Kuchen und meinen Tee?
Kellner: Nein.
Kundin: Warum denn nicht?
Kellner: Ich arbeite hier nicht.
Der Kellner löst sich in Luft auf und lässt die verwirrte Kundin allein zurück. Wortlos lässt sie sich auf einen Stuhl sinken, nimmt sich einen Aschenbecher und zündet sich eine Zigarette an.
Stimme des Kellners: Sie dürfen hier nicht rauchen!
Auch der Aschenbescher löst sich in Luft auf. Die Kundin erhebt sich seufzend, verlässt das Café und verschwindet in den vorbeiströmenden Massen. Ihre Einkaufstüten bleiben im Laden zurück.
Vor dem Eingang des Kunstmuseums.
Die Klasse 9c steht gesammelt vor dem Eingangstor.
NICK: „Ey yoo, ich hab' voll kein' Bock, ey!“
FR. MÜLLER: „Nun stell dich nicht so an, Nick, deine Eltern haben für den Ausflug schon bezahlt.“
SOPHIE: „Also ich finde die Idee sehr gut, Frau Müller. Im Kunstmuseum habe ich schon eine Jahreskarte. Es ist immer wieder aufregend, diese bildende Kunst zu …“
NICK: „Frau Müller, ich finde die Idee sehr gut, ich bin Sophie und krieche gerne in Ihren Arsch!“
Einige Schüler lachen
FR. MÜLLER: „Nick, hör auf, so etwas zu sagen!“ wendet sich an den Rest der Klasse „Kinder, beruhigt euch und lacht Sophie nicht aus! Manche bräuchten nur halb so viel Anstand wie du, Sophie. Nun gut, lasst uns losgehen, unsere Führung beginnt gleich.“
Die Klasse betritt den Eingangsbereich. FRAU MÜLLER geht zur Rezeption, um sich über den Beginn der Führung zu erkundigen. Die Rezeptionistin ist für die Schüler nicht zu verstehen.
FR. MÜLLER: „Schönen guten Tag, wir hatten eine Führung reserviert, für 10 Uhr. Die Klasse 9c, genau … Dankeschön!“ dreht sich zur Klasse um „Kinder, folgt mir bitte und hängt euch eure Pässe um, sonst kommt ihr nicht mit rein. Die Handys werden ausgeschaltet und kommen zu mir.“
Einige Schüler stöhnen genervt
LAURA: „Was soll der Scheiß, ich geb' mein Handy nicht ab! So kann ich doch gar nicht Instastories aufnehmen, meine Follower!“
NICK: amüsiert „Haha, Follower, dass ich nicht lache. Du hast doch grade mal die 100 Abonnenten geknackt, die dir auch nur aus Mitleid folgen.“
LAURA: „Nick, sei doch mal ruhig, deine unnötigen Sprüche brauch' ich mir nicht geben! Hier haben Sie mein Handy …“
FR. MÜLLER: „Na, geht doch. So, und jetzt fehlen noch die anderen Handys … Laurenz, deine Chipstüte darfst du auch nicht mitnehmen.“
Ein kurzer Moment der Stille
LAURENZ: erschrocken, mit weit aufgerissenen Augen „Was, niemals! Ich brauch die, hab da so 'ne Krankheit …“
NICK: „Ja, nennt sich Fettsucht!“
LAURENZ: „Ach Nick, sei doch ruhig! Nein, aber dann tut mein Magen weh und ich krümel auch nicht und …“
FR. MÜLLER: „Keine Widerrede, Laurenz, mit Chips kommst du nicht mit rein und darfst die Matheaufgaben der nächsten Woche vorarbeiten.“
LAURENZ: „Schon gut, schon gut, dann lass ich sie halt draußen …“
FR. MÜLLER: erleichtert „Dann wär's das gewesen...“
FRAU MÜLLER überreicht die Handys und die Chipstüte der Rezeptionistin und schaut sich suchend um. Schließlich geht sie auf eine Frau mit Namensschild, FRAU KOBELT, zu.
FR. MÜLLER: „Schönen guten Tag, sind Sie unser Guide?“
FR. KOBELT: „Ja, ich führe Sie heute durch die Kunstausstellungen hier im Museum. Sie können mich Frau Kobelt nennen.“
NICK: „Haha, unser Guide heißt Kobold!“
FR. MÜLLER: schimpft „Mensch, Nick, jetzt reiß dich mal zusammen!“
NICK: genervt „Nein, ich hab auf den Scheiß keinen Bock!“
FR. MÜLLER: schaut von Nick zu Frau Kobelt und zurück „Nick … entschuldigen Sie, er ist sonst nicht so.“
FR. KOBELT: „So so, ein Möchtegern-Checker. Nun gut, dann wollen wir mit der Führung beginnen.“
Die Klasse folgt FRAU KOBELT in die Ausstellungsräume. Die Wände sind geschmückt mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gemälde.
FR. KOBELT: „Als Erstes sehen Sie gleich zu unserer Linken die Gemälde von Frederic Schneider. Er ist zwar noch nicht national bekannt, jedoch ist er regional schon ein echter Künstler.“
LAURA: schnauft „Hah! Was ist das denn für eine Ausstellung, wenn es nicht mal bekannte Künstler sind? Das würde meine Follower sowieso nicht interessieren.“
SOPHIE: „Hey Laura, sag das nicht so! Die Bilder von Frederic Schneider zeigen die verschiedensten Schwerpunkte der modernen Kunst, er wird mit Sicherheit einmal eine große Nummer.“
NICK: äfft Sophie nach „Bla bla bla, ich bin Sophie und laber nur Scheiß!“
Die Klasse lacht.
SOPHIE: „Im Gegensatz zu dir, Nick, schreib ich keine Fünfen und muss nicht um die Versetzung bangen!“
FR. MÜLLER: läuft rot an, schreit „Jetzt reicht's! Benehmt euch doch Mal! Könnt ihr nicht einmal ohne Streit auskommen?“
FR. KOBELT: beschwichtigend „Frau Müller, ich hätte da eine Idee, wie wir vielleicht das Interesse der Kinder wecken können.“
Die beiden Frauen flüstern für das Publikum nicht hörbar.
FR. MÜLLER: laut „Das ist eine gute Idee!“
FR. KOBELT: „Lasst uns nicht mehr länger stehen
___und stattdessen vorwärts gehen!
___Viele Künstler aller Arten
___werden heut' noch auf uns warten!“
FR. MÜLLER: „Heute völlig ohne Hashtags
___gibt es viele tolle Flashbacks!
___Lasst euch auf die Künstler ein
___und zieht euch ihre Bilder rein!“
NICK: lachend „Ihr habt's gehört: Nicht lang schnacken, Kunst erleben, ihr Kanacken!“
Die Klasse lacht. Einige Schüler schauen verwirrt zu Frau Müller.
SOPHIE: „Frau Müller, Frau Müller, was sagen Sie da,
___Sie können doch nicht reimen.
___Ach nicht doch, ach nicht doch, was machen Sie denn,
___es wird Gelächter keimen!“
EINIGE SCHÜLER: „Sophie reimt jetzt auch!“
SOPHIE: „Frau Kobelt, Frau Müller, ich hab es kapiert!
___Der Künstler Magie hat auch mich inspiriert!“
FR. KOBELT: „Zu meiner Rechten seh'n wir nun
___ein Werk des guten Schulz von Thun;
___hat Kommunikation erkundet
___und war auch froh der Kunst ermundet.“
FR. MÜLLER: energisch „Lernt und sehet es euch an,
___bald kommt es im Deutschkurs dran!“
LAURAs Mund steht offen, sie fängt an zu weinen und rennt in Richtung Ausgang. Plötzlich bleibt sie stehen und dreht sich um.
LAURA: „Ach, scheiß doch auf Fame, auf Abos und Geld,
___die Kunst ganz allein ist ab jetzt meine Welt.
___Sie schreit es einfach heraus.
___Frau Müller, was für ein Augenschmaus!“
LAURENZ und NICK schauen sich verängstigt um.
NICOLE: „Endlich kann ich sprechen!
___Endlich bin ich frei!
___Meine stumme Phase
___ist ab jetzt vorbei!
___Die Kunst erfüllt mich voll und ganz,
___ich fühle sie mit mächt'gem Glanz.“
FR. MÜLLER: „Sogar Nicole hat es erreicht,
___sie wurde auf die Kunst geeicht.
___Die Leidenschaft, in ihr geweckt,
___sie zollt der Kunst allen Respekt!“
LAURENZ: panisch „Was sollen wir nur machen, Nick?
___Keine Chips, mir ist schlecht, ich werd' noch verrückt!
___So langsam hab ich genug von dem Dreck,
___halt mich auf, Nick, sonst geh ich noch mit der Kunst weg!
___Das Gefühl dringt näher und sperrt mich ein.
___Hilfe, ich will doch kein Kunstnerd sein!“
NICK: „Sind alle jetzt komplett verrückt?
___Die Kunst, oh nein, bringt mir kein Glück.
___Sie nimmt mir gänzlich meinen Stolz
___und meine Seele Stück für Stück,
___so hilf mir, Coolness, komm zurück!
___Verdammt nochmal, was soll der Scheiß?
___So langsam ist's echt nicht mehr nice!
___Mein Hirn verdreht sich immer mehr,
___die Kraft der Kunst trifft mich zu sehr!
___Die Message dieses Künstlers dort
___bringt mich zu einem fernen Ort.
___Ich glaub, jetzt gibt es mächtig Ärger,
___verdammt, und es kommt noch viel härter!
___Das Übel, alt wie die Galaxie
___macht euch jetzt fertig wie noch nie!
___Doch da ist eine Stimme fein,
___der Wind treibt sie zu mir herein.
___Ans Bild, die Kunst, die mich verschlingt,
___letztendlich werd ich doch besinnt.“
FR. MÜLLER: „Unglaublich, sogar Nick hat's erwischt! Frau Kobelt, ich danke Ihnen von ganzem Herzen!“
FR. KOBELT: „Nichts zu danken, bittesehr.
___Ich biete gerne noch viel mehr!
___Durch die Reime aufgeweckt,
___haben sie die Kunst entdeckt.
___Die Liebe muss doch nur erwachen,
___nur die Begeisterung entfachen,
___und dies ist heute hier mein Job,
___dessen Ergebnis ich mir lob'.
___Nun geh'n wir und genießen wir
___die epochalen Werke hier.“
FRAU MÜLLER und FRAU KOBELT gehen entlang der Wand mit den Kunstwerken, dann ab. Die Klasse bleibt noch einen Moment vor den Kunstwerken stehen, dann folgen sie den beiden.
New York, New York
Es treten auf:
Ein THEATERCHOR, großes Schauspielerensemble, ethnisch aufgeteilt in
Weiße (42%), Schwarze (24%), Latinos (24%), Asiaten (10%),
Ein SWINGORCHESTER, situiert im Orchestergraben vor der Bühne,
DARSTELLER, diverse.
Erster Akt – 5th Avenue, morgens.
Der Vorhang öffnet sich.
Der CHOR steht in Grau gekleidet in sechs geraden Reihen zum Publikum gerichtet über die Bühne verteilt.
Die beiden inneren Reihen treten vor und laufen geordnet an den linken bzw. rechten Rand der Bühne. Weitere Reihen folgen, bis der gesamte Chor die Bühne flankiert.
CHOR (unterdessen beständig durcheinandermurmelnd). Bla bla bla. Laber laber laber. Jadda jadda jadda.
DAIMLER (läuft von links nach rechts über die Bühne). Brumm brumm!
CHRYSLER (läuft von rechts nach links über die Bühne). Määäähm määäähm!
FORD (läuft besonders schnell über die Bühne). Njuuuuuuuuuu!
Man hört Glas bersten.
DAIMLER (von rechts auf die Bühne und bleibt in der Mitte, nach links gerichtet, stehen). Quietsch! Rattatatatata.
CHRYSLER (reiht sich ebenfalls vom rechts kommend hinter Daimler). Wrumm wrumm! Knattatatatata.
FORD (reiht sich hinter Chrysler). Schnattatatatata.
Rauch beginnt, den Boden der Bühne zu bedecken.
DIE DREI (kontinuierlich). Rattatatatata. Knattatatatata. Schnattatatatata.
CHOR (vereinzelt). Hup hup! Tiet tiet! Nut nut!
ORCHESTER (unterstützt den Chor mit Hupgeräuschen aus dem Orchestergraben).
BRUCE (läuft in Blau gekleidet von rechts nach links). Tatü tata! Tatü tata!
WILLIS (in Rot gekleidet hinterher).Iju iju iju iju!
WAYNE (in einem schwarzen Ganzkörperanzug mit Cape, singend). Nana nana nana nana!
Der Rauch verdichtet sich.
Aus dem Orchester erklingt eine Triangel: ding ding.
Im vorderen Bereich der Bühne öffnet sich eine Luke, über eine Treppe drängen sich Mitglieder des Chors auf die Bühne und verlassen sie zur Seite.
CHOR (kontinuierlich, durcheinander). Bla bla bla.
DAIMLER, CHRYSLER, FORD & ORCHESTER (aus dem Hintergrund). Hup hup!
Ding ding.
Dieselben Mitglieder des Chors machen nach Verlassen der Bühne kehrt und drängen sich die Treppe wieder hinab.
ALLE (durcheinander). Bla bla bla. Hup hup! Schnattatatata. Iju iju! Wrumm wrumm. Tatü tata!
Der Rauch verdichtet sich weiter und verdeckt die gesamte Bühne.
ALLE ab.
Zweiter Akt – Central Park, mittags.
Der Rauch lichtet sich.
Das ORCHESTER spielt Griegs Morgenstimmung.
Der CHOR tritt auf und verteilt sich symmetrisch über die Bühne; die Darsteller sind in Braun gekleidet und tragen grüne Pompons und Hüte. Neben jedem von ihnen steht eine blecherne Mülltonne.
CHOR (vereinzelt). Zwitscher zwitscher. Schnatter schnatter. Summ summ.
Stille.
Es geschieht nichts.
Ein Fahrrad rollt über die Bühne und fällt auf halbem Wege um.
CHOR. Zirp zirp.
Es geschieht nichts.
PING, ein asiatischer Mann mittleren Alters, tritt auf. Er trägt Kappe, Hemd, Shorts, Sandalen und weiße Socken und hat eine Fotokamera um den Hals.
Gemächlich flaniert er zwischen den anderen Darstellern umher und verstreut Reiskörner aus einem Sack, den er bei sich trägt.
CHOR: Guru guru. (Mit aufgeblasenen Backen das Geräusch platzender Vogelinnereien imitierend) Plöpp plöpp.
PING entdeckt das Publikum, gestikuliert aufgeregt und schießt mehrere Fotos mit Blitzlicht.
Dann flaniert er von der Bühne.
PING (stößt einen zufriedenen Seufzer der Entspannung aus).
PING ab.
Es geschieht nichts.
TERRY tritt in einer Fursuit (Model Hund/Wolf) auf.
Er läuft auf eines der Chormitglieder zu, lehnt sich dagegen und hebt ein Bein.
TERRY (stößt einen wohligen Seufzer der Erleichterung aus).
TERRY ab.
Es geschieht nichts.
Das Geräusch von Wind kommt auf.
Der CHOR schüttelt seine grünen Pompons.
DER ANBIETER tritt auf. Er trägt einen beigen Hut, Trenchcoat, eine dunkle, große Sonnenbrille und braune Schuhe.
Vorsichtig und unter dem steten Gefühl, beobachten zu werden, schleicht er sich in die Mitte der Bühne.
Er schaut das Publikum an und legt seinen Finger auf die Lippen.
Dann öffnet er seinen Mantel.
Darin befinden sich Sonnenbrillen, Uhren und Krawatten.
DER DARBIETER tritt auf. Auch er trägt einen beigen Hut, Trenchcoat, eine dunkle, große Sonnenbrille und braune Socken.
Er betrachtet die Auswahl des Anbieters.
DER ANBIETER (stößt einen auffordernden Seufzer des Angebots aus).
DER DARBIETER (stößt einen beeindruckten Seufzer der Anerkennung aus).
DER DARBIETER wendet sich dem Publikum zu.
Auch er öffnet seinen Mantel.
Licht aus ehe man erkennen kann, wie wenig er darunter trägt.
ALLE ab.
Dritter Akt – Times Square, abends.
Es ist dunkel.
Das ORCHESTER beginnt, New York, New York zu spielen.
Eine Lasershow formt zwischen diversen Lichteffekten rote, blaue und weiße Sterne.
Das Spektakel mündet in einer aus rotem und orangenem Licht gebildeten Flasche, deren Inhalt überschäumt und sich in einem Regen aus Lichtpunkten und bronzenem Konfetti ergießt.
Im Licht einzelner Scheinwerfer ist der CHOR zu sehen; gekleidet in elegante Smokings jongliert eine Hälfte mit Tellern, die andere mit Geldbündeln.
Von der Decke senkt sich eine riesiger Apfel mit Countdown darauf und schwebt im Raum.
ERIK tritt auf. Er trägt ein schwarzes Cape und eine weiße Maske verdeckt sein Gesicht.
GRIZABELLA, eine ältere Dame in einem Katzenkostüm tritt von der anderen Seite der Bühne auf.
Beide tanzen zur Musik des Orchesters; diverse Darsteller des Chors mischen sich in farbenfrohen Kostümen dazu.
COSETTE, ein kleines, in Lumpen gekleidetes Mädchen tritt auf. Sie schwenkt eine weiß-rot-blaue Flagge, während sie über die Bühne läuft.
GEORGE, ein Schwarzer mit blauem Jackett und weißer Perücke, tritt von der anderen Seite der Bühne auf.
Beide paradieren vor dem bunten Treiben im Hintergrund und schleudern kleine Päckchen aus Weingummi gemachter Colaflaschen und Hamburger ins Publikum.
LIBERTAS tritt auf. Sie trägt eine blassgrüne Robe und ein Diadem, in einer Hand hält sie eine goldene Fackel, in der anderen ein Buch.
Würdevoll bahnt sie sich den Weg durch die bunte Menge, nickt der Menge hier und da anerkennend zu.
Als sie am vorderen Ende der Bühne ankommt, erreicht der Countdown die Null. Der große schwebende Apfel öffnet sich und heraus schwebt MISTER P. Er trägt einen Anzug, das Gesicht orange angemalt, auf dem Kopf ein abgenutzter Wischmopp; aus seinen Ärmeln ragen deutlich zu kleine Hände
Er landet neben Libertas vorne auf der Bühne, George steht ebenfalls an seiner Seite.
Stille.
MISTER P. (ergreift ein Mikrofon, das vorne auf der Bühne steht; jedes Wort einzeln mit Stimme und Gestik betonend).I. Have. A dream.
Anything. Can happen. To anyone. Anytime. Anywhere.
ALLE (vom Orchester begleitet singend). It’s up to you! New York, New York!
Während das ORCHESTER das Outro des Songs spielt, fliegen weiß-rot-blaue Luftschlagen durch die Luft, Sektkorken knallen, Schampus spritzt und eine Lawine aus Luftballons und Konfetti ergießt sich auch die Bühne. Regenbogenfahnen und brennende Kreuze werden geschwungen.
Uniformierte Männer rollen zwei Kanonen auf die Bühne und schießen daraus mit inspirierenden Sprüchen bedruckte T-Shirts ins Publikum; die Aufschriften beinhalten
„Don’t dream your life, live your dream.“
„Success is a journey, not a destination.“
„Allow your challenges to become your motivation.“
ALLE (finalisierend). New York!
Das ORCHESTER spielt den Schlussakkord.
Licht aus.
ALLE ab.
Epilog
Alle Lichter im Saal gehen an (auch im Zuschauerraum).
Die Reste des Finales befinden sich noch immer auf der Bühne.
Die Rufe wilder Weißkopfseeadler schallen durch den Raum.
HAYAO MIYAZAKI tritt auf und bahnt sich den Weg zum Mikrofon am vorderen Rand der Bühne.
MIYAZAKI (mit starkem fernöstlichen Akzent). Riberty was a mistake.
Vorhang fällt.
Tante Elisabeth
BERLIN – CHARLOTTENBURG – WOHNUNG NILS
Das Bühnenlicht nimmt langsam zu und belichtet den Raum.
NILS sitzt auf seiner Couch im Wohnzimmer und sebbt durch das Fernsehprogramm.
NILS (sichtlich genervt)
Läuft denn wirklich nur noch dieser Müll am Samstagmorgen im Fernsehen? Verdachtsfälle – Spezial mit den Trovatos, die da eigentlich gar nichts zu suchen haben? Frauentausch mit der gespielten Krawallgarantie? Auf Streife mit diesem Typen, der an beiden Handgelenken eine Armbanduhr trägt?
NILS kehrt einen Moment inne und versucht sich, zu beruhigen.
NILS (in sich gekehrt)
Was soll ich denn jetzt bloß machen, um die Zeit totzuschlagen?
Es klingelt an der Tür – gefolgt von einem hysterischen Klopfen.
NILS (überrascht)
Wer ist das denn, bitteschön?
NILS steht auf und geht auf die Tür, die sich am Ende des Wohnzimmers befindet, zu.
NILS (misstrauisch)
Wer ist da?
STIMME
Anna!
NILS (sich fragend)
Anna wer?
STIMME (protzig)
Anna Tür hat wer jeklingelt – also mach' mir auf, verdammt!
NILS (nachdenklich)
Tante… Tante Elisabeth?
NILS öffnet die Tür und sieht seiner Tante Elisabeth in die Augen.
ELISABETH
Wat dachtest du denn?
ELISABETH tritt ohne Aufforderung in die Wohnung ein und stellt ihren großen Koffer direkt im Wohnzimmer ab.
NILS schließt die Tür hinter ELISABETH und folgt ihr in das Wohnzimmer.
NILS (überrascht)
Was machst du denn hier?
Und wer hat dich überhaupt in das Treppenhaus gelassen?
ELISABETH
Ich mach' Urlaub oder wat dachtest du denn?
NILS (ringt nach Worten)
Ganz schön kurzfristig, denkst du nicht?
ELISABETH
Nee? Hab' dir doch nen Brief jeschickt!
NILS (nachdenklich)
Was für einen Brief?
Es klingelt erneut an der Tür.
NILS (überrascht)
Hast du noch jemanden mitgebracht?
ELISABETH
Nee, zumindest weiß ich nicht, wen ich noch mitbringen soll.
NILS geht ein weiteres zur Tür und öffnet sie, ohne nachzufragen, wer ihn besuchen möchte.
TAXIFAHRER (aufgebracht)
Wieso ich fahren für Sie und geben kein Geld?
ELISABETH schaut desinteressiert zur Tür hinüber.
ELISABETH
Ich hab' dir jesagt, ich versteh' dich net!
NILS (sich fragend)
Heißt das, du kennst diesen Mann, Lisa?
ELISABETH
Bin zwar net froh drüber, aber ja – er hat mich herjefahren!
NILS
Und du hast ihn nicht bezahlt?
ELISABETH (sich fragend)
Für wat denn?
TAXIFAHRER (aufgebracht)
Ich dich gefahren hierher mit mein Taxi! Ich will mein Geld!
NILS (leicht verzweifelt)
Bitte, entschuldigen Sie meine Tante – sie kommt vom Dorf, da ist es nicht üblich, jemanden wie Sie… nun, wieviel bekommen Sie nochmal?
TAXIFAHRER
Siebzehn!
NILS krammt in seiner Hosentasche, um seine Geldbörse zu holen.
Er nimmt einen Zwanzigeuroschein heraus und übergibt ihn den TAXIFAHRER.
NILS
Passt so!
TAXIFAHRER geht wortlos ab.
NILS schließt danach die Tür erneut ab.
ELISABETH
Widerliches Pack!
Haste eigentlich irgendwas zum Mittagessen für deine Tante Lisa?
NILS
So früh am Morgen schon?
ELISABETH schaut für einen kurzen Moment auf ihre Armbanduhr.
ELISABETH
Es ist elf Uhr!
NILS
Tatsache? Gut, aber ich glaube kaum, dass ich etwas hier habe.
ELISABETH
Dann lass' uns Einkaufen fahren!
NILS
Wir können uns auch einfach was zu essen holen.
Das finde ich zumindest einfacher und günstiger, wenn du verstehst?
ELISABETH (genervt)
Ja, ja… okay
NILS und ELISABETH gehen aus der Wohnung, gehen das Treppenhaus vom ersten Stock in das Erdgeschoss hinunten, um auf die Straße hinaus zu gelangen und nehmen die Straßenbahn, die nur wenige Schritte vom Mehrfamilienhaus, in welchem Nils wohnt, entfernt ist.
Nach nur wenigen Minuten kommen sie an der Station an, in deren Nähe sich ein wahres Paradies für Fastfoodfans und Singles, die keine Lust haben, zu kochen, befindet.
ELISABEHT (beeindruckt)
Dat is also Berlin?
NILS
Das ist Berlin!
ELISABETH
Und wo gibt's hier wat zu essen?
NILS
Schau' dich doch nur einmal um! Hier gibt es alles, was das Herz begehrt!
ELISABETH schaut sich eine Weile die Reklamen und Logos der Fastfoodrestaurants an.
ELISABETH (sich fragend)
Zubwai, MzDonalt, Borgerking?
NILS
Subway, McDonalds und Burgerking heißt es eigenlich, aber kein Problem.
ELISABETH
Und wo geh'n wir jetzt essen?
NILS
Worauf hast du denn Hunger?
ELISABETH (überzeugt)
Auf Hausmannskost!
NILS (überrascht)
Oh, das wird etwas schwierig…
Sicher, dass du nicht lieber einen Burger willst?
ELISABETH (sich frangend)
Einen was?
NILS
Vielleicht doch ein Sandwich?
ELISABETH (genervt)
Junge, lern' deutsch!
NILS
Ich meine, eine Stulle mit Salat und Fleisch!
ELISABETH
Klingt schon besser!
NILS
Gut, dann komm!
NILS und ELISABETH betreten das Subway-Restaurant.
ELISABETH (beeindruckt)
Mann, sind dat viele Leute!
NILS
Es ist Mittagszeit, was hast du erwartet?
ELISABETH
Aber so viele?
NILS
Es kommt halt noch dazu, dass das hier Berlin ist – hier ist meist alles überfüllt!
NILS und ELISABETH warten, bis sie dran sind.
SUBWAY-MITARBEITER
Hallo und willkommen bei Subway! Was darf ich dir für ein Sandwich machen?
ELISABETH (geschockt)
Also sagen Sie mal! Wer hat Ihnen erlaubt, mich zu duzen!
SUBWAY-MITARBEITER (etwas panisch)
Ich…
NILS
Lisa, das ist hier so normal!
ELISABETH (geschockt)
Nein, also so etwas muss ich mir doch net bieten lassen!
Nils, mach' du dat mal für mich – ich muss hier raus!
NILS
Alles klar, aber warte bitte vor dem Laden auf mich!
ELISABETH verlässt das Subway-Restaurant.
ELISABETH
Einfach so duzen, ich fass' es wohl net!
ELISABETH krammt in ihrer Jackentasche und holt eine Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug heraus.
Sie zündet sich eine Zigarette an und raucht sie eine Weile, als plötzlich eine JAPANISCHE TOURISTIN auftaucht, die auf ELISABETH zu geht.
JAPANISCHE TOURISTIN
Sumimasen, Brandenburger Tor wa doko ni arimasu ka?
ELISABETH
Wat?
JAPANISCHE TOURISTIN
You don't understand japanese? Okay, no problem.
Can you please tell me where I find the Brandenburger Gate?
ELISABETH (genervt)
Ich versteh' dich net!
NILS kommt aus dem Subway-Restaurant heraus und sieht, dass eine JAPANISCHE TOURISTIN bei ELISABETH steht.
NILS (verwirrt)
Hallo?
ELISABETH (mit unterschwelligem Ton)
Na endlich!
Ich versteh' dat Schlitzauge net!
JAPANISCHE TOURISTIN (verwirrt)
Can you help me, please?
NILS übergibt ELISABETH ihr Sandwich und versucht, der JAPANISCHEN TOURISTIN bei ihrem Problem weiterzuhelfen.
ELISABETH
Wat fürn Schlitzauge!
ELISABETH wirft ihre aufgerauchte Zigarette auf die Straße.
Darauf packt sie ihr Sandwich aus und schaut es mit großen Augen an.
ELISABETH (sich fragend)
Dat soll eine Stulle sein?
Die JAPANISCHE TOURISTIN geht ab, nachdem NILS ihr erklärt hat, wo sie das Brandenburger Tor findet.
NILS (amüsiert)
Das war mal eine Erfahrung, haha!
ELISABETH
Nils…?
NILS
Ja?
ELISABETH (sich fragend)
Dat soll eine Stulle sein?
NILS
Eigentlich ist es ein Sandwich, wieso?
ELISABETH
Du hast gesagt, dat ist ne Stulle!
NILS (peinlich berührt)
Nun ja… ich habe es nur in deiner Sprache ausgedrückt.
ELISABETH (leicht wütend)
In meiner Sprache? Wat soll dat heißen!?
Hättest du net gleich Santwitsch sagen können?
NILS
Hättest du damit etwas anfangen können?
ELISABETH (verwirrt)
Also…
NILS
Siehst du!
ELISABETH (leicht wütend)
Du hättest es mir ja erklären können!
NILS
Ist doch nun aber egal, oder?
Iss einfach dein Sandwich, vielleicht beruhigst du dich dann wieder.
Es heißt ja nicht ohne Grund "Du bist nicht du, wenn du hungrig bist!".
ELISABETH (verwirrt)
Wat soll dat denn schon wieder heißen?
NILS (schweigend)
…
NILS und ELISABETH setzen sich auf eine leere Parkbank ganz in der Nähe des Subway-Restaurants.
Dort essen sie in Ruhe ihre beiden Sandwiches auf.
ELISABETH (überrascht)
War besser als erwartet!
NILS
Was hast du gesagt?
ELISABETH
Ich werd' dat net noch Mal wiederholen!
Plötzlich fliegt eine Taube direkt über ELISABETH und wirft sein Geschäft direkt auf ihre Jacke ab.
ELISABETH (angeekelt)
Ihh! Wat soll dat denn!
NILS muss unweigerlich lachen und wird leicht rot im Gesicht.
NILS (peinlich berührt)
Entschuldige!
ELISABETH (wütend)
Lach' net! Mach wat!
NILS (sich fragend)
Was denn?
ELISABETH
Gibt's hier net irgendwo nen Laden, wo ich mir ne neue Jacke kaufen kann?
NILS
Das hier ist Berlin!
Hier gibt es bestimmt irgendwo eine Boutique.
ELISABETH (sich fragend)
Eine was?
NILS
Eine Boutique.
ELISABETH (sich fragend)
Wat soll das denn wieder sein?
NILS
Ich werde es dir zeigen, wenn wir da sind, ok?
ELISABETH nickt NILS zu und macht sich mit ihm gemeinsam auf den Weg zur Boutique.
Während sie den etwas weiteren Weg zurücklegen, versucht ELISABETH ihren Schandfleck, der sich direkt über ihrem Schulterblatt befindet, vor den Passanten zu verstecken, was allerdings nicht ganz so gut klappt wie sie es sich vorgestellt hat.
NILS
Da sind wir!
ELISABETH (verwirrt)
Dieser kleiner Laden?
NILS
Du wirst überrascht sein, wie groß die Boutique von innen aussieht!
NILS und ELISABETH betreten die Boutique.
Dort werden sie von gefühlt tausenden Frauen, die nach den günstigsten Schnäppchen suchen, überrannt.
ELISABETH
Und wo gibt's hier Jacken?
NILS führt ELISABETH in die Frauenabteilung.
NILS
Hier wirst du bestimmt fündig!
Macht es dir etwas aus, wenn ich kurz in die Männerabteilung gehe?
ELISABETH (vom Anblick überwältig)
N-nein, mach' dat bloß!
NILS geht ab.
ELISABETH (überwältig)
Dat ist also Berlin?
ELISABETH schaut sich durch das Sortiment durch und entdeckt eine moderne, silberne Jacke der Marke Schniek.
Sie nimmt sie kurzerhand aus dem Regal, um sie NILS zu zeigen, als plötzlich eine VERKÄUFERIN auftaucht.
VERKÄUFERIN
Hallo, kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?
ELISABETH
Nein, ich hab' schon jefunden, wonach ich jesucht habe.
VERKÄUFERIN geht ab.
BERATERIN taucht auf.
BERATERIN
Hallo, kann ich Ihnen weiterhelfen?
ELISABETH
Nein, ich hab' schon alles!
BERATERIN geht ab.
PRAKTIKATIN tritt auf.
PRAKTIKANTIN
Hallo, kann ich Ihnen…
ELISABETH (wütend)
NEIN, KÖNNEN SIE NICHT!
PRAKTIKANTIN ergreift die Flucht.
ELISABETH hängt die Jacke zurück und sucht nach NILS.
ELISABETH (schreiend)
NILS!
NILS rennt im Glauben, es sei etwas Schlimmes passiert, nach ELISABETH.
NILS (panisch)
Was ist passiert!?
ELISABETH (wütend)
Ich will weg von hier!
NILS (verwirrt)
Und warum?
ELISABETH greift NILS' Ohrläppchen und zerrt ihn aus dem Laden.
NILS (von Schmerzen geplagt)
Aua!
Was ist denn überhaupt los?
ELISABETH (wütend)
Diese Stadt ist los!
NILS (verwirrt)
Berlin?
ELISABETH (wütend)
Jenau! Diese janze Stadt ist daran Schuld, dass ich langsam verrückt werd'!
Zuerst dieses Pack, das Geld für seine Sklavenarbeit haben wollt'!
Dann dieser Zubwai-Mitarbeiter, der mich einfach duzt!
Dann dieses Schlitzauge, dat kein vernünftiges deutsch kann!
Dann diese dreckigen Tauben, die Scheiße auf mich schießen!
Und dann diese Modepüppchen, die mich fragen, ob sie mir helfen können, obwohl ich schon wat jefunden hatte, was mir jefällt!
Es reicht mir jetzt!
NILS (zögerlich)
Okay?
Und was willst du jetzt machen?
ELISABETH
Ich fahr' zurück!
NILS (verwirrt)
Wohin?
ELISABETH (verärgert)
Nach Hause!
NILS (verwirrt)
Sofort?
ELISABETH (verärgert)
Sofort!
NILS und ELISABETH gehen den weiten Weg zurück zur Straßenbahnstation.
Dabei stört es ELISABETH nicht, dass der Fleck der Taube auf ihrem Schulternblatt zu sehen ist.
Als sie an der Station angekommen sind, dauert es nur wenige Augenblicke, bis die nächste Bahn in die gewünschte Richtung fährt – sie steigen wortlos in die Straßenbahn ein und reden auf der gesamten Fahrt kein Wort miteinander.
NILS und ELISABETH steigen an ihrer Station aus und gehen in die Wohnung von NILS, wo ELISABETH sofort zu ihrem Koffer geht.
NILS
Soll ich dich noch zum Bahnhof bringen?
ELISABETH
Nicht nötig!
Ich laufe!
NILS
Denkst du wirklich, dass das so eine gute…
ELISABETH geht mit ihrem Koffer durch die Tür, knallt sie hinterher zu und geht ab.
NILS
Gut, wir sehen uns dann Weihnachten wieder, okay?
NILS setzt sich auf seine Couch im Wohnzimmer und sebbt durch das Fernsehprogramm.
NILS (sichtlich genervt)
Läuft denn wirklich nur noch dieser Müll am Samstagmittag im Fernsehen? Wiederholungen von den Simpsonsfolgen, die jeder schon kennt? Shopping Queen, bei der Frauen total in Panik geraten, weil ihr Geld scheinbar nicht mehr bis zum Ende reicht und dann zwanzig Euro oder mehr als Trinkgeld beim Friseur ausgeben? Und was ist bitteschön dieses ZDF?
NILS kehrt einen Moment inne und versucht sich, zu beruhigen.
NILS (mit leiser Stimme)
Was soll ich denn jetzt bloß machen, um den Tag totzuschlagen?
Das Bühnenlicht nimmt langsam ab und der Raum wird dunkel.
Der belebte Hafen Haithabus. Svea, im Gespräch mit Hild, einer Händlerin.
Svea: So wahr ich hier stehe, haben die Kelten ihren König zu Grabe getragen. Und damit nicht genug, auch den Herrscher von Norþumbrien hat’s erwischt. Da sieht man wieder, kein König regiert für immer.
Hild: Allzu wahr. Ihr habt freilich eine Schwäche für diese eisigen Inseln. Schreckliche Zeiten sind das, Kind. Schreckliche Zeiten! Und gerade heut ziehet Ihr mich aus bis auf das letzte Wollhemd. Ich Unglückliche!
Svea (indem sie mehrere Silberbroschen in ihrem Beutel verstaut): Ich bin froh, dass Ihr Euren Witz nicht verloren habt. Habt Ihr wieder Bernsteine auf Lager? Die sind just in Wessex sehr beliebt.
Hild: Ihr stellt genau die richtigen Fragen. Am Freytag traf ein bekannter Händler aus Zegge ein. Ich habe all seinen Bernstein aufgekauft. Ein gutes Geschäft. Für den rechten Preis könnt Ihr ihn bekommen. Fränkische Münzen wären vorzüglich.
Svea: Fränkische Münzen? Es tut mir leid, aber mit denen bezahlen nicht mal mehr die Franken. Ich biete Euch eine Silbermünze für jeden Bernstein. Karl der Große hat sie geprägt, es sind die wertvollsten Münzen des Landes!
Hild: Karl der Große? Ich wusste nicht, dass er eigene Münzen hat.
Svea: Eine gute Freundin versicherte mir, der Kaiser sei der Kirche Einfluss überdrüssig, und drum lässt er nun seine eigenen herstellen. Wenn Ihr sie aber nicht wollt, so muss ich diesen Schatz wieder einstecken.
Hild: Nicht doch! Der Bernstein gehört Euch. Er schmeichelt Eurem Haar weit mehr als kaltes Geld.
Hild reicht Svea eine Schatulle voller Bernsteine.
Svea: So soll es sein. Es freut mich, mit Euch Geschäfte machen zu können. Nun muss ich eilen. Solange die Flut anhält, will ich ein Schiff aufbringen, auf dem ich Richtung Westen fahren kann.
Hild: Passt auf Euch auf, das Meer ist voller Raufbolde. Aber Schifffahrten sind das Leben! Was gäb‘ ich drum, nochmal Eure Jugend zu besitzen.
Svea: Mögen die Raufbolde kommen, wenn nur ich auf dem Meer bin. So grüße ich noch vor Jul die Fische von Euch.
Hild: Der Allvater bewahr‘s!
Svea: Sorgt Euch nicht. Mich werdet Ihr nicht los, das wisst Ihr doch.
Hild: Lasst mich Euch dennoch einen Rat mitgeben. Er ist sogar kostenlos.
Svea: Die hab‘ ich am liebsten.
Hild: Kein Baum fällt auf den ersten Hieb.
Svea: Habt Dank, Hild. Bis zum nächsten Mal!
Hild: Das Glück sei mit Euch.
Svea ab.
Die Taverne. SVEA im Gespräch mit EIRIK, dem gutmütigen Schankwirt. BJORN, EOFER und ORTWEIN trinken im Hintergrund.
Svea: Ich sitze wohl hier fest. Keiner der Schiffsführer hatte eine Koje für mich! Frauen bringen Unglück, sagen einige. Ich kann das nicht von der Mannschaft verlangen, sagen andere. Und einer behauptet, es gäbe keine freien Betten, außer dem seinen. Männer!
Eirik: Die dürft Ihr nicht für voll nehmen. Viele sind abergläubisch, und so ein junges Ding wie Ihr wird denen den letzten Rest Verstand rauben. Und -
Ortwein und Bjorn grölen lauter, offenbar über einen Witz Eofers.
Svea: Und diese dort sind der Gipfel. Wer sind diese Rüpel?
Eirik: Die sind in der Garnison angestellt. Halten sich für die größten Krieger der Welt, aber wehe, wenn tatsächlich ein richtiger Schwertdäne auftaucht. Meistens betrinken sie sich, solange keine Feinde im Anmarsch sind. Und wenn dann welche kommen, betrinken sie sich noch mehr.
Svea: Beeindruckend sehen sie nicht aus. Aber Eirik, was wolltet Ihr eben noch sagen?
Eirik (etwas unruhig): Nun, wenn ich so frei sein darf, habt ihr auf dem Festland bereits einen gewissen Ruf gewonnen.
Svea: Einen Ruf?
Eirik: Manche der vorbeikommenden Händler nennen Euch die Rote Svea. Ob sie auf Euer Haar oder auf Euer Geschäft anspielen, wollte keiner verraten.
Svea: Wie? Mein Geschäft? Was ist denn mein Geschäft, frage ich. Rot? Wie Blut? Beim Allvater. Ich handele mit Bernstein. Was ist das? Es muss an meinen Locken liegen. Was ist das für eine Rede?
Eirik: Ich meinte nicht, Euch aufzubringen. Nur, so erzählte man es sich. Seht mich nicht so an, meine Stirn wird schon kalt. Nehmt Euch einen Honigwein, wenn‘s hilft.
Svea: Danke, Eirik. Aber was soll‘s helfen, mich nimmt ja doch keiner mit. Wie schön wäre es, das Land hinter mir zu lassen, und den Seevögeln zu folgen! Die Rote Svea. Das kommt davon, wenn man allein reist, sage ich. Man muss doch zurechtkommen, oder? Als Frau ist man in diesen Zeiten leichte Beute. Ich kenne meine Kniffe, und das ist auch notwendig.
Ortwein, Eofer und Bjorn treten auf, betrunken.
Ortwein: Hört ihr das, Männer? Das Weib kennt seine Kniffe.
Eirik: Ach du lieber Gott.
Ortwein: Kennt das Weib auch meine Kniffe? Meine Kniffe sind, so wahr ich Ortwein von -
Bjorn (lachend): Von hinten!
Ortwein: Schweig, Hund! So wahr ich Ortwein von Bremen heiße, sind sie - um das so zu sagen - die Kniffligsten von allen.
Svea: Ihr seid betrunken.
Bjorn: Sie hat nicht Unrecht.
Ortwein: Ruhe! Ihr da. Ihr tragt eine Menge edles Zeug mit Euch herum. Bernstein, ja? Wie kann so ein Küken sich das leisten?
Bjorn: Auch er hat nicht Unrecht.
Svea: Ich bin bloß eine Händlerin. Und ich suche keinen Ärger.
Ortwein: Welche Kniffe kennt Ihr denn, Händlerin? Den auf dem Rücken?
Eirik: Sagen wir alle lieber nichts, was wir später bedauern würden -
Ortwein: Ich sagte, Ruhe! Wisst Ihr nicht, wer ich bin? Ich habe einst Karl den Großen vom Pferd geholt!
Svea (grinsend): Was sagt Ihr? Wart Ihr seine Amme?
Eofer: Die Kleine hat Feuer!
Bjorn: Und sie hat wieder nicht Unrecht.
Ortwein: Schweigt! Schweigt, sage ich! Bjorn, du Elender. Du Hund! Diese Saga treibe ich dir aus.
Er gibt Bjorn eine Kopfnuss. Einige Männer an Tischen werden aufmerksam.
Eirik: Haltet ein! Ich spendiere eine Runde. Was sagt Ihr?
Ortwein: Der Wirt rettet dir den Wanst, Bjorn. Har! Ich sage, das ist ein Wort, Wirt!
Eofer: Diese Geschichte hätte ich gern gehört.
Er und die anderen trinken.
Svea: Ich werde aufbrechen. Mit etwas Glück finde ich in Sliasthorp ein Schiff das mich mitnimmt.
Eirik: Passt auf Euch auf, Svea.
SVEA betritt die Hafenstraße. Im Hafen liegt nun ein beschädigtes Schiff vor Anker. In der Nähe befindet sich ein Stall. Auf dem Weg dorthin stößt Svea mit einem UNBEKANNTEN zusammen.
Svea: Verzeihung! Ich habe nicht auf meine Schritte geachtet.
Unbekannter: Da sind wir schon zwei. Ich nehme keinen Anstoß.(sieht zum Dock) Es ist eine Schande, ein solch prachtvolles Schiff derart zerbrochen zu sehen.
Svea: Darum ist es auch schade -
Unbekannter: Was sagt Ihr?
Svea: Es ist nur so, dass ich ein Schiff suchte, dessen Herr mich mitfahren lässt. Doch kein Preis war den Seeleuten angemessen.
Unbekannter (belustigt): Ihr hättet ihnen wohl das Antlitz vergoldet, sodass sie sich selbst noch mehr lieben.
Svea: Versteht mich bitte nicht falsch. Ich will nicht schlecht über die Seeleute reden.
Unbekannter: Selbstredend. Sorgt Euch nicht, ich mache nur zu gern derbe Scherze. Doch sagt, was habt Ihr, eine schöne junge Frau, mit diesem rauen Volk zu schaffen?
Svea: Ihr schmeichelt mir!
Unbekannter (deutet eine Verbeugung an): Ich tat es nicht mit Absicht.
Svea: Ich bin landfahrende Händlerin. Aber das kann nicht alles sein. Mich drängt es immer stärker, aufs Meer zu fahren, und die wundersamen Dinge jenseits des Himmelsrandes zu schauen. Wahrlich, die Fremde ist allzu süß! So kam ich nach Haithabu, um hier eine Passage zu buchen.
Unbekannter: Und die Kapitäne machten dieses Unterfangen zunichte. Aus Aberglauben.
Svea: Aus Angst. Wie ich sah, konnte manch einer sein Amulett nicht loslassen, ehe ich von Bord ging.
Unbekannter: Das hätte ich gern bezeugt. Ha! Angst, sagt Ihr. Diese Matrosen haben ihr Lebtag kein Halfþritugt gesehen, so wüssten sie, was Angst bedeutet.
Svea: Ein Halfþritugt!
Unbekannter: Ihr scheint Euch recht auszukennen. Ein Unglück, dass ich Euch auch nicht helfen kann.
Svea: Ihr tatet mehr als manch Anderer.
Unbekannter: Doch nun verzeiht, ich muss meine Mannen aufsuchen, und der Tag wird nicht jünger. Wir haben einiges zu besprechen. (ab)
Svea: Er schien etwas von Schiffen zu verstehen. Wie dumm! Ich hätte ihn besser nach seinem Namen gefragt.
Vor dem Stall. Nebenan stehen einige KÄMPEN, sowie LOTHAR und tratschen. SVEA führt ihr Gespann auf die Straße. ORTWEIN, EOFER und BJORN kommen hinzu.
Ortwein verstellt Svea den Weg.
Ortwein: Wollt Ihr unserem schönen Haithabu bereits den Rücken kehren? Die Stadt hat viel zu bieten.
Svea: Könntet Ihr mir bitte aus der Sonne treten? Ich muss heute noch nach Sliasthorp.
Bjorn: Eine harte Schönheit! Eofer, mögest du Ortwein aus der Sonne treten?
Eofer: Mitnichten!
Ortwein: Genug. Weib, du solltest deine Zunge hüten. Siehst du nicht die Axt an meinem Gurt?
Bjorn: Denkt nicht, dass wir uns so leicht von einem Schankwirt ablenken lassen. Nicht wenn es eine Menschenseele gibt, der geholfen werden muss.
Svea: Danke, aber ich bedarf keiner Hilfe -
Bjorn: Diese Armreife sehen schwer aus. Es wäre eine Schande, Euch mit diesem Gewicht allein zu lassen.
Svea: Ich sagte doch -
Ortwein: So helfe ich Euch dennoch. Ich habe doch versprochen, Euch meine Kniffe zu zeigen.
Svea: Nicht! Lasst mich los!
Bjorn (hält ihr den Mund zu): Ihre Stimme ist sehr durchdringend. Wir wollen die Nachbarn nicht aufschrecken. (Entsetzt) Beim Gautr!
Eofer: Nicht so laut! Was ist denn passiert?
Bjorn: Sie hat mir schier die Hand zerbissen!
Ortwein: Du machst es dir selbst nur schwerer, Weib.
Kämpen und Lothar sind aufmerksam geworden und kommen dazu.
Lothar: Was ist das hier? Ich höre ein ungöttliches Geschrei zur Abendstunde. Ich muss doch sagen -
Die Rote Svea: Zu Hilfe! Oh!
Lothar: Ihr seid die Unbekannte!
Die Rote Svea: Ihr seid der Unbekannte!
Lothar (indem er Ortwein zur Seite stößt): Was treibt Ihr da? Drei Männer gegen eine Frau?
(Zu Bjorn) Und Ihr blutet als Erster?
Bjorn: Wer seid Ihr?
Eofer: Der Mann hat ein Mundwerk am Leibe -
Ortwein: Euch zeig ich‘s. (Zieht die Breitaxt)
Lothar: Männer, nehmt die anderen beiden fest. Um sie kümmern wir uns später. Wohlauf, Todgeweihter. (Zieht einen Scramasax)
Eofer: Später? An mir sollt ihr keine Freude haben!
Die Rote Svea: Hier geblieben!
Sie tritt ihm zwischen die Schenkel.
Erster Kämpe: Beim Hnikarr. Das ist die Rote Svea.
Bjorn: Was Ihr nicht sagt.
Eofer: Runter von mir!
Zweiter Kämpe: Sie sind verschnürt, Jarl.
Lothar: Gebt Ihr auf?
Ortwein: Bleibt doch stehen und stellt Euch dem Kampf! Springt nicht so weibisch umher!
Lothar: Wie Ihr wünscht.
Die Rote Svea: Keinen Mann habe ich je so kämpfen sehen! Eh‘ ich geblinzelt habe, war Ortwein von Bremen schon entwaffnet!
Ortwein: Das ist nicht möglich. Er muss mit dem Sígtýr im Bunde stehen!
Lothar: Gute Krieger benutzen eben keine Axt im Holmgang. Führt die Truppe dem Markgrafen vor, Männer. Und verbindet dem Dürren die Hand. Mir scheint, er blutet jeden Augenblick stärker.
Bjorn: Da hat er nicht Unrecht...
Ortwein, Bjorn, Eofer und die Mannen ab.
Die Rote Svea: Habt Dank. Ohne Eure Hilfe wäre ich verloren gewesen.
Lothar: Ihr seid zu bescheiden. Wenn ihr wirklich die Rote Svea seid -
Die Rote Svea: Könntet Ihr bitte nicht diesen Namen erwähnen? Er ist mir unangenehm.
Lothar: Wartet, ich möchte Euch einen Vorschlag machen. Euer Gespann sieht sehr wertvoll aus, und die Ware spricht für sich. Doch all Euer Reichtum vermag nicht, Euch auf das Meer zu bringen.
Die Rote Svea: Bohrt ihr gerne in frischen Wunden?
Lothar: So war es nicht gemeint. Seht, dort im Hafen liegt mein Schiff. Es hat in einem Hinterhalt großen Schaden erlitten, und wir haben in dieser Stadt kein Geld.
Die Rote Svea: Ich verstehe. Meint Ihr etwa, Ihr lasst mich mitfahren, wenn ich für die Schäden aufkomme?
Lothar: Mehr noch. Dieses eine Schiff wird Euch gehören. Ihr werdet handeln und wir werden kämpfen, und jeder hat seinen Vorteil davon. Ein Name wie "Die Rote Svea" wird auf See gar nicht so schlecht klingen.
Die Rote Svea: Beim Njörðr. Das ist wunderbar. Ja, so werden wir es halten. Habe ich Euch beim Wort?
Lothar: Eines, das standhafter ist, als Stahl. (lacht) Welch glückliche Fügung! Ich werde sogleich die Reparatur in Auftrag geben.
Die Rote Svea: Eines noch - wohin fahren wir?
Lothar: Was für eine Frage. Wo immer es uns gefällt, natürlich. (ab)