Herzlich willkommen in der vierten Runde der Fanwork-Votes!
In diesem Thema findet ihr die Abgaben zur Kategorie Fanfiction, in der die Teilnehmer eine kurze Geschichte zum Thema "Ein großer Erfolg" erstellen mussten.
ZitatGlück im Beruf, eine Beförderung, eine neue Erkenntnis, eine gelungene Geschäftsidee, ein gewonnenes Turnier? Viele würden das als große Erfolge bezeichnen. Schickt uns eine Abgabe zum Thema, die zeigt, was ihr als großen Erfolg seht Die Wortobergrenze liegt bei 2.000 Worten. Gezählt wird nach der Seite Wörterzählen.de.
Verwendet wird das Vote-System aus dem Mapping-Bereich, bei dem ihr eine bestimmte Anzahl Punkte an die Abgaben verteilen könnt. Dabei steht es euch frei, ob ihr alle Punkte vergeben wollt oder nicht. Für die Teilnehmer eines Teams ist zudem erwähnenswert, dass ihr mit einem Vote die durchschnittlich erhaltene Punktzahl eures Teams anteilig (d.h. im Verhältnis eurer vergebenen Gesamtpunktzahl zur maximal zu vergebenden Gesamtpunktzahl) gutgeschrieben bekommt. Das heißt, wenn viele Mitglieder eines Teams voten, bekommen sie dadurch auch viele Punkte gutgeschrieben. Weitere Informationen zum Vote-System findet ihr hier.
Da 11 Abgaben eingetroffen sind, könnt ihr 21 Punkte frei verteilen, jedoch maximal 7 an eine Abgabe. In eurem Vote müsst ihr Feedback an alle Abgaben mit mindestens drei positiven und/oder negativen Aspekten der Abgabe formulieren. Außerdem sollen die Votes begründet und nachvollziehbar sein. Votes für die Abgabe des eigenen Teams sind nicht gestattet.
Um für uns die Auswertung zu erleichtern, würden wir euch bitten, den Namen eures Teams, solltet ihr in einem sein, mit anzugeben.
Deadline für den Vote ist am Montag, den 04.09.2017 um 18:00:59 Uhr.
In diesem Sinn wünschen wir euch viel Spaß beim Voten!
1772: London, Buckingham Palace
König George III fummelte gelangweilt an seinen Haaren herum und sehnte sich nach seinem Bett, als James, des Königs oberster Butler, den Thronsaal betrat. Der König bemerkte James erst, als dieser vor ihm stand und ihn ansprach.
"Eure Majestät", sagte James leise und verbeugte sich.
Der König fuhr erschrocken hoch und riss sich seine königliche Perücke halb vom Kopf.
"James, verdammt nochmal! Ich habe dir gesagt, dass du mich nicht so erschrecken sollst!", rief der König verärgert und rückte sich die Perücke wieder zurecht.
"Eure Majestät, bitte verzeiht", sprach James und blickte über seine Schulter den leeren Thronsaal hinunter "ich habe geklopft und Sie haben nicht geantwortet."
"Schon gut", sagte der König und richtetete sich auf. Neugierig betrachtete er James und neigte den Kopf zur Seite, "was willst du?"
"Nun, genau genommen bin nicht ich es, der etwas von Ihnen will, sondern ein gewisser John Harrison", antwortete der Butler, "er bittet um eine Audienz bei Ihnen. Er sagt, er hätte das Längenproblem gelöst."
"Das Längenproblem?", fragte der König.
"Sie werden sich bestimmt entsinnen, dass es für Seefahrer schwierig ist, die geografische Länge ihrer Position zu bestimmen", erklärte James, "das führt zu großen Zeitverlusten in der Seefahrt."
"Natürlich", log George, "klingt nach einer großen Sache."
"In der Tat", sagte James, "die Sache ist nur, dass das Komitee, das einen Preis von 20.000£..."
Der König pfiff anerkennend.
"... ausgelobt hat, nicht bereit ist, den Preis auszuzahlen. Der Herr will um Ihre Hilfe bitten, das Komitee zu überzeugen", beendete der Butler.
"Interessant", murmelte der König, "gut, bitte ihn herein."
"Sehr wohl", antwortete James und verbeugte sich erneut. Er drehte sich um und verließ eiligen Schrittes den Thronsaal.
Gerade, als der König sich wieder zu langweilen anfing, betrat James den Thronsaal erneut.
Nach einer Verbeugung stellte er den Besucher vor: "Eure Majestät, dies ist John Harrison, seines Zeichens Uhrmacher."
Ein alter Mann betrat den Thronsaal und verbeugte sich vor dem König.
"Eure Majestät, es ist mir eine Ehre...", begann John, wurde aber vom König unterbrochen.
"Jaja, freut mich auch", sagte George und lehnte sich in seinem Thron vor, "jetzt kommt zur Sache und erzählt mir von der ganzen Angelegenheit"
"Nun..."
1762: London, vor dem Längenausschuss
"Nun, Mister Harrison", sprach der Vorsitzende des Längenausschusses, ein untersetzter Mann mit einem nicht weiter beeindruckenden Schnäuzer, "eine verzwickte Lage ist das hier, nicht wahr? Und das, obwohl ihre erste Uhr recht vielversprechend war."
Der Rest des Längenausschusses murmelte zustimmend. Über die dicken Gläser seiner Brille schaute der Vorsitzende John missbilligend an. Verwirrt starrte John in die von ledrigen Falten umwobenen Augen zurück.
"Verzwickte Lage? Ich verstehe nicht ganz, im Gegenteil eigentlich, die Ergebnisse...", stotterte John verblüfft, wurde aber vom Vorsitzenden unterbrochen.
"Ja, die Ergebnisse sind ziemlich verzwickt, finden Sie nicht auch?", sagte der Vorsitzende gut gelaunt, "wissen Sie, die Uhr, die Sie uns letztes Mal präsentiert hatten war schon recht vielversprechend und so weiter, aber jetzt Mal ehrlich: Sie meinen doch nicht ernsthaft, dass Sie mit dieser Reise bewiesen haben, dass Sie das Längenproblem lösten?"
John spürte, wie er wütend wurde. Er wusste nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund schien die Kommission unzufrieden zu sein. John beschloss, es mit Vernunft zu versuchen.
Betont ruhig sprach er: "Meine Herren, als ich vor über 20 Jahren meinen ersten Chronometer vorführte und auf der See testete, konnte die Position des Schiffes mit nie zuvor dagewesener Genauigkeit bestimmt werden. Da es sich bei der Testfahrt nicht um eine transatlantische Reise handelte, wurde ich von Ihnen mit 500£ vertröstet. Mir wurde aufgetragen, die Uhr zu verbessern und auf einer transatlantischen Reise zu testen"
John holte kurz tief Luft. Die Mitglieder des Kommitees starrten ihn genervt an und der Vorsitzende gähnte.
John versuchte ruhig zu bleiben, sprach aber etwas lauter weiter: "Nun, das habe ich getan. Das neueste Modell ist um ein Vielfaches kleiner als mein erster Chronometer. Er glänzt außerdem durch die einfache Bestimmbarkeit der Position. Zudem entspricht die Präzision der Position, erneut, wie ich hinzufügen will, den von Ihnen gestellten Anforderungen. Zusammenfassend muss ich sagen, bitte verzeihen Sie mir meine Ausdrucksweise, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wieso diese Ergebnisse problematisch sein sollten. Ganz im Gegenteil..."
"Aber Mr. Harrison", unterbrach ihn der Vorsitzende erneut, "nur, weil diese Uhr den Anforderungen entspricht, heißt es doch nicht, dass wir sie verwenden können, oder? Woher sollen wir wissen, dass sie verlässlich ist? Wir sind der Meinung, dass diese Ergebnisse nur eine Aneinanderreihung glücklicher Zufälle ist, Sie hatten einfach nur Glück"
Johns Wut kochte nun endgültig über. Sein Kopf wurde innerhalb von Sekundenbruchteilen roter als seine Haut nach dem letzten Sonnenbrand.
"Glück?", platzte es aus John heraus, "Glück? Das Ergebnis meiner jahrelangen Arbeit soll Glück sein? Diese unvergleichliche Präzision soll Glück sein? Das ist doch nicht ihr Ernst!"
"Und wie das unser Ernst ist! Schicken Sie Ihre Taschenuhr auf eine weitere Reise nach... naja... sagen wir zur Barbadosinsel und dann schauen wir nochmal. Diese Sitzung ist hiermit geschlossen"
Drei Jahre später
"Nun, Mister Harrison", sprach der der Vorsitzende, "eine verzwickte Lage ist das hier, nicht wahr?"
Johns Kopf nahm Rottöne an, die die Welt zuvor nicht gesehen hatte. Irgendwie schaffte er es aber, nicht loszuschreien und den Raum in Einzelteile zu zerlegen. Er hatte das Gefühl, dass solche Wutausbrüche in seinem Alter nicht besonders ratsam waren.
"Nein", sagte er, "ganz und gar nicht. Die Lage ist glasklar. Ich habe das Längenproblem gelöst und verdiene meine Anerkennung."
"Achso?",vernahm der Vorsitzende garstig.
Sein forschender Blick ruhte einige Zeit auf John, wonach er kurz gelangweilt durch seine Unterlagen blätterte. Anschließend wanderte sein Blick zu John zurück.
"Meinen Sie?", fragte er schließlich.
"Absolut, da kann es nichts zu diskutieren geben. Die Abweichung betrug am Ende der Reise nur zehn Meilen. Das ist übrigends dreimal so genau wie die konkurrierende Methode", erklärte er, "es ist eindeutig: meine Methode funktioniert. Sie ist präzise, leicht zu bedienen und zuverlässig"
"Jaja, das ist natürlich alles höchst interessant", erwiderte der Vorsitzende, "es ist aber so, dass wir weiterhin der Meinung sind, dass diese sogenannte Präzision nur Zufall ist, ihre Uhr ist unserer bescheidenen Meinung nach alles andere als zuverlässig. Wie es scheint, haben Sie wohl wieder Glück gehabt. Sie werden sicherlich verstehen, dass wir eine so enorme Geldmenge nicht einfach so einem Glückspilz wie Ihnen auszahlen können, oder? Wo kämen wir denn dahin, wenn einfache Uhrmacher plötzlich wissenschaftliche Auszeichnungen bekämen?"
"Nein! Sie geiziger Mistkerl", schrie John heiser. Seine Geduld war nun endgültig geplatzt, er konnte sich vor Wut kaum auf den Beinen halten. "Sie gottverdammter..."
Mit einem hallenden Schlag verkündete der Vorsitzende das Urteil: "Die Sitzung ist geschlossen, ihr Antrag ist abgelehnt."
Seufzend holte der Vorsitzende Luft, wobei er kaum merklich seinen Kopf schüttelte. Er versuchte, ein spöttisches Grinsen zu unterdrücken, schaffte es aber nicht so recht.
"Kann bitte jemand den armen Herren hinaus begleiten?"
1772: London, Buckingham Palace
"Bis heute... dieser gottverdammte Längenausschuss will meine Leistung immernoch nicht anerkennen. Und das obwohl meine Chronometer allen Anforderungen entsprechen und sie mehrmals getestet wurden", beendete John seine Erzählung, "obwohl ich mich selbst an das Parlament gewendet habe, wurde mir nur die Hälfte des Preisgeldes ausgezahlt. Darum sehe ich mich gezwungen, Eure Majestät um Hilfe zu bitten. Bitte helfen Sie mir, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen."
Der König hatte aufmerksam zugehört und grinste aufmunternd.
"Ich kann Sie gut leiden, John. Sie haben einen hellen Kopf und das trotz ihrem Alter, wenn ich das so sagen darf", sagte der König und rieb sich die Hände "wollen wir doch mal sehen, ob sich da nicht etwas machen lässt."
Die Kraft verließ ihn. Er wollte loslassen. Aber er durfte nicht.
Sein Atem ging rasselnd. Strähnen seines Haares hingen ihm auf der schweißnassen Stirn. Er spürte, wie die Muskeln in seinen Armen zu zittern begannen, sie brannten unter seiner Haut. Die harten Kanten der Steine gruben sich in seine Finger, immer tiefer und schmerzhafter. Sein ganzer Körper verkrampfte sich mehr und mehr.
Er wusste, er durfte nicht. Und trotzdem sah er nach unten. Ein kurzer Blick nur, aber das war genug, um seine Sicht verschwimmen zu lassen.
Da war nichts als Abgrund. Den Boden konnte er längst nicht mehr sehen. Ein Sturz aus dieser Höhe wäre sein Ende.
„Komm schon, Max!“
Er riss sich von der Vorstellung seines zerschmetterten Körpers los und blickte auf. Ein Stück über ihm kletterte Belal. Im Gegensatz zu Max strotzte er noch vor Kraft. Seine Arme zitterten nicht. Die Füße seines Klettergefährten standen fest in den kleinen Einbuchtungen im Felsen. Max konnte sein breites Grinsen sehen und ihm wurde schlecht. Wie konnte Belal so entspannt sein?
Er hätte niemals mit ihm gehen dürfen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass es eine schlechte Idee war. Verdammt! Jetzt war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Der Weg nach unten war zu lang, seine Kraft reichte nicht mehr aus. Er würde kaum bis zur Hälfte kommen, ehe seine Finger von den scharfen Steinkanten abrutschen würden. Und dann würde er fallen. Fallen und fallen und fallen, bis-
„Jetzt stell dich nicht so an!“
„Einfacher gesagt als getan“, zischte Max zwischen seinen Zähnen hervor.
Ganz ruhig. Jetzt in Panik zu geraten würde alles nur noch schlimmer machen. Er musste sich beruhigen. Langsam machen. Einatmen, ausatmen. Es war nicht mehr weit bis zum nächsten Plateau.
Max spürte eine Hand auf seinem zitternden Arm. Als er die Augen öffnete, baumelte Belal neben ihm, nur einen Fuß in die Felswand gedrückt und eine Hand um eine Kante gekrallt. Er grinste breit, entspannt, vollkommen ruhig. Max wandte seinen Blick schnell ab.
„Is‘ nicht mehr weit“, sprach Belal ihm Mut zu.
„Ich kann nicht mehr“, keuchte Max. Belal so zu sehen, als ob er jeden Moment den Halt verliert, hätte sämtliche Ruhe, die er sich mühevoll zusammengesucht hatte, wieder verschwinden lassen. Er spürte die Anstrengung, die ihm langsam alle Kraft aus den Armen zog und ihn daran erinnerte, dass er diese Position nicht mehr lange würde halten können.
„Kannst ja loslassen.“ Belal schaffte es, mit den Schultern zu zucken. Bevor Max antworten konnte, schwang sein Freund sich nach oben. Er griff mit der Linken nach einem kleinen Felsvorsprung, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und ging in die Knie.
Max konnte nur einen erschrockenen Schrei von sich geben, als Belal mit einem Satz in die Höhe schoss. Über ihm war nichts, an dem er sich festhalten hätte können, nur glatter Fels. Der nächste Vorsprung war viel zu weit entfernt. Belal würde fallen. Er würde fallen!
Für einen kurzen Moment glitt sein Körper in die Höhe, dann holte ihn die Schwerkraft ein. Seine Hände glitten über den Fels, doch er fand keinen Halt. Belal fiel. Und fiel. Keinen Meter an Max vorbei. Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Und trotzdem lächelte er. Dann war er verschwunden.
Max starrte an die Stelle über ihm, an der sein Freund gerade noch gehangen hatte. Langsam glitt sein Blick nach unten. Tiefer, immer tiefer.
Er presste die Augen zusammen, grub die Finger in den Fels, bis er sie nicht mehr spürte. Er wollte schreien. Aber er konnte nicht. In seinem Kopf herrschte Leere.
Belal war weg.
Er war alleine.
Verdammt.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Seine Stirn knallte gegen den Felsen. Bunte Blitze tauchten in der Schwärze hinter seinen Lidern auf. Die Kanten drückten ihm jegliches Gefühl aus den Fingern. Die Muskelstränge in seinen Armen schienen jeden Moment zu reißen.
Max war am Ende. Er würde fallen, genauso wie Belal auch. Und dann …
Nein! Er konnte nicht aufgeben. Nicht so. Seine Zähne knirschten. Er schluckte die Angst herunter.
Als Max die Augen endlich wieder öffnete, glühten sie vor Anstrengung und Wut. Er befahl seinem Herzen, sich zu beruhigen, seinem Körper zu arbeiten, seinem Kopf mit dem Denken aufzuhören. Er würde nicht fallen.
Adrenalin rauschte in seinen Adern. Der Schmerz in seinen Gliedern wurde zu einem dumpfen Pochen. Seine Ohren waren taub für alles um ihn herum.
Er sah hoch. Fand einen Vorsprung, atmete ein und aus.
Und schwang sich hoch.
Sein Magen machte einen Satz, als die Schwerkraft an ihm zog. Aber seine Finger krallten sich in den Felsen, unnachgiebig und verkrampft. Verzweifelt suchte sein rechter Fuß Halt, aber er fand ihn nicht. Er musste weiter. Hoch. Immer höher.
Max drückte sich vom Felsen ab, weiter in die Höhe. Stück für Stück. Linke Hand, die rechte an die gleiche Stelle, das Bein nachziehen. Noch ein Stück strecken. Ein kleiner Sprung bis zur nächsten Kante.
Nicht nach unten sehen.
Hoch.
Weiter nach rechts, zum nächsten Vorsprung. Rechte Hand. Linker Fuß.
Nur noch ein Stück. Er konnte die Kante schon sehen.
Der Schmerz pochte wieder. Das Adrenalin versiegte. Er musste sich beeilen.
Linke Hand. Mit dem rechten Fuße abdrücken. Nur noch ein kleines Stück.
Fast geschafft.
Fast.
Seine Augen suchten die Wand ab.
Verdammt.
Da war nichts, an dem er sich mehr festhalten konnte.
Er würde springen müssen.
Vor seinen Augen sah er Belal. Er sah den Körper seiner Freundes an ihm vorbei in die Tiefe fallen. Wie der Wind an seinen Kleidern und seinen Haaren zerrte.
Max beugte seine Knie. Er presste seinen Körper an die kalte Oberfläche, seine Wange gegen den Felsen. Sein Atem rasselte. Schweiß rann ihm über die Stirn. Wind trieb ihm seine Haare ins Gesicht. Die Kälte des Gesteins fuhr ihm in den Körper. Arme und Beine zitterten.
Ein letztes Mal.
Nicht mehr weit.
Max atmete aus. Und schloss die Augen.
Seine verkrampften Finger lösten sich von der Kante. Er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor. Spürte, wie die Schwerkraft an ihm zog, wie sein Körper langsam nach hinten kippte.
Ein letzter Schub. Seine Beine schossen hoch. Die Kraft seines Sprungs katapultierte ihn in die Höhe. Er drückte die Arme nach oben, streckte sich soweit er konnte.
Da war nichts.
Er spürte nichts unter seinen Fingern.
Es war nicht genug gewesen.
Er würde fallen.
Fallen wie Belal.
Fallen.
Ein Ruck ging durch seinen Körper als seine Finger an der Kante hängen blieben wie Enterhaken. Max keuchte und riss die Augen auf. Seine Füße glitten über die Felswand. Die Muskeln in seinen Armen brannten, als er versuchte, sich hochzuziehen.
Komm schon! Es tat so weh. Nur noch ein Stück! Seine Arme würden ihn im Stich lassen, wenn er noch viel länger hängen blieb. Für einen kurzen Moment fand er Halt mit dem rechten Fuß. Als er sich hochdrückte entfuhr Max ein Schrei. Er schrie vor Angst, vor Wut, vor Anstrengung und vor Schmerzen.
Und dann lag er auf dem Plateau.
Mit dem Gesicht gegen den kalten Boden gepresst, Arme und Beine von sich gestreckt, lag er keuchend da. Sekunden vergingen. Minuten. Alles drehte sich. Sterne tanzten vor seinen Augen. Blut rauschte in seinen Ohren. Er spürte seinen Körper nicht mehr.
Dann, ganz langsam und vorsichtig, rappelte er sich auf. Taubheit wurde von Erleichterung übermannt. Ein nervöses Lachen entkam ihm, als er zur Kante krabbelte. Zentimeter für Zentimeter. Er musste sie einfach sehen. Die Tiefe, die er bezwungen hatte.
Sein Herz pochte in seiner Brust so stark, dass Max Angst hatte, es würde jeden Moment aussetzen. Zehn Zentimeter noch, dann würde er in den Abgrund blicken.
Sieben.
Fünf.
Drei.
Zwei.
Einer.
„Hat ja lange genug gedauert“, stieß Max aus.
Direkt unter ihm schwebte Belals Kopf, ein schelmisches Grinsen auf den Lippen. Mit nur einer Hand an der Kante hing er über dem Abgrund. Mit der anderen bedeckte er sein geschauspielertes Gähnen. Max wich von der Kante zurück um ihm Platz zu machen und beinahe mühelos schwang sich sein Freund zu ihm aufs Plateau. Er ließ sich neben ihn fallen, streckte Arme und Beine von sich.
„Ich wollte es nur etwas spannend machen“, antwortete er und dieses Mal konnte er das leichte Keuchen nicht mehr verbergen. Mit einem Schwung richtete er sich in eine sitzende Position auf und rieb an seinem Knöchel.
„Alles klar?“, fragte Max mit kritischem Blick.
„Ach, nicht der Rede wert. Bin nur etwas blöd aufgekommen.“ Belal zuckte mit den Schultern. Die beiden verfielen für einen kurzen Moment in Schweigen.
„Und, was sagst du zu der Aussicht? Hab doch gesagt, die lohnt sich.“
Max folgte seinem Blick. Bis zum azurblauen Horizont bedeckten dichte Baumwipfel den Boden. Weit weg sah er einen Fluss, der eine Schneise in das Grün grub. Wind fuhr durch das Geäst und trieb die Bäume in alle Richtungen. Der kühle Hauch ließ Gänsehaut auf seinen Armen erscheinen. Dicke, weiße Wolken trieben über den Himmel, als würden sie gejagt werden. Noch nie hatte er so eine Aussicht gesehen. Es war unglaublich.
„Das nächste Mal kletterst du alleine“, murmelte Max mit verzogenem Gesicht, aber das stolze Lächeln konnte er sich nicht ganz verkneifen.
„Du stellst dich an …“, seufzte Belal und schlug ihm leicht gegen den schmerzenden Arm.
„Ich dachte, ich müsste sterben!“
Für einen kurzen Moment hielt Belal inne. Dann brach er in Gelächter aus.
„Was?“ Max spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Er wäre beinahe gefallen. Das war kein Scherz! Das hier war Ernst! Purer Ernst!
Belal warf ihm einen amüsierten Blick zu. Dann, mit seinem typisch breiten Grinsen: „Dir ist aber schon bewusst, dass wir nur zwei Meter über dem Boden sind?“
Mit einem Mal drang das Geräusch von spielenden und lachenden Kindern an seine Ohren. Die Bäume am Horizont teilten sich und machten Platz für einige Holzbänke, eine kleine Wiese mit Teich und seine spielenden Mitschüler. Der Felsenboden unter ihm wurde weicher und die Vorsprünge wurden zu bunten Steinen. Der Duft vom Mittagessen trieb sich durch den Garten.
„Ah, es gibt Spaghetti!“, stieß Belal nach kurzem Schnuppern aus. Keine zwei Sekunden später drang das Geräusch der Pausenglocke zu ihnen, zusammen mit der Stimme der Nachmittagsbetreuung. Die Kinder verließen die Spielgeräte und liefen zurück zum Haus. Belal sprang auf und war schon wieder beinahe unten, da krabbelte Max an die Kante und starrte in den Abgrund.
„Hey, na los!“, rief Belal zu ihm hoch. „Du liebst doch Spaghetti!“
Zögerlich nickte Max.
„Was ist dann das Problem?“
Als Max antwortete, spürte er die Hitze in seinen Wangen.
„Ich kann nicht runterkommen …“
Belal runzelte die Stirn, als er seine Füße in den Sand direkt vor der Kletterwand stellte. „Und warum das?“
„Ich glaube … ich habe Höhenangst.“
„Harret! Kommen Sie! Worauf warten Sie, Soldat? Das war ein Befehl!“
Ich weiß, dass der Lieutenant außer sich war, weil ich seinen Befehl missachtete. Ich spüre es auch jetzt.
„Da kommt noch jemand“, höre ich mich selbst sagen. Aber ich bin nicht in meinem Körper. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob das tatsächlich ich bin, dort in der Uniform mit dem Gewehr am Abzug. Ich weiß nicht mehr, was es war, ein Geräusch, ein Gefühl, aber irgendetwas alarmierte mich. „Das ist eine Falle!“, sagte der Soldat mit meiner Stimme und meinem Gesicht.
Ich blicke mich um. Die Umgebung ist klarer als ich dachte. Ich sehe dicht bewachsene Bäume, es ist Sommer. Wir befinden uns am Rande eines Waldes; dort vorne, auf der freien Fläche finden die Grenzkämpfe statt. In nicht einmal einem Kilometer Entfernung, liegt die Basis des Feindes. Aber ich weiß, dass sie nicht da waren. Ich erinnere mich nicht mehr, warum.
„Wie kommen Sie darauf, Harret? Und was fällt Ihnen ein, die Befehle Ihres Vorgesetzen zu übergehen?“ Der Lieutenant ist immer noch wütend, aber er spricht leiser, als würde er meiner Vermutung zumindest ein wenig glauben. Aber ich antworte nicht. Ich hatte schon immer eine große Neugierde, doch in diesem Moment hätte sie mich fast das Leben gekostet, denn vorsichtig schleiche ich, oder zumindest der Soldat, der ich war, in die Richtung des Feindes – ich folge, ohne dass ich etwas machen muss. Ich bin nicht dieser Soldat, aber ich werde mich auch niemals von ihm lösen können.
Ohne ein weiteres Wort erscheint auch der Lieutenant hinter uns. Ich vermute, er vertraute mir, sicher bin ich mir bis heute nicht.
Die Stille ist bedrückend. Jetzt, da niemand mehr spricht, merke ich, dass auch sonst kein Geräusch zu hören ist, kein Vogelgesang, kein Blätterrauschen. Ob das den Soldaten alarmiert hat? Ich erinnere mich nicht. Schweigend starren wir auf den Waldrand. Was sieht er? Was sehe ich? Dort war etwas, das weiß ich. Dort war der Feind.
Plötzlich höre ich etwas. Es klingt wie das Knacken eines Zweiges, sodass ich aufgrund dieses Klischees fast lachen muss; aber ich weiß, dass es kein knackender Zweig war, und der Lieutenant und mein Soldaten-Ich stehen in Alarmbereitschaft, wagen es nicht einmal, zu atmen. Ich weiß, dass ich nichts am Verlauf der Dinge ändern kann, selbst wenn ich es wollte. Will ich es? Ich wünsche mir, ich hätte eine Alternative gehabt. Ich wünsche, da stünde ein anderer Soldat, einer der nicht ich war.
Ich bemerke die Bewegung nun deutlicher, da ich weiß, worauf ich achten muss. Dennoch ist ihre Tarnung grandios. Wie vielen Männern hat sie bereits den Tod gebracht, ohne dass sie etwas bemerkten? Wenn ein Wind wehen würde, könnte man meinen, es ginge nur ein Rauschen durch das Unterholz. Ohne auch nur ein unnatürliches Geräusch bewegt sich der Feind durch den Wald, umhüllt von einer Blätterdecke, welche in feinster Handarbeit entstanden sein musste. Es ist erstaunlich, an wie viel ich mich erinnere, obwohl ich immer meinte, es nie so genau gesehen zu haben. Ich bemerke sogar die extra federnden Schuhe, mit denen sie selbst auf belaubtem Boden kaum Geräusche machen. Für das Wissen um diese Technik würden Militärausstatter Milliarden zahlen.
Der Lieutenant steht noch immer neben mir. Er hat die Bewegung nicht bemerkt, nicht so schnell wie ich. Aber ich zögere. Ich zögere und es vergehen Sekunden, wertvolle Sekunden, die uns und anderen hätten den Tod bringen können. Ein Soldat hätte nicht gezögert.
Ich beobachte mich, wie ich an meine Weste greife. Alles geschieht wie in Zeitlupe. Während ich zusehe, wie ich eine Granate nehme und den Stift ziehe, überlege ich, ob es besser gewesen wäre, wenn ich ihre Nutzung nie gelernt hätte. Ich bin mir nicht sicher, wie die Antwort lautet. Wenn es dennoch zu dieser Situation gekommen wäre, hätte dieses fehlende Wissen womöglich Leben gekostet.
Während die Granate fliegt, drehe ich den Kopf weg. Ich erkenne noch, wie der Lieutenant reagiert – er wird sich mit dem Soldaten zu Boden werfen – dann schließe ich die Augen, auch wenn ich genau weiß, dass es nichts bringt; ich sehe die Explosion trotzdem in jeder Einzelheit vor mir, genau so, wie der Soldat sie erlebte. Ich höre den Knall, spüre den Druck und kurz darauf steht der Wald um mich in Flammen. Mir ist bewusst, dass mein nächster Blick den feindlichen Truppen gelten wird. Oder zumindest dem, was meine Granate gelassen hatte. Nichts schützt mich vor diesen Bildern. Ich hätte nicht hinschauen dürfen. Noch heute spüre ich die Hitze, die Hitze des Feuers, das den Tod bedeutet und doch Leben rettete.
„Daniel?“ Die Stimme meines Lieutenant dringt durch den Rauch des Feuers zu mir. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
Ich spüre, dass ich nicke, noch ehe ich wieder vollkommen Herr meiner Sinne bin. Mein Kopf pocht aufgrund der schrecklichen Gedanken. Aber ich sitze, ich bin nicht dort. Als ich die Augen öffne, blicke ich wieder auf die Bühne vor mir. Seit jenem Tag vergleiche ich alles mit dem Wald. Es ist dunkler hier, fast schon bedrückend. Die Bühne ist hell erleuchtet, jeder weiß, wo etwas passieren wird. Ein Mann steht dort oben am Podest. Er ist der mächtigste Mann dieser Nation und er spricht über mich.
„Durch sein schnelles und gezieltes Eingreifen konnte Private Daniel Harret nicht nur seine Kameraden vor dem Überraschungsangriff schützen, sondern bewahrte auch hunderte Zivilpersonen der Grenzstadt Porters vor dem sicheren Tod. Niemandem zuvor ist es gelungen, einen solchen Angriff vorauszusehen, geschweige denn zu verhindern. Deshalb sind wir heute hier, um diesen Mann zu ehren.“ Nun wendet er sich direkt an mich. Es ist schon seltsam. Ich hatte nie erwartet, jemals mit dem Präsidenten in einem Raum zu sein, und jetzt spricht er sogar mit mir. „Private, erheben Sie sich!“
Ich stehe auf. Es verwirrt mich beinahe ein bisschen, wieder in meinem Körper zu sein, ihn kontrollieren zu können. Ich trage eine glatt gebügelte, beinahe schon glänzende Uniform, welche alle Anwesenden denken lässt, ich sei ein Soldat. Aber das bin ich nicht. Das wollte ich nie sein.
Ich trete zum Präsidenten. Er ist kleiner als ich erwartet hatte, aber er strahlt eine Autorität aus, die seine Körpergröße um ein Vielfaches übersteigt. Seine braunen Haare sind zurückgekämmt und seine gleichfarbigen Augen schauen aufrichtig zu mir, so als sei es ihm wirklich ein ernsthaftes Anliegen, mir heute diesen Orden zu überreichen. Ich hoffe, ich sehe nicht so aus, wie ich mich fühle, denn es ist mir eine Ehre hier zu sein. Dennoch kann ich das Gefühl nicht unterdrücken, dass ich nichts Großartiges vollbracht habe, dass ich niemand bin, dem Ehre gebührt.
„Private Daniel Harret, ich verleihe Ihnen hiermit den Orden für besondere Verdienste in militärischen Konflikten. Damit dankt Ihnen Ihr Vaterland für alle Mühen und Gefahren, die Sie auf sich genommen haben, um die Ihren zu schützen.“ Mit diesen Worten nimmt der Präsident den Orden aus der Schatulle und steckt ihn mir an die Brust. Ich habe das Gefühl, sein Gewicht nicht tragen zu können. Er versucht das Gewicht derer, die ich gerettet habe, mit dem jener, die dafür sterben mussten, abzuwiegen. Auch das waren nur Soldaten. Sie haben nur Befehle ausgeführt. Genau wie ich. Vielleicht wollten sie noch nicht einmal ins Militär. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein ganzes Land voller Menschen so grausam sein kann. Und doch war ich nicht besser.
Ich merke nur zum Teil, wie der Präsident mir die Hand schüttelt und sich dann mit mir zusammen dem Publikum zuwendet. Meine Gedanken sind wieder in dem Wald. Erneut sehe ich mir zu, wie ich mit dem Lieutenant vor dem Feuer fliehe. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diese Erinnerung, diesen einen Moment bereits durchlebt habe; irgendwann habe ich aufgehört, zu zählen. Der Applaus des Publikums lässt mich kurz zusammenzucken. Schüsse waren an dieser Stelle noch nie vorgekommen. Als meine Gedanken wieder ins Hier und Jetzt wandern, sehe ich in viele ehrlich stolze Gesichter. Sie halten mich für einen großen Helden, sie denken, meine Handlung war ein großer Erfolg, doch mir ist der Preis zu hoch, den ich dafür zahlen musste. Und trotzdem habe ich mich dafür entschieden, es zu tun. Und wahrscheinlich würde ich es wieder tun.
„Durch Ihren mutigen Einsatz konnten viele unschuldige Leben gerettet werden. Durch Sie sind wir dem Ende dieses Krieges nun so nah wie noch nie. Ich bedanke mich im Namen der gesamten Nation für Ihr tapferes Vorgehen. Vielen Dank!“
Jedes Mal, wenn Flea den Hebel betätigte, mit dem sie die Feder aufzog, klackerte es wild in der Apparatur auf ihrem Rücken. Schon beinahe zu hektisch versuchte sie die zahlreichen Vorkehrungen zu treffen, die für ihren Absprung vonnöten waren, bevor sie sich schließlich hinhockte, noch ein letztes Mal die vor sich liegende Umgebung betrachtete, die Augen schloss und den Abschuss betätigte.
Die beiden Leisten, die aus ihrem mechanischen Rücken herausragten und angewinkelt waren wie riesige Beine von Heuschrecken, klappten auseinander und stießen sie so ruckartig vom Boden ab. Sie sauste mit irrem Tempo hinauf durch das Gestrüpp, durch die Baumkronen, hinauf in die Winde, bevor der Schub nachließ und sie wieder in Richtung Boden fiel. Sie landete auf einem Klippenvorsprung, prallte unsanft auf und rollte ein paar Meter weit durch den Dreck. Schnell rappelte sie sich wieder auf und blickte sich um. Es war ihr gelungen: Sie hatte die hohe Klippe überwunden. Noch ein Dutzend solcher Sprünge und sie würde die spitze der Fingerkuppen erreichen – eine hoch aufragende, zerfressene Felsformation, die in den Himmel ragte und einige der seltensten Pflanzen und den wundervollsten Ausblick der ganzen Region für sich beanspruchte.
Flea stemmte sich auf und erklomm die von Moos und Flechten durchwachsene Felswand. Ihre Finger bluteten, doch unnachgiebig schob sie sie weiter zwischen die Felskanten, zog sich und ihren schweren Rückenapparat weiter hinauf und versuchte so entschlossen wie möglich, die Höhe zu ignorieren, in der sie sich befand. Ihr Atem rasselte schmerzhaft durch ihre trockene Kehle, das Schlucken fiel ihr schwer und Tränen standen ihr in den Augen.
Wieder sah sich Flea fast fünf Meter Abgrund gegenüber, die sie überwinden musste. Das Licht schillerte durch die umgebenden Blätterdächer und schien sporadisch duch die leicht von der Feuchtigkeit des Waldes benebelte Luft. Ein malerischer Anblick, für den Flea momentan nicht viel Aufmerksamkeit übrig hatte. Stattdessen setzte sie sich erneut daran, ihre Sprungvorrichtung vorzubereiten und kurbelte am Hebel, der die Feder spannte. Spitze Steine säumten die Kante ihres Zielortes.
„Verdammt“, murmelte sie. Sie durfte weder sterben noch zögern. Wieder setzte sie sich in die Hocke und betätigte den Auslöser, dieses Mal jedoch mit weniger Selbstbewusstsein. Es katapultierte sie nach vorne, sie machte im Flug einen Salto und schlug seitlich auf der Steinkante auf. Sie fühlte eine ihrer Rippen knacken. Einige Sekunden lang regte sie sich nicht, sondern ließ nur ein klägliches Stöhnen aus ihrer Lunge entweichen. Ihr Blick fiel auf ihren Arm, der vom verzweigten Muster der Äderchen durchsetzt war, die vom Gift gefärbt in ihrem Körper leuchtend violett durch die Haut hindurchschienen. Ich habe nicht mehr viel Zeit, dachte sie und zwang sich aufzustehen.
Der Wind fegte über ihre Stirn und kühlte die Schweißperlen, die darauf standen. Das Rauschen in ihren Ohren wirkte dumpf und die Geräusche des Waldes drangen nur halb in sie ein. Flea wusste nicht, ob es an der Wirkung des Giftes lag oder an ihrer Anstrengung. Sie packte an ihre Hüfte und zog eine Flasche Wasser hervor, um zu trinken. Es war nicht mehr viel übrig. Schwindel machte sich in ihr breit – ein Gefühl, das sie momentan so gar nicht gebrauchen konnte. Flea wütete innerlich.
Sie kletterte den Vorsprung hinauf und zog sich dann an einer riesigen Wurzel hoch, die durch das Felsgestein gewachsen war. Dann sprang sie über einige wenig vertrauenserweckende Steinsäulen zur ersten Fingerkuppe. Von hier aus konnte sie ihr Ziel bereits sehen: Ein uralter, kleiner Baum mit tief gefalteter, dunkler Rinde und kaum Blattwuchs, der auf der größten der Sandsteinsäulen wuchs. Es war ein Antidobaum, selbst nicht einmal zwei Meter hoch.
Erneut setzte Flea zum Sprung an. Sie landete in einem Gestrüpp und riss sich an einer Dorne darin die Wange auf. Dieses Mal dauert es eine Weile, bis sie die Energie aufbringen konnte, sich aus dem Strauch zu befreien. Sie kroch weiter durch das Dickicht und verlor dann das Bewusstsein.
Der Regen weckte sie. „Verdammt …“, fluchte sie, als sie bemerkte, dass sie geschlafen hatte.
Sie sah auf ihren Arm. Das Gift hatte sich weiter ausgebreitet, die Adern traten nun ganz klar hervor. Sie sah zum Antidobaum hinauf. Als Kind hatte Flea viel Zeit in den Fingerkuppen verbracht. Es war immer ihr Traum gewesen, auf den höchsten Punkt zu gelangen und dort ein kleines Baumhaus zu bauen. Niemand zuvor hatte es geschafft, diese Höhe je zu erklimmen, da war sie sich sicher. Nun würde sie die erste sein. Doch dass es auf diese Weise geschehen sollte, hätte sie selbst in ihren Alpträumen nie befürchtet. Ihre Sprungapparatur hatte sie eigentlich nur zum Spaß gebaut – um sich ins Wasser zu schießen. Der Mechanismus war niemals als tatsächliches Transportmittel vorgesehen gewesen, allerdings wusste sie, dass sie den Baum nicht schnell genug würde erreichen können, wenn sie auf herkömmliche Kletterwerkzeuge vertraute. Also blieb ihr keine Wahl. Was sollte schon schief gehen?
Die junge Frau vollzog zwei weitere Sprünge, schüfte sich dabei das halbe Gesicht auf und brach sich einen kleinen Finger. Trotzdem machte sie weiter. Noch zwanzig Meter höher. Noch siebzehn. Der Regen erschwerte ihre Kleidung, der Krach des Rauschens drückte auf ihre Ohren. Sie sah ein Nest mit einem Adler, der seine Jungen mit einem Flügel abschirmte. Noch zwölf Meter.
Von hier aus, dachte sie sich, könnte sie das letzte Stück durch einen letzten Sprung hinter sich bringen. Wenn sie die Steinsäule mit dem Baum verfehlte, würde sie hinab in die Tiefe stürzen. Der Antidobaum, den sie gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester zuhause bei sich großgezogen hatte, war in der letzten Regenperiode zugrunde gegangen. Nun war dieser hier ihr letzter Ausweg, da sie sonst keinen anderen mehr kannte. Der Sprung musste also gelingen.
Flea machte sich bereit. Sie katapultierte sich los, doch merkte sofort, dass etwas an ihrem Winkel nicht stimmte. Sie streckte ihre Arme aus und bekam einen der Äste des Baums zu fassen, verfehlte die Säule jedoch. Sie riss den Ast im vorüberfliegen mit sich und stürzte hinab.
Flea landete in einem Fluss weit unten. Sie keuchte, während sie versuchte, über Wasser zu bleiben und den Ast nicht zu verlieren. Schließlich gelangte sie zum Ufer, streifte den riesigen mechanischen Apparat von ihrem Rücken und hustete, rücklings auf dem Boden liegend, mehrere Minuten lang um sich, während ihre Beine noch im vorbeifließenden Wasser hingen. Einer ihrer Arme war gebrochen, im anderen umklammerte sie das Holz des alten Baums so fest, dass sie förmlich alles Blut aus ihren Fingern hinauspresste. Dann führte sie die Rinde an ihren Mund und biss hinein. Sie brauchte wegen ihres zitternden Unterkiefers eine ganze Weile, bis sie es schaffte, ein Stück der harten Rinde abzubrechen. Es fiel ihr nicht leicht, es durchzukauen. Sie hatte kaum noch Kraft.
Der Kompass zeigte ihr, in welcher Richtung ihre Heimat lag, also machte sie sich wieder auf dem Weg. Die Schritte fielen ihr schwer. Sie hatte es geschafft, den Ort ihrer Kindheitsträume zu erreichen, doch im Moment konnte sie kaum etwas von den Gedanken an ihre Schwester ablenken, zu der sie zurückkehren musste, was es auch kostete. Ohne die Sprungvorrichtung fiel ihr das Laufen deutlich leichter, doch ihr Körper zahlte längst den Tribut für den sorglosen Umgang, mit dem Flea ihn strapaziert hatte. Noch immer kaute sie an der Rinde, die die tödliche Vergiftung des Salamanders aufheben sollte, doch das war mittlerweile ein schwacher Trost angesichts ihrer heftigen Verletzungen. Flea durchlebte ihre Umgebung mittlerweile nur noch durch einen fiebrigen Dunst, ohne überhaupt die Schmerzen zu spüren, die sie eigentlich hätten lähmen sollen.
Nur noch ein bisschen, dachte sich Flea, während sie mit wackligen Beinen über Äste, Steine und Wurzeln kletterte. Sie wusste, wo sie war. Seit Jahren lebte sie in dieser Gegend, allein mit ihrer Schwester, da ihr Heimatdorf durch eine Überschwemmung zerstört worden war. Der Regen wusch das Blut aus Fleas Gesicht in ihre Kleidung. Es würde nicht mehr lange dauern.
Da war das Feld mit Früchten, die sie mit ihrer Schwester gemeinsam anbaute. Etwas weiter hinten stand die Hütte, die sie in langer, mühseliger Arbeit aufgebaut hatten. Direkt vor der Hütte, in einer riesigen Blutlache, lag die Leiche. Sie war von einer großen Machete in einem heftigen Schwung in zwei Hälften geteilt worden. Die Machete klebte noch immer an Ort und Stelle und war nun das einzige, das beide Teile zusammenhielt. Der Giftsalamander war fast zwei Meter lang gewesen, doch Flea hatte kurzen Prozess mit ihm gemacht – aber nicht, ohne sich dabei die Vergiftung zuzuziehen.
Sie betrat die Hütte, in der ihre Schwester auf dem provisorischen Bett lag. Flea suchte sich ein Messer und schnitt weitere Teile der Rinde vom Holz ab, das sie bis hierher mitgenommen hatte. Dann steckte sie die Rinde in ihren Mund und kaute sie zu brei. In eine Schüssel kippte sie etwas Wasser und ein wenig Pflanzenfett, dann spuckte sie die durchkaute Rinde hinein und rührte alles zusammen.
„Ich bin wieder da, Demy“, sagte Flea mit zitternder Stimme.
Der Körper ihrer kleinen Schwester war von den Giftadern bereits vollkommen überzogen. Demy atmete ruhig, doch sie atmete. Flea weckte sie, doch das Mädchen war zu müde um zu sprechen. Stattdessen schluckte sie den Inhalt der Schüssel ohne ein Wort zu sagen. Flea lächelte matt. „Du wirst gesund, versprochen.“
Dann nahm sie sie in die Arme. „Ich habs geschafft“, flüsterte Flea schwach, eher zu sich selbst als zu ihrer Schwester. Ich habs geschafft, wiederholte sie in Gedanken, da sie die Kraft verlor, die Worte auszusprechen. Sie legte sich erschöpft neben Demy ins Bett, dann schloss sie die Augen, kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
Ich habs geschafft.
„Haltet den Dieb!“
Ich lief über den harten Asphalt, Schritt für Schritt, so schnell mich meine Beine tragen konnten, unterdrückte einen freudigen Aufschrei. Noch hatte ich meine Verfolgerin nicht abgehängt, noch konnte ich nicht aufatmen. Und doch wollte ich Freudensprünge vollführen, als ich das kalte Metall in meiner Hand spürte. Ich hatte es endlich geschafft. Die alte Frau, die mir schnaufend hinterherlief, konnte mir nun auch nichts mehr anhaben.
Ich sprintete durch enge Gassen, rutschte beinahe aus, fing mich wieder, rannte weiter, gelangte in Richtung Stadtmauer; ich hatte mir diesen Weg genauestens eingeprägt, um die Innenstadt so schnell wie möglich verlassen zu können, sollte ich mein Ziel erreicht haben. Die aufgeregten Stimmen hinter mir verhallten. Ich hatte meine Verfolgerin abgehängt, befand mich nun in einer sicheren Entfernung zur Hauptstraße. Ein gefährlicher Ort, denn dort waren zu viele Menschen, viel zu viele – sie hatten mir eine gute Deckung geboten, mich unsichtbar gemacht. Doch würde einer von ihnen schnell genug reagiert haben, würde ich niemals hier angekommen sein. In dieser Seitengasse aber gab es vermutlich niemanden, der mir gefährlich werden konnte. Selbst wenn ich hier eine Menschenseele getroffen hätte, wäre diese vermutlich nicht weniger verdorben gewesen als ich selbst.
Ich lachte leise und lehnte mich gegen eine Hauswand; sofort bröckelten Teile vom Putz ab, bis zum Außendistrikt hatte ich es nicht mehr weit. Zufrieden betrachtete ich meine Beute; eine Goldkette, die mit kleinen Rubinen verziert war. Im Sonnenlicht glänzte sie sicher wunderschön, doch im Moment war der Himmel grau und wolkenverhangen. Ich hatte Tage auf diese Kette hingearbeitet, hatte mir mein Opfer sorgfältig ausgesucht, einen guten Zeitpunkt abgewartet.
Beinahe war ich geschnappt worden, als ich am Vortag versucht hatte, einem jungen Mann seine Brieftasche abzunehmen; doch diese Kette war noch viel wertvoller. Ich war stolz, erleichtert, doch langsam machte sich Müdigkeit in meinen Knochen breit. Die letzten Tage hatte ich kaum geschlafen; zu beschäftigt war ich mit der Planung meines Vorhabens, zu nervös war ich, von der Polizei gefunden zu werden. Zu sehr waren meine Gedanken bei der Person, für die ich das hier tat.
Ich atmete einmal tief durch; der Wind war eiskalt und ich spürte, wie einzelne Regentropfen meine Haut trafen. Bald würde es wahrscheinlich in Strömen regnen – bis dahin wollte ich wieder zurück sein. Ich steckte die Goldkette tief in die Tasche meines schmutzigen, grauen Mantels und stieß mich wieder von der Hauswand ab.
„Coel ... Ich habe nicht mehr lange.“
Ich musste schlucken, spürte einen Kloß in meinem Hals. Mein Gegenüber wich meinem Blick aus, wich der Frage aus, die ich ihm stellen würde.
„Was meinst du, Kide?“
Der schwarzhaarige Junge blickte endlich auf und lachte leise. „Tu nicht so, als ob du es nicht schon die ganze Zeit gewusst hättest. Wir haben es beide gewusst. Es war nur eine Frage der Zeit, bis –“
Ein Hustenschwall unterbrach Kide. Sein schlaksiger Körper zuckte unter den krampfartigen Schmerzen, Tränen stießen in seine Augen. Doch er lächelte noch immer.
„Diese Epidemie ... Sie hat mir meine Mutter genommen, meine Schwester ... und nun bin wohl ich an der Reihe. Weißt du ... Ich habe keine Angst vor dem Tod. Nicht mehr. Ich lebe nun schon seit Wochen Seite an Seite mit ihm, ich fürchte ihn nicht mehr.“
Ich starrte ihn entgeistert an. „So ein Unsinn! Du wirst mich nicht wirklich zurücklassen, oder? Es ist noch viel zu früh zum Aufgeben! Wir werden schon eine Möglichkeit finden! Alles was du brauchst, ist ein Arzt aus der Innenstadt, nicht wahr? Auch wenn es nur ein kleiner Hoffnungsschimmer ist, du musst alles versuchen! Wenn wir jemanden finden, der ohne Gegenleistung – “
Kides Gesichtsausdruck verfinsterte sich augenblicklich. Seine dunklen Augen starrten mich eindringlich an.
„Denkst du wirklich, ich hätte nicht schon alles versucht? Denkst du, ich wäre der Einzige in dieser Situation? Coel, es ist eine verdammte Epidemie! Wir sind der Abschaum der Gesellschaft! Denkst du ernsthaft, jemand aus der Innenstadt würde uns helfen? Uns, die nicht einmal wissen, ob sie den kommenden Tag erleben werden? Diese Leute sind doch viel zu fein, um unsereins überhaupt eines Blickes zu würdigen.“ Er lachte bitter auf.
„Also ... wirst du einfach aufgeben?“ Meine Stimme zitterte.
„Ich bin in einer Sackgasse angelangt, Coel. Ich bin gezwungen, aufzugeben.“
Eine bedrückende Stille lag zwischen uns beiden. Der Wind pfiff leise durchs Fenster; ich fühlte mich elend, furchtbar elend, doch ich war mir sicher, dass es Kide in diesem Moment noch viel schlechter ging.
„Dann gib eben auf. Bleib ruhig hier und warte auf deinen Tod. Aber ...“
Ich stand auf, die Hände zu Fäusten geballt, und blickte Kide in die Augen.
„... erwarte nicht von mir, dass ich es dir gleichtue.“
In der Ferne konnte ich das Bellen eines Hundes hören. War es ein Polizeihund?
Ich biss die Zähne zusammen. Bis zum Außendistrikt war es nicht mehr weit; so kurz vor dem Ziel von der Polizei geschnappt zu werden ... Nein, ich durfte gar nicht daran denken. War der alten Dame diese Goldkette tatsächlich so wichtig gewesen? Wichtiger als das Leben meines besten Freundes? Beinahe wollte ich der Besitzerin der Kette den Tod wünschen, doch anstatt weitere Gedanken an sie zu verschwenden, konzentrierte ich mich aufs Rennen. Der Regen fiel mittlerweile in vielen dicken Tropfen vom Himmel; der Boden war feucht und aufgeweicht, das Laufen fiel mir immer schwerer. Meine Füße schmerzten, das Atmen tat ebenfalls weh. Aber ich hatte es geschafft.
Meine rechte Hand steckte in meiner Manteltasche, die Goldkette fest umklammernd. Kein Schmerz der Welt konnte mein Gefühl des Triumphs jetzt überschatten.
„Wir brauchen Geld, richtig?“
Verwirrt schaute Kide auf.
„Mit viel Geld finden wir einen geeigneten Arzt, da bin ich mir ganz sicher. Ich werde in die Innenstadt gehen und diese „feinen Leute“ etwas erleichtern. Dort drüben am Stadtrand gibt es eine Person, die Wertgegenstände gegen Geld eintauscht – ich habe gehört, dass sich dieser berüchtigte Mann manchmal sogar auf Diebesgut einlässt. Ich werde ihm einen Besuch abstatten.“ Ich lächelte triumphierend, doch mir entging nicht, wie entgeistert mich mein Gegenüber mit einem Mal anstarrte.
„Du bist verrückt!“
Kide sprang auf und wurde abermals von einem Hustenschwall am Reden gehindert.
„Das... wagst du nicht“, brachte er schließlich hervor. „Du wirst geschnappt werden. Sie werden dich einsperren oder sogar töten. Ich ... Ich will nicht, dass du stirbst.“
„Da haben wir was gemeinsam.“ Ohne ihn noch einmal anzusehen, drehte ich mich um.
„Mach dir keine Sorgen, ich bin nicht dumm. Ich werde auf die ideale Gelegenheit warten und mir eine Fluchtroute zurechtlegen. Es wird vermutlich etwas dauern. Warte hier auf mich und schone dich – wenn ich zurückkomme ...“
Ich drehte mich kurz um und sah, wie sich Kide stöhnend auf einen wackeligen Stuhl fallen ließ.
„... dann will ich, dass du am Leben bist.“
„Ich wusste, du würdest kommen.“
Der breit gebaute Mann grinste mir entgegen, als ich – mittlerweile klatschnass – seine Bude betrat. Er hatte kaum noch Haare am Kopf, seine Haut war übersät von Narben; normalerweise hätte ich um jemanden wie ihn vermutlich einen großen Bogen gemacht, doch an jenem Tag brauchte ich ihn. „Ich habe mich mittlerweile auch oft genug angekündigt, nicht?“
Der Mann lachte, als ich näher auf ihn zutrat, doch es wirkte nicht herzlich. Bedrohlich, einschüchternd.
„Hast du etwas für mich mitgebracht?“
Ich nickte und holte langsam die Goldkette aus meiner Tasche hervor.
„Tatsächlich! Das hätte ich einem Kind wie dir nicht zugetraut. Respekt. Dein Freund kann sich glücklich schätzen, jemanden wie dich zu haben.“ Abermals lachte er und klopfte mir auf die Schulter.
Ich beobachtete den stämmigen Mann, während er sich die Goldkette genauestens besah.
Dein Freund kann sich glücklich schätzen jemanden wie dich zu haben. Unsinn. Ich war ohnehin zu spät.
Ich schüttelte den Kopf und verdrängte alle unangenehmen Gedanken, versuchte, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich hatte die Goldkette. Ich konnte sie gegen Geld eintauschen. Endlich war das Glück auf meiner Seite. Alles würde wieder gut werden.
Ich hechtete durch schmale Gassen, an vielen baufälligen Häusern vorbei, bald würde ich da sein. In meiner Tasche fest umklammert das, worauf ich so lange hingearbeitet hatte. Diese Papierscheine, diese elenden Papierscheine, die Kides Leben retten konnten.
Ich rannte so schnell mich meine Beine tragen konnten, stolperte, fiel in den Schlamm. Meine Haare waren nass, meine Hände schmutzig, kalte Regentropfen liefen mir übers Gesicht; meine Schuhe waren löchrig, die Füße nass. Doch ich rappelte mich wieder auf, lief weiter. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, meine Lungen stachen, jeder Atemzug tat weh. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, ich musste mich beeilen. Jede Sekunde zählte. Ich wollte zu Kide, musste ihm das Geld geben, ihn in die Innenstadt bringen, bevor es zu spät war. Eiskalter Wind blies mir entgegen, es fühlte sich an, als würde der Regen auf meinem Gesicht augenblicklich gefrieren. Doch ich lachte. Ich hatte es geschafft.
Ich rannte weiter, bis ich endlich vor dem heruntergekommenen Gebäudekomplex stand. Viele der Fenster waren kaputt, eingeschlagen oder mit Steinen eingeworfen, und die ursprüngliche Farbe der Mauern konnte nur noch erahnt werden. Kaum jemand wohnte hier, doch an diesem Ort lag mein Ziel. Ich wollte mich hinsetzen, mich ausruhen, doch ich atmete nur einmal tief durch und schritt voran.
Die Tür war nicht abgeschlossen; das Schloss war schon lange kaputt gewesen. Ringsherum Leute, die mich finster anstarrten. Rechts neben dem Eingang war eine junge Frau zusammengebrochen, ihre Kleider waren schmutzig und ihre Nase blutete. Womöglich war auch sie ein Opfer dieser Epidemie. Sie war noch so jung gewesen, vermutlich nicht viel älter als ich selbst, doch für sie schien jede Rettung zu spät. Ich musste schlucken. Ich durfte mich nicht von ihr ablenken lassen.
Kraftlos stieg ich hinauf in den zweiten Stock, die Treppen knarrten unter jedem meiner Schritte. Für einen Moment bekam ich Angst, plötzlich umzufallen und einzuschlafen. Ich war erschöpft, hungrig, meine Glieder schmerzten. Doch jetzt war nicht der richtige Moment, um sich auszuruhen; ich war bald da.
Doch es war schon zu spät.
Abermals schüttelte ich den Kopf, wütend auf mich selbst. Ich war nicht zu spät, ich hatte mich nicht umsonst angestrengt. Ich hatte es geschafft.
Schwer atmend stieß ich eine der Türen auf. Sie quietschte laut, hörte sich an, als würde sie gleich aus den Angeln fallen. Doch ich machte mir nicht einmal die Mühe, sie wieder zu schließen, trat in die Wohnung ein. Regen tropfte von meinen Haaren und prasselte auf den morschen Holzboden nieder.
„Kide!“
Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und rief laut den Namen meines besten Freundes. Horchte. Keine Antwort.
Die Wohnung war leer.
Sie war schon lange leer gewesen.
Erneut atmete ich tief durch und lief durch die Wohnung, durchsuchte jeden Winkel, immer wieder Kides Namen rufend. Die Ratlosigkeit wuchs in mir, ebenso wie die Verzweiflung. Gedankenfetzen drängten sich mir auf, schlimme Gedankenfetzen, doch ich wollte sie aus meinem Kopf verbannen, wollte sie nicht wahrhaben.
Ich war bereits hier gewesen.
Eine Lüge.
Ich hatte ihn tot aufgefunden.
Ein Hirngespinst.
Es dauerte zu lange. Ich wollte ihn noch ein letztes Mal sehen.
Meine Einbildung.
Ich war verrückt geworden.
Ich spürte Tränen über mein Gesicht laufen. Langsam ließ ich mich an der Wand runterrutschen, zog die Knie an, vergrub mein Gesicht in meinen Armen. Wollte etwas sagen, doch wieder und wieder schoben sich Fetzen meiner Erinnerung dazwischen. Ich war verrückt geworden.
Nein, ich hatte es geschafft.
„Kide ...“
Meine Stimme zitterte, doch ich lächelte.
„Ich bin wieder da.“
Es ist kalt und regnerisch – ein ungemütliches Wetter, bei dem niemand unterwegs ist. Gut, wenn man es genau nimmt, dann ist hier auch bei strahlendem Sonnenschein nie jemand zu sehen. Die einzigen Personen, denen man begegnet, sind Hundebesitzer, die es sich mit der Anschaffung ihres Haustieres auch zur Pflicht gemacht haben, bei Wind und Wetter spazieren zu gehen.
Ich wollte schon immer einen Hund, seitdem ich klein war. Sie faszinierten mich, doch auch all das Betteln und Flehen brachte nichts – meine Mutter kaufte mir nie einen. Eigentlich könnte ich mir jetzt einen kaufen – einen kleinen, der sich immer wie ein Wahnsinniger freut, wenn ich heim komme.
Ich erreiche das Zentrum, wenn ein so kleines Örtchen so etwas überhaupt besitzt. Eine Kreuzung, eine Bäckerei und die kleine Bar – diese Elemente bilden die Dorfmitte, die nicht mal wirklich zentral liegt. Jeden Morgen ging ich auf meinem Weg zur Bushaltestelle hier über den Zebrastreifen. Ich verließ das Haus genau um sieben Uhr und dreißig Minuten und stand zwei Minuten später an der Bushaltestelle. Der Bus kam immer um Punkt sieben Uhr und sechsunddreißig Minuten. Er kam nie später. Wenn er um diese Uhrzeit noch nicht da war, dann kam er auch nicht mehr. Und da in diesem kleinen Dorf am Ende der Welt kein anderer Bus fuhr, bekamen wir frei. Wie oft schauten wir wohl nervös auf unsere Uhren hofften, dass er heute nicht kommen würde? Die Freude war groß, wenn die fünf Minuten, die niemand jemals festgelegt hatte, um waren und alle wie auf ein unsichtbares Kommando hin nach Hause gegangen waren. Genauso groß war auch die Enttäuschung, wenn der Bus pünktlich um die Kurve kam.
Was hassten wir es, jeden Tag zur Schule zu gehen. Oder zumindest taten wir so, denn eigentlich hatte keiner von uns eine schreckliche Zeit dort. Es stimmt mich etwas melancholisch daran zurück zu denken und irgendwie vermisse ich doch die Schulzeit. Uni ist doch etwas ganz anderes als der Schulalltag.
Da der Wind stärker wird, knöpfe ich meinen Mantel zu. Ich habe mir einen wirklich furchtbaren Tag ausgesucht, um nochmal meine Mutter zu besuchen. Doch ich hatte tatsächlich Heimweh und war dem Drang, mein Heimatdorf zu besuchen einfach gefolgt, ohne mir größere Gedanken zu machen.
Hätte man meinem fünfzehn-jährigen Ich gesagt, dass es irgendwann freiwillig von der Stadt ins Dorf zurückkehren würde – sei es auch nur für einen Nachmittag – so hätte ich die Person wohl für verrückt erklärt. Damals fühlte sich das Leben auf dem Dorf an, als sei man eingesperrt. Man kam nicht weg ohne gefahren zu werden. Es sei dann man wollte zwei Stunden zur nächsten Kleinstadt spazieren. Außer dem Schulbus gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel, es gab keinen Supermarkt, nicht mal eine Bibliothek. Wenn man nicht in der Schule war, dann verbrachte man seine Freizeit damit, die Zeit irgendwie tot zu schlagen. Ich wünschte mir damals nichts sehnlicher als in einer Großstadt zu wohnen.
Mein Weg führt mich die Straße hinauf. Eigentlich gehe ich immer weiter von meinem Haus weg, doch ich möchte die Chance nutzen, mich nochmal etwas umzusehen. Es wirkt als habe sich nichts verändert. Als wäre die Zeit all die Jahre, die ich fort war, über eingefroren gewesen. Auch jetzt ist sie weiterhin eingefroren.
Ich erreiche den kleinen Platz, an dem wir abends tranken und rauchten. Jugendsünden eben. Dinge, die man ausprobierte und danach bereute, aber man war jung und wollte das Leben genießen. Es war die Zeit im Leben, in der man das Nest verließ, in welchem man wie ein Nestling großgezogen wurde. Manche tasteten sich vorsichtig heran, andere sprangen einfach hinaus, doch eine Regel blieb für alle die gleiche: fliegen oder stürzen.
Aus meinem Mund stößt eine weiße Atemwolke aus. Was wohl aus den anderen geworden ist? Was haben sie aus ihrem Leben gemacht? Zu den meisten habe ich schon lange keinen Kontakt mehr. Er brach ab, als ich mit dem Abitur fertig war und meine Sachen zusammenpackte, um Umzuziehen. Ich ließ damals alles einfach hinter mir, ohne mir Gedanken darüber zu machen. Ich wollte einfach nur weg – weg von der Enge des Dorfes, wo jeder jeden kennt, weg von den Wiesen mit den Kühen und Pferden.
Ich setze meinen Weg fort. Der Regen hat nachgelassen und es nieselt inzwischen nur noch leicht, weswegen ich meine Kapuze zurückstreife und meine blonde Haarpracht aus dem Kragen ziehe. Ich färbte sie mir damals kurz nach meinem Umzug rein aus einem Impuls heraus. Vielleicht war es, weil alle immer sagten, dass meine roten Haare so schön seien, dass ich die Haare meiner Mutter hätte. Die Haare meiner Mutter und das Gesicht meines Vaters – die perfekte Tochter mit der perfekten Persönlichkeit vom Land. Eigentlich fehlte nur noch ein Bauernhof mit Tieren und Gemüsefeldern und eine perfekte Kleinfamilie. Allerdings besaß ich nie einen Bauernhof und auch keine perfekte Familie.
Die Straße steigt an und ich mache größere Schritte, um besser vorwärts zukommen. Der Wind reißt an meinen Haaren und raubt mir den Atem. Ich komme an den Häusern mit den kleinen gepflegten Vorgärten vorbei, in denen früher die älteren Leute lebten. Einige waren freundlich und schenkten einem Süßigkeiten, wenn man sich mit ihnen unterhielt, andere beobachteten einen garstig von ihrer Küchenbank durchs Fenster aus und sahen nach, ob man auch nicht ihren hübschen Garten zerstörte. Zumindest war das früher so , doch auch jetzt sehe ich ein aufmerksames Augenpaar, das mich mustert.
Eine gute Zeit lang folgt Haus auf Haus während an meiner linken Seite hin und wieder ein kostspieliges Auto vorbei rauscht. Sicher verbarg sich in dem ein oder anderen Gefährt ein alter Bekannter, der hier zurück geblieben ist und jeden Tag mit dem von Opa gesponserten Audi zur Universität oder zur Ausbildung fuhr. Zugegebenermaßen habe ich mich auch ein Auto gegönnt. Ein altes, bei dem man Angst haben musste, dass es jede Sekunde auseinander fallen könnte.
Ich lasse die Häuserreihe hinter mir und folge weiterhin dem Straßenlauf. Obwohl ich ohne wirkliches Ziel drauflosging, war es kein Wunder, dass ich gerade diese Straße aussuchte. Ich bin sie früher oft entlang spaziert, um meinen Onkel zu besuchen. Von der Straße, in der ich wohnte, mal abgesehen ist das die Straße, die ich mit Abstand am besten kenne.
Der schicke Wagen meines Onkels steht in seiner Einfahrt, doch das offene Garagentor lässt vermuten, dass er gerade mit seinem Motorrad unterwegs ist. Schade, ich hätte gerne die Chance genutzt, um ihn nochmal zu treffen. Ich bleibe noch etwas in der Einfahrt stehen – so als würde ich darauf hoffen, dass er jeden Moment zurückkommt, doch nur seine Nachbarn kommen nach Hause. Ich nicke ihnen kurz zu bevor ich meinen Weg fortsetze.
Ich laufe an dem alten, verwitterten Bushäuschen vorbei, oder, besser gesagt, eher seinen Überresten. Früher konnte man zumindest noch erahnen, was es darstellen sollte, doch jetzt sind es nur noch ein paar Bretter, die fast magisch zusammenhalten. Es ist mir ein Mysterium wie dieses Konstrukt hält.
Direkt hinter den Ruinen biege ich links in eine kleine Seitenstraße ein. Inzwischen wird es mit der Zeit immer dunkel und kälter. Meine Mutter wartet sicherlich schon auf mich, doch irgendwie will ich noch nicht umdrehen.
Die Häuser, die hier stehen, sind eine ganz andere Liga als alle anderen Häuser im Dorf. Kleine Villen mit riesigen, elektronischen Gartentoren, damit der Porsche, der nicht mehr in die Garage passte, nicht von betrunkenen Jugendlichen zerkratzt wird. Dazu der platonische Rottweiler und das dazu gelieferte „Hier wache ich!“-Schild im gepflegten Vorgarten und das Bild ist perfekt. Früher empfand ich genau zwei Gefühle für die Bewohner dieser Häusern; Hohn, weil sie fast schon lächerlich perfekt waren und Neid, weil ich auch so perfekt sein wollte wie sie oder vielmehr dieses scheinbar perfekte Leben leben wollte, das diese Menschen führten. Wie reiche Menschen unglücklich sein konnten, war mir ein Rätsel.
Das Einzige, was ich früher wie heute für sie empfinde, ist Unverständnis. Wie kann man nur in dieses Örtchen am Ende der Welt ziehen, wenn einem die ganze Welt offen steht? Hätte ich das Geld, würde ich schon längst in New York oder Tokio leben, aber doch nicht hier am Ende der Welt.
Es beginnt erneut, zu regnen, dieses Mal heftiger als zuvor. Es schüttet geradezu. Ich ziehe mir die Kapuze hastig über den Kopf und eile in der Hoffnung dem Schlimmsten noch zu entgehen, in Richtung Heim los. Als ich am Haus meines Onkels vorbeilaufe, ruft jemand plötzlich meinen Namen.
Eine ehemalige Klassenkameradin hat das Fenster geöffnet und blickt zu mir auf die Straße. Ich habe ganz vergessen, dass sie direkt neben meinem Onkel wohnt. Sie winkt mir zu, deutet auf die Haustür und sie verschwindet wieder. Ihrer Anweisung folgend erklimme ich die Stufen zur Tür, die sich wenige Sekunden später öffnet.
Es fühlt sich an, als wäre ich Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen. Doch auch hier ist die Zeit eingefroren; alles ist, wie es vor Jahren auch war. Ich folge ihr die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ich weiß wieder genau, wo es ist. Ich war früher oft hier, wenn ich Streit mit meiner Mutter hatte und mein Onkel arbeitete. Hier gab es immer eine offene Tür für mich. Ich fiel tief in meinem Leben. Ab einem gewissen Punkt wartete ich eigentlich nur noch auf den Aufprall auf den harten Boden, doch bewahrte man mich vor diesem Erlebnis. Ich habe in meiner Abwesenheit ganz vergessen, was manche Menschen für mich taten – was ich alles Gutes in meinem Leben erleben durfte.
Zu zweit sitzen wir nun auf ihrem Bett.
„Ganz wie früher, was?“ Sie lächelt mich an.
Ich nicke. „Das bringt Erinnerungen zurück.“
„Gute oder schlechte?“ Obwohl ihre Stimme ernst ist, grinst sie.
Ich denke kurz nach, ehe ich antworte.
„Beides“, erwidere ich, füge dann jedoch mit einem Grinsen hinzu, „aber eher schlechte.“
„Pubertät ist eine furchtbare Zeit.“ Sie kichert etwas.
„Die Schlimmste von allen; aber hey – wir haben sie hinter uns gebracht!“ Ich überschlage meine Beine und lehne mich etwas zurück; meine anfängliche Anspannung ist verschwunden.
„Und du hast dir deinen Traum erfüllt und bist in die Großstadt gezogen, was?“ Gut zu wissen, dass meine Familie auch nach meinem Umzug das Dorf über mein Leben auf dem Laufenden hält.
„Genau.“ Ich lasse mich auf den Rücken fallen. „Ich bin so froh hier raus zu sein.“
„Ich glaube, ich folge deinem Beispiel. Ich halte das so langsam nicht mehr aus! Diese ganzen alten Leute machen mich richtig depressiv mit ihren komischen Geschichten!“
Ich lache. Sie steigt mit ein, sodass wir nun wie früher zusammen lachen.
In einem Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben ist, doch dieses Mal ganz ohne Fesseln, denn mir sind Flügel gewachsen, als ich wie ein Nestling mein Nest verließ und ich lernte, zu fliegen.
An Rhein und Ruhr marschieren wir,
für unsere Freiheit kämpfen wir,
den Streifendienst, schlagt ihn entzwei,
Edelweiß marschiert, Achtung die Straße frei.
Gitarrenklänge. Gesang. Das Knistern des Lagerfeuers. Rauch in meiner Nase. All diese Dinge erinnern mich an unser erstes Treffen, an das kribbelnde Gefühl in meinem Bauch. Unsere Zusammenkünfte waren wie Feuer in der Nacht, Inseln aus Licht in einer finsteren Zeit. Während die anderen Mädchen aus meiner Klasse zur nächsten BdM-Versammlung marschiert waren, hatte ich einfach irgendwo im Grüngürtel gelegen und der Musik gelauscht. Frei vom Drill und von all den Regeln.
Ich hatte mich wohl gefühlt. Zu Hause wartete eh niemand auf mich, seit sie Vater abgeholt hatten und Mutter jeden Tag von morgens bis abends in der Fabrik saß. Vielen meiner Freunde ging es genauso. Kette zum Beispiel hatte seinen Vater seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen. War eingezogen worden. Muckis Vater war ebenfalls lange verschwunden, aber bei dem wusste keiner, wohin. Eines Tages war er einfach zur Arbeit gegangen und nicht mehr wiedergekehrt.
„He, guckt euch Taler an. Die starrt wieder Löcher in die Luft.“
Der Klang des eigenen Namens kann dieselbe Wirkung haben wie ein Eimer kalten Wassers, der einem über den Kopf gegossen wird. Ich riss mich in die Wirklichkeit zurück und sah in die Runde.
Sieben Augenpaare starrten zurück. Wir saßen auf Baumstämmen, die zu einem groben Kreis ausgelegt waren, und in der Mitte loderte das Feuer. Die Gitarrenmusik war verstummt und war dem Konzert der Grillen gewichen, die irgendwo in den Büschen saßen.
Mein Blick blieb an Kettes Gesicht hängen. Er hatte sein Instrument beiseite gelegt und grinste mich breit an.
„Tu ich gar nicht“, sagte ich, und er zog betont langsam an einer Zigarette, wie um mir zu zeigen, dass er mir nicht glaubte.
„Woran haste gedacht?“ Winnetou ließ nicht locker, aber das tat er nie.
„Du weißt genau, woran sie gedacht hat“, murrte der lange Tomaten-Achim von der Seite. „An früher. Wie immer. Wach endlich auf, Taler.“
„Mach n' Kopp zu. Ich hab an die neuen Flugblätter gedacht. Sind die schon fertig?“
Mein Blick wanderte zu Mucki herüber. Sie war diejenige, die oft Kontakt mit Tom aufnahm, unserem Drucker-Heini. Von all meinen Freundinnen war Mucki die mutigste. Sogar die Hitlerjungen bekamen Angst, wenn sich ihre Wege kreuzten. Ich war gern mit ihr unterwegs.
Doch sie schüttelte den Kopf. „Nein. Die brauchen noch ein paar Tage. Aber ich habe neue Kreide besorgt. Habt ihr Lust auf einen kleinen Ausflug?“
„Ach was, Kreide, dann regnet's wieder, und alles war umsonst“, warf Tomaten-Achim ein.
Ich sah nach oben in den Abendhimmel. Ein paar Wolken hoben sich dunkel vom violetten Himmel ab. Es war kühl, aber nicht kalt, und man merkte, dass der Herbst kam. „Sieht nicht nach Regen aus. Oder hast du 'ne bessere Idee?“, fragte ich.
„Nein.“
„Sei mal zur Abwechslung weniger pessimistisch“, meinte Kette und verdrehte die Augen, grinste gleich darauf aber schon wieder. Seinen Namen hatte er von der dicken Kette mit dem Totenkopfsymbol, die er stets um den Hals trug. Das flackernde Licht des Feuers malte tanzende Schatten in Kettes Gesicht und auf den Anhänger, und beides zusammen verliehen dem Burschen ein fast schon unheimliches Aussehen. „Also, wer ist dabei?“
„Im EL-DE-Haus feiern die heute irgendwas, hab ich gehört. Das bedeutet, wir müssen uns weniger um die Patrouille Sorgen machen“, meinte Hadschi. Danach hielt er sich einen Finger unter die Nase, konnte das Niesen aber nicht verhindern.
„Fein.“ Kette stand auf, Mucki und ein paar Andere machten es ihm nach. „Worauf wartet ihr noch?“
„Darauf, dass du dich in Bewegung setzt“, gab ich zurück.
Also setzten wir uns in Bewegung.
Der Güterbahnhof befand sich nur ein kleines Stück östlich des Schrebergartens, in dem wir uns immer trafen. Das war praktisch, denn so brauchten wir nur wenige Minuten, um uns in Position zu bringen. Außerdem konnte man von dort aus schnell abhauen und in den Gärten und Parks des Grüngürtels abtauchen. Es war sozusagen das perfekte Vorgehen, wenn man mal das Bedürfnis hatte, seine Meinung zu Hitlers Verbrechen zu sagen.
Ob wir jemals Angst hatten? Selten. Außer Tomaten-Achim waren wir alle immer voll dabei, aber der Kerl war sowieso unverbesserlich. Jedenfalls sagten wir uns immer, dass wir immer noch wegrennen konnten, wenn uns doch irgendwann mal eine Patrouille ertappen sollte.
Die Edelweißpiraten waren eben nicht so leicht zu schnappen. Edelweiß, das sei ein Name für eine Mädchengruppe, hatten sich die Jungs beschwert, aber gleichzeitig wussten wir, dass es der richtige Name war. Edelweiß wächst in den Bergen, keiner kommt da oben heran, keine Pflanze ist so frei wie das Edelweiß.
Als wir am Bahnhof ankamen, war die Sonne bereits fast untergegangen. Kette und Tomaten-Achim verteilten die Kreide, und dann machten wir uns an die Arbeit. Ich sah dabei zu, wie meine Freunde sich aufteilten, und wandte mich dann an Kette, der als Einziger bei mir geblieben war.
„Irgendwie hübsch, oder?“, sagte ich, und zeigte auf die düstere Umgebung. Die Güterwaggons standen herum wie riesige Tiere, die Nachtruhe hielten, und alles war totenstill. Es roch nach verrostetem Eisen und Erde.
„Noch hübscher sind sie, wenn wir mit ihnen fertig sind.“
Ich krempelte meine Ärmel hoch. „Richtig. Also los.“
Genau wie bei unseren Flugblättern hielten wir die Parolen kurz. Weg mit der braunen Horde. Für was kämpft ihr, Soldaten? Das hier ist nicht mehr unser Land! Wir kommen um in diesem Elend! Diese und noch mehr dieser Sprüche schrieben wir auf die Güterwagons, und solange uns keiner unterbrach, machten wir weiter. Es hatte bereits Abende gegeben, da war jeder einzelne Wagon von uns verziert worden.
„Du hast vorhin abgelenkt“, sagte Kette, kaum dass wir mit dem zweiten Wagon fertig waren.
„Was?“
„Als du sagtest, du hättest an die Flugblätter gedacht. Was geht dir wirklich durch den Kopf?“
Ich hielt inne und ließ die Arme sinken. „Seit wann bin ich so durchschaubar?“
Er lachte. „Ich bin nicht blind, Taler. Außerdem verbringen wir so gut wie jede freie Stunde zusammen. Komm schon, mir kannst du alles erzählen.“
„Ach, nein. Du wirst denken, ich wär naiv.“
„Auf keinen Fall. Du kannst mir vertrauen.“
Ich erwiderte Kettes Blick. Seinen echten Namen kannte ich nicht. Jeder von uns hatte einen Spitznamen, und falls einer von der Gestapo mitgenommen wurde, bekamen die Scheißkerle nur Namen wie Gurken-Achim, Kette oder Taler genannt. Taler, das war ich. Den Namen hat Mucki mir damals gegeben, weil ich immer einen Glückstaler in der Tasche hatte.
Es war als Sicherheitsmaßnahme gedacht, und die meisten von uns mochten ihre neuen Namen sogar sehr gern.
„Fein. Ich habe wirklich an die Zeit vor dem Krieg gedacht.“
Kette sah mich an, aber es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen. „Warum?“
„Wünschst du dir nie, dass alles ist wie damals? Wie früher?“, fragte ich leise.
„Was meinst du?“
„Wandern. Fahren. Am Lagerfeuer sitzen und Geschichten erzählen. Wir wollten doch nur frei sein.“
„Sind wir immer noch. Nur mit kleinen Abstrichen.“
„Optimist.“
Wir machten weiter. Nachdem wir etwa sechs Wagons verschönert hatten, trafen wir wieder mit den Anderen zusammen. Mucki und der Rest unserer Freunde war genauso erfolgreich gewesen wie Kette und ich.
„Das war fast schon zu einfach“, tönte Hadschi, und warf seine Kreide übermütig gegen einen der Wagons, wo sie zerschellte und einen kleinen, weißen Fleck zurückließ.
„Sei still!“, zischte ich. „Wenn du hier so herum bölkst, geht’s uns wie den Navajos.“
„Ach was. Wir sind schlauer als die.“
„Wenn wir morgen im Gestapo-Keller sitzen, unterhalten wir uns weiter!“
„Ist sie nicht liebenswürdig?“, frotzelte Kette und sah in die Runde. „Die Hitlerjungen wissen gar nicht, was sie verpassen.“
„Pass op, ich kann Mikado!“
„Beruhig dich. Wir sollten gehen“, flüsterte Mucki.
„Gute Idee.“
Wir drehten uns um.
Wir liefen los.
Und dann hörten wir die Schritte.
Es waren schwere Schritte, viele davon, im Einklang, und jeder davon wurde von einem leisen Klimpern begleitet.
Wie in Zeitlupe drehte ich mich um, und als ich sah, wer diese Schritte machte, gefror mein Inneres zu Eis.
Es waren Männer, bestimmt ein Dutzend von ihnen, und sie trugen lange, schwarze Jacken mit silbernen Knöpfen und roten Armbinden. Diese Uniformen kannte ich. Es waren keine Schutzmänner, und es waren auch keine der Obdachlosen, die man in Köln nun öfter sah.
Wir hatten keine Laterne dabei, die aber schon, und darum sahen wir sie, sie uns jedoch nicht.
Ich wollte gerade nach Kettes Jacke greifen, um ihn zu warnen, doch da passierte das, was passieren musste – Hadschi nieste.
Und die Nacht verwandelte sich. Eben hatte ich noch die rostige Romantik des verlassenen Bahnhofs gespürt, nun spülte eine eiskalte Angst alle anderen Gefühle weg.
„Wer ist da? Stehen geblieben!“, bellte einer der Männer durch die Finsternis, aber wir hörten nicht darauf.
„Gestapo! Lauft!“, schrie ich, und weil meine Freunde sich erst reflexartig umdrehten, um die Gefahr zu identifizieren, packte ich Hadschi und Kette einfach bei den Armen und zog sie mit mir.
Der Bahnhof blieb hinter uns zurück. Unsere Stiefel knirschten laut im Kies, der überall herumlag, und ich hörte, dass die Nazis die Verfolgung aufgenommen hatten, und ich rannte noch schneller. Mittlerweile hatte ich Hadschi und Kette wieder losgelassen, denn die beiden liefen schneller als ich.
„Aufteilen“, kommandierte Mucki, die schräg hinter mir war, und wir gehorchten. Tomaten-Achim bog in die nächste Querstraße ab und verschwand in den Schatten. Kette rannte in die entgegengesetzte Richtung. Irgendwann war ich allein, denn ich wollte keinem meiner Freunde hinterherrennen, und ich hörte immer noch ein paar Gestapo-Männer hinter mir.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich einholten, da war ich sicher. Sie waren größer, sie waren ausgebildete Soldaten. Jede Sekunde erwartete ich, dass eine Hand mich von hinten packte, mich zu Boden riss, und dass sie mich danach mitnehmen würden.
Die Straßen, über die ich lief, sahen nicht mehr vertraut und gemütlich aus. Stattdessen waren sie düster, grau, und voller unbekannter Schrecken. Mein eigener, keuchender Atem klang übermäßig laut in meinen Ohren. Gleich würde mich jemand packen.
Gleich.
Gleich …
Jetzt.
Aber es passierte nicht. Niemand packte mich, niemand schoss auf mich, aber trotzdem gönnte ich mir keine Pause. Ich blieb erst stehen, als ich den Grüngürtel erreicht hatte. Ich versteckte mich in unserem kleinen Schrebergarten, kauerte mich zwischen die kleine Hütte und das Tomatenbeet, und lauschte.
Lange Zeit passierte nichts. Es war dunkel, und die Grillen zirpten noch immer, und ich konnte die letzten, schwelenden Reste unseres Feuers riechen. Die Angst kam und ging, als wäre sie der Ozean und ich ein Strand, an dem sich die Wellen der Furcht brachen.
Und irgendwann kam Kette wieder.
Und dann kam Mucki wieder.
Und dann Hadschi, und dann Tomaten-Achim, und auch der Rest von uns. Der Schreck saß uns in den Knochen, wir waren naiv gewesen, uns für unverwundbar zu halten, aber gleichzeitig wussten wir, dass das, was wir taten, richtig war. Irgendjemand musste zeigen, dass es Menschen gab, die sich gegen Hitler und seine Sauhunde stellten.
Wir lachten die Gestapo aus. Wir lachten so laut wie lange nicht mehr, weil sie es nicht geschafft hatten, uns zu fangen, und wir entzündeten das Feuer erneut, und dann sangen wir.
Für uns war diese Nacht ein gewaltiger Erfolg gewesen.
Ganz einsam und verlassen
An einer Felsenwand,
wohl unter blauem Himmel,
der Felsensee genannt.
Dort treffen sich Piraten,
Vom Stamme Edelweiß,
Mit ihren blonden Mädels,
Vom Köln am Rhein allein.
Und wenn sie uns mal schnappen,
dann geht es nach Neuwied,
und dort in stiller Einsamkeit,
da singen wir ein Lied.
Wir sind Piraten,
vom Trampen und von Fahrten,
Das Edelweiß, so klar und rein,
Soll dabei unser Zeichen sein.
Die Nacht war warm, und eine angenehme Brise strich durch Whites Haare. Sie stütze die Arme auf das Geländer und sah auf das Meer hinaus. Sie war wieder zu Hause, hier in Avenitia. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit, von dem sie nicht sagen konnte, was es genau war. Nostalgie vielleicht? Oder fast schon so etwas wie Trauer? Das wäre sehr merkwürdig, denn sie hatte keinen Grund, traurig zu sein, im Gegenteil. Sie hatte ihr Ziel erreicht, hatte Lauro besiegt und war zum Champ der Einall-Region aufgestiegen. Aber vielleicht war es ja genau das. Was blieb ihr jetzt noch zu tun übrig?
Sie holte tief Luft und atmete die frische und salzige Meeresluft ein. Der Kampf gegen Lauro war sehr anstrengend gewesen und dennoch war ihr Sieg lange nicht so hart umkämpft gewesen wie an jenem Tag davor, an dem sie zum ersten Mal die Pokémon-Liga herausgefordert hatte. Denn damals hatte nicht einfach der Champ auf sie gewartet.
White sah zu den Sternen und dem Mond hoch. Wo war N jetzt wohl? Er war einfach verschwunden, auf eine Reise gegangen mit dem legendären Pokémon, dessen Gegenstück zu ihrem eigenen Team gehörte. Was mochte er wohl tun? Er würde sicher nicht mehr sein Ziel verfolgen, Menschen und Pokémon zu trennen. Nein, das war nicht mehr das, was er wollte, das hatte er ihr selbst gesagt.
Es vergingen einige Minuten, in denen White nur auf das Meer hinausstarrte und seinem sanften Rauschen lauschte. Sie war müde, aber dachte trotzdem nicht daran, wieder zurück nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen. Sie wusste, dass sie nicht würde schlafen können. Dafür spukten ihr einfach zu viele Dinge im Kopf herum, die sie nicht loswerden konnte.
Und dann, ganz plötzlich, befiel sie eine Art Vorahnung. Vielleicht war es nur ein Gefühl, doch hätte sie auch schwören können, dass einer der Pokébälle, die sie bei sich trug, zu zittern begonnen hatte. Sie spürte die Anwesenheit eines Menschen, bevor sie seine Schritte hörte. Und es überraschte sie fast nicht einmal, dass sie, als sie sich umdrehte, einen jungen Mann mit langen grünen Haaren sah, die er wie sie selbst unter einer Kappe trug.
„N“, sagte sie ruhig, während der Ankömmling sie aufmerksam musterte.
„Hallo, White“, sagte er in dem ungewöhnlich schnellen Tempo, in dem er immer gesprochen hatte. Er näherte sich White und trat neben sie an das Geländer.
„Ich habe gehört, dass du Lauro besiegt hast. Glückwunsch.“
„Ja“, antwortete White ein wenig überrascht. N war nie jemand gewesen, der das Kämpfen gemocht hatte, da war es ein wenig verwunderlich, dass er ihr zu einem gewonnenen Kampf gratulierte. „Es war ein harter Kampf, aber am Ende haben wir es geschafft. Ich und meine Pokémon.“
„Natürlich“, meinte N und schien ein wenig in Gedanken zu versinken.
„Warum bist du hier?“, fragte White. Es war schon ungewöhnlich, dass er hier war und noch dazu in der Nacht umherstreifte.
„Ich wollte mir dieses Dorf mal ansehen, aus dem du kommst“, erwiderte N.
„Bei Nacht?“
„Ich möchte die Städte und Dörfer nicht unbedingt am Tag besuchen. Es ist wegen … der Sache damals.“
„Daran habe ich gerade gedacht“, sagte White. „Was hast du seither gemacht? Du hattest gesagt, dass du überlegen musst, was dein nächster Schritt ist. Also … Wie sah er aus?“
N antwortete nicht sofort. Er blickte aufs Meer hinaus und seufzte. White ahnte, dass er immer noch nicht vollkommen überwunden hatte, was passiert war. Als sie ihn das erste Mal getroffen hatte, war er ihr seltsam und mysteriös vorgekommen, aber auch selbstbewusst und voller Tatkraft. Er hatte gelächelt, als er ihr von seinen Visionen erzählt hatte, war offen empört gewesen, als sie ihm gesagt hatte, dass sie seine Wünsche nicht teilte und als er einmal in der Elektrolithhöhle auf Professor Esche getroffen war, hatte er ihr mehr als deutlich mitgeteilt, was er von ihrem Pokédex hielt. Nach dem Kampf in seinem Schloss allerdings hatte N sich sehr verändert. Kein Wunder, dachte White. Jahrelang hatte er eine klare Vorstellung gehabt von dem, was er tun wollte und schließlich hatte er nicht nur gegen sie verloren, sondern auch den Verrat seines Vaters ertragen müssen, der ihn sein ganzes Leben manipuliert hatte.
„Im Meer gibt es so viele Pokémon …“, murmelte N. „Und keine Menschen, weil sie nicht dort überleben können … Es ist wie eine natürliche Grenze zwischen ihnen. Aber auch sie ist nicht unüberwindbar, wenn man es genau nimmt.“
Er seufzte erneut sah dann wieder White an.
„Ich habe ein paar der früheren Mitglieder von Team Plasma versammelt. Nicht für das, wofür das Team mal da war. Nein, es sind vielmehr Leute, die alles wiedergutmachen wollen, was passiert ist. Wir haben Pokémon gestohlen, die ihren Besitzern zurückgegeben werden müssen und daher wollen wir versuchen, genau das zu tun. Ein paar frühere Mitglieder haben sich in Marea City niedergelassen und arbeiten jetzt daran, unseren Ruf wiederherzustellen.“
„Das ist schön zu hören“, meinte White und lächelte. Es war wirklich eine gute Nachricht, dass N die Vergangenheit offenbar allmählich hatte verarbeiten können. Und trotzdem wirkte er immer noch ein wenig niedergeschlagen.
„N?“, fragte White.
„Natural“, sagte er.
„Wie bitte?“, fragte White verwirrt.
„Mein richtiger Name. Nicht N, sondern Natural.“
„Oh“, machte White. Sie war nicht sicher, was sie darauf entgegnen sollte.
„Aber du kannst mich weiter so nennen wie bisher“, sagte N rasch. „Ich dachte nur, du solltest meinen wirklichen Namen kennen.“
„Warum?“, fragte White.
Zum ersten Mal schien N zu lächeln. Für einen kurzen Moment wirkte er wieder mehr wie früher, aufrechter und viel lebendiger. Als seine Augen aufleuchteten, glaubte White vergessen zu haben, wie grün diese waren.
„Weil ich dich sehr respektiere, White“, sagte N schlicht. „Ich mag es immer noch nicht, wenn Pokémon gefangen oder verletzt werden, aber du behandelst all deine Pokémon gut. Deshalb mögen sie dich auch und wollen bei dir bleiben. Wenn es mehr Trainer wie dich gegeben hätte, dann wäre ich vielleicht schon viel früher … Nun, jedenfalls freue ich mich sehr für dich, dass du es geschafft hast, deine Träume wahr werden zu lassen.“
White entging nicht, dass aus Ns Stimme tatsächliche Aufrichtigkeit herausklang. Das war eines der Dinge, die ihn von seinem Vater unterschieden: G-Cis hatte Leute manipuliert und hinter seinen manchmal auf gruselige Art überzeugenden Propagandareden hatte nichts als Machtgier gesteckt, während er vorgab, nur das Wohl der Pokémon im Sinn zu haben. Sie war wirklich froh, dass N vollkommen anders war. Er konnte durchaus nett sein, er war ehrlich und er war vor allem sehr mitfühlend. Er hatte einmal gesagt, dass es ihm nicht leicht fallen würde, sie von ihren Pokémon zu trennen, wie es sein Ziel mit jedem Trainer gewesen war. Irgendwie glaubte sie nicht, dass er es tatsächlich gekonnt hätte. Und außerdem …
„Das ist sehr nett von dir, dass du das sagst, N“, erwiderte White. „Und weißt du, ich glaube, ich muss mich bei dir bedanken. Ich war damals nicht mit all deinen Idealen einverstanden, aber dennoch habe ich bewundert, wie beharrlich du sie verfolgt hast. Und dabei warst du nicht – wie soll ich sagen – ‚böse‘, sondern du warst immer freundlich und überraschenderweise auch fair. Du hattest so viele Leute, gegen die ich unmöglich hätte kämpfen können, aber du hast sie nicht einfach auf mich gehetzt, sondern die direkte Konfrontation mit mir gesucht. Es gibt nicht viele Menschen, die so sind. Es ist einfach – ich habe deine Ziele nicht geteilt, aber die Art wie du sie verfolgt hast, war, wie soll ich sagen … nobel. Und ich glaube, ein bisschen wollte ich es genauso machen.“
Der Meereswind frischte plötzlich ein wenig auf und sowohl N als auch White griffen sich an ihre Kappen, damit sie nicht weggeweht wurden. Sie blickten beide eine Zeit lang auf das Meer und als der Wind wieder schwächer wurde, sagte White: „Das alles beschäftigt mich schon so lange. Deshalb konnte ich heute Nacht auch nicht schlafen. Aber es tut gut, mit dir darüber zu sprechen.“
„So geht es mir auch“, sagte N und nickte.
„Kann ich dir etwas Persönliches erzählen?“, fragte White und sah ihm ernst in die Augen.
„Natürlich“, sagte N.
„Ich weiß nicht genau, was ich jetzt machen soll“, sagte White frei heraus. „Also, ich habe immer davon geträumt, der Champ zu werden, und es sagen ja jetzt auch alle, dass es ein großer Erfolg für mich sei, aber ich habe mir nie überlegt, was danach kommen soll. Und jetzt, wo ich es bin, da fühlt es sich einfach komisch an.“
„Ich verstehe“, sagte N. „Ich glaube, dass es mir nach unserem Kampf ähnlich ging. Ich musste auch erst einmal herausfinden, was ich tun wollte.“
„Genau“, bekräftigte White. „Ich habe jetzt schon lange nachgedacht, aber mir will einfach nichts einfallen. Das heißt … Eigentlich wollte ich etwas Gutes tun. Weißt du, ich denke, das hat auch mit dir zu tun. Du hast mir ja gesagt, dass du so viele Trainer gesehen hast, die ihre Pokémon gut behandeln und dass dich das zum Nachdenken gebracht hat. Ich habe auch viele Trainer gesehen, die ihre Pokémon mit Liebe aufziehen, aber es gibt nun einmal auch einige – zum Glück nur sehr wenige – Menschen, die mit den Pokémon nicht so gut umgehen. Und ich frage mich, ob ich nicht irgendetwas dagegen tun kann … Aber ich weiß nicht, was.“
White erinnerte sich an etwas Anderes, was N damals gesagt hatte: Er hatte vermutet, dass es vielleicht besser war, andere Überzeugungen an sich heranzulassen, hatte von einer „positiven chemischen Reaktion“ gesprochen, davon, dass das vielleicht die Formel war, um die Welt wirklich zu verändern. Wahrscheinlich hatte er das auf sich selbst bezogen, doch White glaubte, dass es genauso auf sie zutraf. N war mit seinen Zielen und Ansichten gescheitert, aber ein gewisser Erfolg war trotzdem vorhanden gewesen: Sie hatte auch nachgedacht und ein wenig von seinen Idealen in sich aufgenommen.
„White“, sagte N, wobei ein aufgeregter Ton in seiner Stimme mitschwang, „wenn du vielleicht möchtest, dann könntest du … mit mir mitkommen.“
Überrascht sah White ihn an.
„Es ist so“, sagte N hastig, „Es gibt zwar einige Mitglieder von Team Plasma, die alles wiedergutmachen wollen, aber du weißt, dass mein Vater mithilfe des Finstrios entkommen ist.“
White nickte. Dieser Umstand war eher etwas, was sie verdrängt hatte, obwohl es durchaus besorgniserregend war.
„Ich befürchte auch, dass er selbst einige ehemalige Mitglieder um sich geschart haben könnte“, fuhr N fort. „Viele sind einfach verschwunden, und mit ihnen viele gestohlene Pokémon. Ich wollte mich auf die Suche nach ihnen machen und wenn ich auf meinen Vater treffe … Er ist gefährlich, und ich kann nicht zulassen, dass er wieder seine finsteren Pläne schmiedet.“
Mit einem Mal wirkte N wieder sehr entschlossen, so sehr, dass White unwillkürlich grinsen musste. Es war gut, wieder einen N zu sehen, der ein festes Ziel hatte. Seine Stimme war lauter und energischer geworden, seine Augen funkelten wieder.
„Und“, schloss er, „ich würde mich wirklich freuen, wenn du dabei mitkommen würdest. Natürlich nur, wenn du willst. Aber da du sagtest, dass du eine Aufgabe suchst … Und wie gesagt, ich halte dich für eine wirklich vorbildliche Trainerin und deswegen …“
„Ja“, unterbrach White ihn.
„Was?“, fragte N.
„Ja, ich würde gerne mitkommen“, sagte sie lächelnd. Es war eigentlich fast schon keine Frage für sie gewesen. Das, was er ihr vorschlug, war im Grunde genau das, was sie gesucht hatte – ein neues Ziel, das sie verfolgen konnte und das ihr die Gelegenheit gab, den Pokémon zu helfen.
N schien sich über ihre Zustimmung zu freuen, auch wenn er wohl nicht so gut darin war, es zu zeigen. Er blieb immer noch ruhig und nickte nur, bevor er sagte: „Danke, White. Du bist vielleicht sogar die einzige Person, die ich darum bitten könnte.“
„Ich freue mich, dass du es getan hast“, erwiderte White.
Es trat eine Stille ein, in der beide wieder auf das Meer hinausblickten und White in Gedanken bereits ihre Abreise am nächsten Tag plante, während in der Ferne die Rufe einiger nachtaktiver Pokémon ertönten.
Erneut war der Moment des Tages angebrochen, den er in den letzten Wochen am meisten zu fürchten gelernt hatte. Dieser Moment zwischen Bewusstsein und der süßen Dunkelheit des Schlafes, die einen Nacht für Nacht einholt und in unvollendete Träume zieht. Seien es Träume über das kleine Pachirisu, welches auf den Baumkronen seinen täglichen Essgewohnheiten nachgeht, oder aber Träume von Darkrai persönlich geschickt, grausamer als jede denkbare Realität. Er jedoch hatte nur einen einzigen Traum.
Wieso fürchtete er sich so vor diesem Moment, kurz bevor man sich doch der Bewusstlosigkeit des Schlafens hingeben konnte? Kurz bevor einen Gefühle nicht mehr jagten und Gedanken sich nicht zu Hirngespinsten formten? Er fürchtete sich davor, weil er in jenem Moment immer am einsamsten war. Dies wurde ihm immer dann besonders bewusst, wenn sie neben ihm lag. Kurz bevor er in den Schlaf gleiten konnte, war es in ihrem gemeinsamen Eheschlafzimmer besonders still, als hielte die Welt an, nur um das unregelmäßige Atmen in sich aufzunehmen. Doch manchmal hörte er nicht einmal mehr das. Und dann ergriff ihn die Angst - eine blinde Angst, die er sich nicht erklären, gleichwohl aber jede Nacht auf's Neue fühlen konnte.
Wann immer die Angst am größten wurde und drohte, ihn gänzlich zu verschlingen, stand er schweißnass auf. Seine Frau blieb für gewöhnlich liegen. Sie hatte seine kindlichen Züge nie verstehen können. Trotzdem hatten sie sich vor einiger Zeit das Ja-Wort gegeben - er liebte sie, wie er zuvor noch nie jemanden geliebt hatte. Doch selbst für jemanden, den man liebt, kann man sich nicht vollständig und in jedem Wesenszug verändern. Das wusste er. Und das wusste sie auch.
So stand er also auf und tastete im Dunkel vorsichtig nach seiner Jacke, die er in der abendlichen Eile über einen Stuhl geworfen hatte. Obgleich sich seine Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er nur schwerlich die Umrisse der Möbel im Schlafzimmer erkennen. Er griff in die Jackentasche und tastete auf das ihm altbekannte Material, glatt, wenngleich auch mit ein paar Kratzern und anderen Spuren des Gebrauchs versehen. Er liebte es seit seiner Kindheit, diese Konsole in den Händen zu halten. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Er verließ das Schlafzimmer.
Im Wohnzimmer wiederum schaltete er das Licht ein, seine Pupillen zogen sich alsbald zusammen ob des plötzlichen Lichteinfalls. Doch dieses unangenehme Gefühl hatte er nach wenigen Sekunden bereits wieder vergessen, als er seinen Nintendo DS anschaltete und das altbekannte Geräusch vernahm, welches immer ertönte, wenn die Konsole angeschaltet wurde. Sogleich vergaß er jedwege Sorgen, die ihn des Nachts heimsuchten, und er wurde wieder zum kleinen Jungen von gerade mal zwölf Jahren, der sich auf seiner Pokémonreise nur beweisen wollte. Seine Frau im Schlafzimmer schien endlos weit weg zu sein in dem Moment, als sich der Startbildschirm von Pokémon Diamant & Perl offenbarte. Der Mann drückte hastig den START-Button. Sein Herz hämmerte wild gegen seine Brust, als sich die altbekannte Szenerie sodann vor ihm eröffnete.
Sein Charakter stand vor der letzten Halle, welche das Spiel bereithielt. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er dort bereits gestanden hatte. Keine Frage, er liebte die Diamant & Perl Edition, er hatte sie mit Passion gespielt und jede Sekunde davon genossen. Doch seit Tagen, wenn es nicht sogar bereits schon Wochen gewesen waren, scheiterte er kläglich an dem Champ - Cynthia. Egal, wie hart er trainierte, egal, welche Pokémon er bereit war, einzusetzen - immer verlor er. Stunden hatte er damit zugebracht. Er hatte seine Arbeit als Büroangestellter vernachlässigt, war regelmäßig nicht mehr erschienen. Er hatte gemeinsame Abendessen mit seiner Frau versäumt. Ihm war dies nicht in seiner vollen Tragweite bewusst, da ihm nur dieser Sieg wichtig war. Er wollte endlich Champ der Sinnoh-Region werden - dies war in der letzten Zeit seine wichtigste Priorität geworden. Er schluckte und betrat die Halle.
Die ersten fünf Pokémon waren nie das Problem. Er hatte am Anfang seiner Reise Plinfa gewählt, welches sich mittlerweile zu einem stattlichen und starken Impoleon gemausert hatte. Er hatte viel mit ihm trainiert und es war stark geworden. Es schaffte Cynthias erste fünf Pokémon, mit Hilfe einiger anderer Pokémon seines Teams, meist problemlos. Gewiss gab es Verluste. Knackrack war mit der härteste Gegner, der nicht selten sein Galagladi kampfunfähig machte und das auch andere Pokémon nicht viel zu stören schien. Doch irgendwie schaffte er es immer, auch dieses Hindernis zu besiegen. Es war Cynthias Milotic, an dem er sich seit Wochen so verzweifelt die Zähne ausbiss.
So wie auch jetzt, in dieser stillen Nacht im Mai. Seine Nackenhärchen stellten sich erregt auf, als Cynthia ihr letztes kampffähiges Pokémon rief. Jedoch ging es ihm, wie so oft schon, ähnlich. Impoleon, bereits mit dutzenden Hypertränken wieder und wieder geheilt, wenig AP verbleibend, war sein letztes Pokémon. Er begann, schnell ein und auszuatmen. Er hatte sich bereits so häufig dieser Situation gestellt, dass er nicht sicher war, wie oft er eine Niederlage noch verkraften würde. "Vielleicht fasse ich das Ding einfach nie mehr an, wenn ich jetzt erneut verliere", dachte er sich. Auch wenn er tief in sich wusste, dass er das niemals durchziehen konnte. Doch seine Verzweiflung wollte ihn dies glauben lassen.
So stand sein bereits geschwächtes Impoleon da, wie es dies schon oft getan hatte. Das Gute war stets, dass seine Initiative bereits so gut trainiert war, dass es immer den ersten Schlag landen konnte. Seine Finger wurden fiebrig. Er tippte auf Surfer, nicht wissend, ob dies eine gute oder wieder eine verheerende Entscheidung gewesen war. Natürlich richtete es nicht den Schaden an, den eine Elektroattacke oder dergleichen anrichten würden - schließlich waren beide Pokémon zu seinem Leidwesen Wasserpokémon. Doch ein gutes Viertel der KP gingen zurück. Jetzt hieß es abwarten, was Cynthia tat. Er hielt den Atem an.
Milotic setzte seine größte Befürchtung ein - Eisstrahl. Impoleon verlor einige KP, doch glücklicherweise fror es nicht ein. Eine Welle der Erleichterung überkam ihn. Vielleicht habe ich ja endlich eine Chance! Impoleon setzte daraufhin, von neuem Siegesmut gepackt, die Attacke Blizzard ein. Sie traf, und erneut gingen die KP von Milotic zurück, so dass nun schon der grüne Balken einem gelben wich. Milotic fror sogar ein, doch er wagte nicht, zu hoffen, da er wusste, was alsbald geschehen würde: Cynthia setzte eine Top-Genesung ein. Milotic erholte sich gänzlich, war nicht mehr eingefroren, und der Eissturm im Spiel sowie die erregten Gefühle des Spielers tobten weiter.
Nun setzte er Durchbruch ein und landete unerwartet einen Volltreffer. Die KP des grazilen Wasserpokémon gingen zur Hälfte zurück. Milotic setzte Wasserring ein - und heilte sich und einige seiner KP selbst. Das hatte er erwarte und seufzte. Der Blizzard jedoch tat seine Pflicht und raubte Milotic die KP, die es zuvor erst wieder gewonnen hatte. Danach setzte Impoleon erneut Durchbruch ein. Kein Volltreffer diesmal, aber erneut gingen die KP in den gelben Bereich zurück. Milotic setzte Surfer ein, Impoleon blieb jedoch standhaft und verlor nur einige unerhebliche Kraftpunkte. Der Spieler schluckte. So gut hatte es für ihn noch nie ausgesehen.
Er wollte es noch einmal wagen und ließ sein Pokémon Durchbruch einsetzen, da er dies als seine größte Chance sah. Er hielt den Atem an - und die KP gingen in den roten Bereich. Er erschauderte. Gewiss würde Cynthia nun erneut eine Top-Genesung einsetzen und all seine Mühen waren umsonst gewesen. Doch der Champ überraschte ihn - erneut ließ sie Milotic Eisstrahl einsetzen, und zu seiner großen Erleichterung gingen Impoleons KP lediglich in den roten Bereich zurück, ohne dass das Eis andere Auswirkungen gehabt hätte. Ihm war bewusst, dass er nun nur noch diese eine Chance hatte und keine weitere bekommen würde. Würde Impoleon jetzt nicht treffen oder die Attacke würde keinen gravierenden Schaden anrichten, hätte er erneut verloren. Der Schneesturm hatte Milotic weiterhin geschadet, doch dieser war nun auch vorbei. Er wollte auf Nummer sicher gehen. Lieber Schaden anrichten als gar nicht zu treffen. Seine Hände zitterten beinahe schon besorgniserregend, als er den Touchpen auf die Attacke "Surfer" zubewegte. Er hielt den Atem an und meinte sogar, sein Herz einen kurzen Moment nicht mehr hören zu können.
Die Welle traf Milotic und obgleich es kein Volltreffer war, verlor es all seine restlichen KP. Das gegnerische Pokémon verschwand. Cynthia gratulierte dem Spieler zum Sieg und zog gemeinsam mit ihm in die Ruhmeshalle ein. Er jedoch kriegte dies nur noch am Rande mit.
Er war schlicht überwältig von dem, was er dort geleistet hatte. Er spürte, wie eine tonnenschwere Last von seinen Schultern fiel und dass seine stetig wachen Augen kurz von der lange mitgeschleppten Müdigkeit zufielen. Er glaubte, dass er weinte, jedenfalls waren seine Augen feucht und kleine Flüssigkeitsperlen klebten an seinen Wimpern. Sein Herz hämmerte wieder unnachgiebig in seiner Brust und in seinen Hals kroch ein Schrei der Freude, der unbedingt hinauswollte, doch er hielt sich zurück. Während die Melodie des Abspanns seine Ohren erfüllte und ihn selig lächeln ließ, ging er zurück in das Schlafzimmer. Er musste es seiner schlafenden Frau erzählen. Er musste sie einfach wecken und ihr von seinem Erfolg berichten.
Er betrat das Schlafzimmer und machte das Licht an. Er erwartete, dass seine Frau sich regen, aber nicht verstehen würde, wieso man sie zu solch später Stunde weckte. Er freute sich, ihr endlich mitteilen zu können, was er erreicht hatte. Doch er stutzte. Ihre Seite des Bettes war leer. Das Kissen lag ordentlich dort, wo einst der Kopf seiner Frau gelegen hatte. Er schaute sich verwundert im Schlafzimmer um - alles, was ihn an sie erinnerte, war fort. Der kleine rosafarbene Wecker auf ihrem Nachttisch, den er nie hatte leiden können, weil er ein fürchterliches Geräusch machte, wenn er losging, war nicht mehr da. Er riss den Kleiderschrank auf - ihre Kleider und Schuhe und alles andere waren weg. Er blinzelte verwirrt. Er sah auf den Tisch, der ihm als Arbeitsfläche diente. Dort lagen drei geöffnete Breife - wann genau hatte er sie geöffnet? Er erinnerte sich wage, aber nicht genau. Sein Herzschlag beruhigte sich.
Er setzte sich auf den Stuhl und überflog den ersten Brief. Es war eine Mahnung, die Miete wieder zu zahlen. Er hatte sich keinen Dauerauftrag eingerichtet, er zahlte sie jeden Monat bar. Er verstand nicht und schielte auf das Datum des Schreibens. Es lag zwei Monate zurück. Ihm wurde ansonsten eine Räumungs- und Zahlungsklage angedroht. Hatte er wirklich zwei Monate die Miete nicht mehr gezahlt? Er legte den Brief beiseite. Der zweite war ein noch größerer Schock für ihn. Er war datiert auf letzte Woche. Absender war sein Arbeitgeber. Oder vielmehr ehemaliger Arbeitgeber. Er schmunzelte sarkastisch. Er war gefeuert worden, weil er sich seit Wochen nicht mehr auf der Arbeit hatte blicken lassen. Wenn dann nur noch spärlich. Er musste wohl tatsächlich länger in dem Spiel gefangen gewesen sein, als er es realisiert hatte.
Der dritte Brief offenbarte die ihm lieb gewordene Handschrift seiner Frau. Wenn er es recht zuordnen konnte, verrieten ihm die kreisrunden Flecken auf dem Papier, dass sie geweint haben musste, als sie ihn geschrieben hatte. In dem Brief stand, dass sie ihn verließ, weil er wie ein Geist an ihr vorbeigelebt und nur noch Augen und Gedanken für dieses Spiel übrig hatte. Sie käme damit nicht mehr klar, dass er seit Wochen kaum mehr neben ihr geschlafen hatte. Der Brief zeigte kein Datum. Doch auch er musste schon eine gewisse Zeit her sein.
Er war geschockt. Der größte Schock für ihn war tatsächlich, dass er sich jetzt erst daran erinnerte, diese Briefe alle erhalten, geöffnet und gelesen zu haben. Jeden einzelnen von ihnen. Doch er hatte sie vergessen. Schlichtweg vergessen über seine wilde Entschlossenheit dem Spiel gegenüber.
Er setzte sich mit seinem DS auf das Bett, das schon seit Wochen sein eigenes war. Die Melodie des Abspanns war verstummt. Er atmete tief ein. Fortan war sein Ziel, den Nationaldex zu vervollständigen.
"Habt ihr schon gehört? Unser alter Maxi soll sich in der Obhut von diesem Menschen zu einem Pupitar weiterentwickelt haben!"
"Wow, echt jetzt? Das ist ja total krass!"
"Ich will auch von so einem coolen Menschen gefangen werden!"
"Ja, da soll's einem voll gut gehen!"
Aufmerksam lauschte ich den Gesprächen meiner kleinen Gruppe, während wir in den Gängen der Omega-Höhle nach Futter für den Rest unseres Rudels suchten. Sie alle schienen in letzter Zeit regelrecht scharf darauf zu sein, von einem Menschen gefangen und trainiert zu werden. Doch ich kam gut ohne das aus. Ich mochte meine Heimat, die Freiheit der Höhle.
"Vielleicht haben wir heute ja Glück!", trällerte Rocky. "Die anderen Gruppen haben angeblich einen Menschen gesichtet, der zum Zentrum unterwegs gewesen sein soll."
"W-was?", stammelte ich erschrocken. Die anderen sahen mich an.
"Vermutlich wärst eh du die, die er fangen will, Star", sagte Rocky nun an mich gewandt. "Deine leuchtend grüne Haut soll dich bei Menschen beliebt machen."
"I-ich will aber gar nicht gefangen werden", sagte ich leise.
"Was, warum das denn?", fragte Lars.
"Ich mag es hier. Ich will hier bleiben", erklärte ich den anderen, die mich entgeistert anschauten. "Und ich kämpfe nicht gern. Ich hörte, die Menschen richten einen zu Kampfmaschinen ab."
"Dann sorgen wir halt dafür, dass er statt dir einen von uns fängt", sagte Rocky grinsend und klopfte mir dabei auf die Schulter.
"Haha, genau", sagte ich nur, sichtlich beunruhigt.
Schweigend folgte ich den anderen. Ich war wahrlich nicht die Stärkste im Team, bestimmt niemand, der einem Menschen mit speziell trainierten Pokémon viel entgegenzusetzen hatte, wie sollte ich da nur entkommen können, wenn es dieser tatsächlich auf mich abgesehen hat? Ich versuchte, mich zu beruhigen. Noch waren wir keinem Menschen begegnet. Noch war alles in Ordnung. Vielleicht war er ja einer jener Menschen, die uns wilde Pokémon durch ihre ekelhaften Sprays von sich fernhielten. Oder einer jener, die durch seltsame Seile oder ihre eigenen Pokémon völlig kampflos von hier flohen. Vermutlich war er ohnehin noch mit dem Drachen im Zentrum beschäftigt. Dieser hatte ja in der Vergangenheit selbst schon etliche Menschen in die Flucht geschlagen.
Wir drangen in die tieferen Ebenen der Höhle vor. Hier in der Nähe war anscheinend noch keine der anderen Larvitargruppen, also perfekte Voraussetzungen, um selbst nach Beute zu suchen.
"Wenn jemand ein eF-eM oder etwas in der Art sieht, laut Bescheid sagen!", verkündete Rocky, der nun selbstbewusst voraus ging.
"Um's zu verscheuchen?", murmelte Felizia genervt von seinem Verhalten.
"Ähm ... äh ...", stammelte Rocky, der sich von ihr komplett aus der Fassung hatte bringen lassen.
"Schluss mit dem Quatsch, kuckt da vorn", sagte Pete und deutete auf etwas in der Ferne.
"Oh, shit", flüsterte ich, als ich die Umrisse des Menschen erkannte. Die immer näher kommenden Umrisse des Menschen. "Können wir uns nicht verstecken?", flehte ich mein Rudel an. Doch alle vier waren wild entschlossen, dem Menschen ihre Stärke zu demonstrieren, in der Hoffnung, von ihm gefangen zu werden.
"Mach dir keinen Stress, Star", sagte Pete, "stell dich einfach schwach, dann will er dich schon nicht."
Ich schluckte, in der Hoffnung, er hatte Recht. Die anderen stürmten auf den Menschen zu. Ich rannte, wenn auch zögernd, hinterher.
"Nicht schon wieder!", rief der Mensch und warf seinen Pokéball, aus dem ein anmutiges, vierbeiniges Pokémon sprang.
"Ein Feelinara", staunte Rocky. "Aber das sollte eigentlich kein Problem sein. Zum Angriff!" Er schrie so laut, dass das gegnerische Pokémon kurz erzitterte.
"Feelinara, setz Mondgewalt gegen irgendeins von denen ein", rief der Mensch seinem Pokémon zu. Dann drehte er seinen Kopf mit einem breiten Grinsen zu mir. "Aber nicht gegen das hellgrüne da, das will ich mir holen."
"Scheiße, er hats tatsächlich auf dich abgesehen", murmelte Pete, bevor er einige Steine in seiner Hand erschuf und diese auf das gegnerische Pokémon zuschnellen ließ.
Das Feelinara erschuf inzwischen eine riesige, leuchtende Sphäre, die es mit beeindruckender Genauigkeit auf Pete zukommen ließ.
"War mir eine Ehre, Leute", murmelte dieser, als er von dem gleißenden Licht erfasst und davongeschleudert wurde. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Mit so einer Angriffsstärke hätte dieses Feelinara uns innerhalb von kürzester Zeit besiegt.
Als ich sah, wie auch die anderen beiden aus meinem Rudel einen Angriff starteten und auf den Gegner zurannten, versuchte auch ich, einen halbwegs kühlen Kopf zu bewahren. Ich umgab mich selbst mit kleinsten Steinchen, die ich in die Luft stieß und zu einem wilden Sandsturm werden ließ, der dem Feelinara schwer zusetzte.
"Guter Move, Star", sagte Rocky anerkennend. Er selbst baute sich nun vor dem Pokémon auf und zog eine bedrohliche Grimasse.
"Mondgewalt auf ihn!", rief der Mensch und deutete auf Lars, doch noch bevor sein Pokémon angreifen konnte, sprang dieser auf den Gegner zu und bombardierte ihn mit Steinen. Das Feelinara schüttelte sich kurz, bevor es erneut seine leuchtende Sphäre auflud. Ich sammelte inzwischen meine Kräfte. Als das Feelinara die Attacke auf Lars entlud, ließ auch ich spitze Steine auf es niederregnen. Es stolperte. Felizia erkannte ihre Chance und stürmte auf das Pokémon zu. Mit ihrem Angriff blieb es regungslos am Boden liegen.
Erst jetzt merkte ich, dass auch Lars kampfunfähig am Boden liegen geblieben war. Verdammt! Es wurden immer weniger, was sollte ich nur tun?
Der Mensch rief das Feelinara zurück in seine Kapsel.
"Übernimm du, Fennexis!", rief er, und aus einem weiteren Pokéball sprang ein Pokémon von fast menschlicher Statur.
"Alle Mann zum Angriff!", brüllte Rocky, erneut in einer Lautstärke, die den Gegner erschaudern ließ. Sofort erschuf ich Steine, mit denen ich den Gegner bombardierte. Es schien dem Fennexis schwer zuzusetzen, denn allein durch meinen Angriff brauchte es schon einen Moment, um sich wieder zu fangen.
"Psychokinese", befahl der Mensch, und das Pokémon erhob den Ast in seiner Hand und schwang ihn durch die Luft. Felizia wurde von einer leuchtenden Aura umgeben. Scheinbar berührungslos wurde sie in die Luft gehoben. Sie konnte sich nicht bewegen, ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
"Nein, nicht du auch noch", flüsterte ich, als ich mitansehen musste, wie sie auf den Boden geschleudert wurde und dort regungslos liegen blieb.
Jetzt waren wir nur noch zu zweit. Rocky, der Einzige, der mich noch beschützen könnte. Ich sah ihn an. Sein Blick war nach wie vor entschlossen. Dabei war unser Gegner doch so übermächtig. Was sollten wir gegen diesen Menschen nur ausrichten können?
"Gib nicht auf." Seine Stimme ließ mich kurz aufschrecken. "Du schaffst das. Ich glaub an dich. Ich weiß, dass du es kannst." Er wandte seinen Blick zu mir. "Und noch bin ich auch da, Star." Ich nickte.
Rocky bildete Steine, die er sogleich auf das gegnerische Pokémon warf, und ich tat es ihm gleich. Das Fennexis atmete schwer.
"Den Wurm da packst du doch auch mit Flammenwurf, Kleine!", rief der Mensch seinem Pokémon zu, das mit einem Strahl aus Flammen auf Rocky zielte. Die Flammen umgaben ihn, verschlangen ihn regelrecht. Er schrie. Nein ... Nicht auch noch er ...
"Das ist doch gar nichts", rief Rocky, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, und stieß noch einmal Steine auf das Fennexis. Es knickte ein und fiel zu Boden.
Keuchend saß Rocky neben mir und hielt sich das Bein. Anscheinend hatte er sich schwere Verbrennungen zugezogen.
"Es tut mir leid, Star", flüsterte er. "Dass wir so egoistisch waren ... Dass ich jetzt nichts mehr für dich tun kann." Mir fehlten die Worte, als ich ihn so neben mir sitzen sah. Er hatte so hart gekämpft, um mich zu beschützen. Ich konnte ihm doch in diesem Moment keine Vorwürfe machen. "Gib nicht auf ... Star. Du ... du kannst es. Besiege ihn." Mit diesen Worten brach er zusammen. Die Verbrennungen waren zu schwer. Jetzt ... jetzt war ich allein.
"Ach, egal", murrte der Mensch. "Durengard, los! Jetzt hängts von dir ab, nachdem dieser blöde Drache schon mein halbes Team und meine ganzen Beleber gekillt hat." Er warf einen glänzenden, schwarzen Ball, der weitaus edler wirkte als seine anderen Pokébälle. Heraus kam ein längliches, schwarzes Pokémon, dessen Körper zu einem guten Teil aus einer langen Klinge mit einem scharfen, roten Rand zu bestehen schien. In einer Hand hielt es einen dunklen Schild mit goldenem Muster. Das Pokémon sah wirklich schön aus. Aber auch gefährlich ...
Ich konzentrierte mich wieder. Dieses Durengard war anders als die anderen Gegner. Der Sandsturm, den ich erzeugt hatte, schien es vollkommen kalt zu lassen. Aber es wirkte schon angeschlagen. Vielleicht ... vielleicht hatte Rocky ja recht. Ich erschuf wieder Steinblöcke. Ich zielte genau auf das, was ich für das Gesicht des Gegners hielt. Ich traf perfekt. Innerlich wollte ich schon jubeln, doch da merkte ich, dass das Pokémon die Attacke fast unbeeindruckt abschüttelte. Dabei hatte diese Attacke gegen die anderen Pokémon doch so gut funktioniert ...
"Trugschlag, los!", befahl der Mensch seinem Durengard, woraufhin dieses seinen Klingenkörper auf mich zuschnellen ließ. Unter Schmerzen schrie ich auf, als es sich durch meine Haut schnitt. Da spürte ich, wie es aufhörte. Was war das für eine Attacke? Warum hatte sie plötzlich aufgehört? War dem Menschen klar, dass dies passieren würde? Es ergab ja wenig Sinn, dass er mich angreifen ließ, wo er mich doch offenbar in eine seiner kleinen Kapseln sperren wollte.
"Finsterball!"
Mir blieb keine Zeit mehr, um nachzudenken. Ich wurde in das kleine Gefängnis gesaugt. Ich zappelte, wehrte mich. Ich wollte es nicht akzeptierten.
"Star, glaub an dich!"
"Star, gib nicht auf!"
"Star, du schaffst es!"
Es war, als hörte ich die Stimmen meiner Freunde in meinem Kopf. Und sie hatten Recht. Ich durfte jetzt nicht aufgeben. Ich musste es weiter versuchen. Ich zappelte und schrie und trat um mich, tat alles, um dem finsteren Gefängnis zu entkommen.
Ich sah Licht. Es hatte sich ein Riss gebildet. Im nächsten Moment zersprang der Ball. Schwer atmend stand ich da, stand ich dem unbesiegbar scheinenden Feind gegenüber. Ob ich so etwas noch einmal überstehen könnte? Ich glaubte es nicht. Doch was ... was sollte ich tun?
Ich folgte meinen tiefsten Instinkten, als ich mich schnell in Bewegung setzte. Als ich furchtlos auf den Gegner zusprang. Furcht ... Was hatte ich schon zu fürchten, wenn alles zwecklos erschien? Ich biss mich im Kopf des Feindes fest. Er erzitterte. Ein Echo des Klangs von zu Boden fallendem Stahl erfüllte die Höhle. Vor mir lag es. Das letzte Pokémon des Menschen. Unfähig, zu kämpfen.
Ich sah noch, wie er es in sein Gefängnis zurückrief und davonrannte. Doch ich ... ich ließ mich nicht einsperren. Von keinem Menschen.
"Gut gekämpft, Star."
Ich drehte mich um. Pete schien wieder zu sich gekommen zu sein und auch die anderen drei wachten gerade auf. Es musste sie wirklich hart getroffen haben.
"Das war echt 'ne Leistung", sagte Felizia anerkennend. Ich nickte stumm. Ich konnte es noch nicht ganz glauben. Ich, die kleine Star, hatte einen Menschen besiegt, als mein ganzes Team schon kampfunfähig war. Ich hatte mich auf meine Stärke verlassen und gesiegt. Meine Stärke ... Vielleicht war ich ja doch stärker als gedacht.
Es war das Geräusch puren Erfolgs, als sich der Korken mit einem dumpfen Knall von der Flasche löste. Erdmann füllte die beiden Gläser vor sich mit teurem Champagner und stellte sie neben der Kaviardose auf dem silbernen Tablett ab. Dies war sein Tag gewesen und nun sollte es seine Nacht sein.
„Ich bin gleich bei dir!“, rief der junge Geschäftsmann Anfang dreißig in Richtung Schlafzimmer und machte einen kurzen Abstecher ins Bad. Wer ein Mädchen für mehrere tausend Euro nebenan liegen hatte, durfte dabei schließlich auch entsprechend aussehen.
Er stellte das Tablett neben dem Waschbecken ab und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Nicht, dass der ihm nachher noch in die Augen liefe. Den halben Tag lang war ihm irgendwie schon so unglaublich warm gewesen und Erdmann schwitzte wie ein Schwein. Seine Laune schmälerte das trotzdem nicht. Nicht heute. Denn heute hatte er es endlich geschafft, er war ein gemachter Mann.
Erdmann hob das Glas und prostete sich selbst im Spiegel zu. Nicht einmal diese Marmorfliesen könnten seine Zufriedenheit kippen, auch wenn sie ihn im goldgelben Licht des Champagners an die billigen Badezimmerkacheln in seinen „eigenen vier Wänden“ erinnerten. Versehen mit einem Farbton und Design, die mit dem Ende der Achtziger eigentlich hätten das Zeitliche segnen sollen, eigneten diese sich maximal noch als Biotop für Silberfische, bis es wieder Zeit wurde, die Putzfrau zu bestellen. Doch wen kümmerte jetzt eine Wohnung irgendwo im nirgendwo, die man lediglich an zwei Tagen die Woche sehen musste? Das wahre Leben passierte hier, wo man für den Rest der Zeit Sternehotels bezog, sich die Abende in Bars um die Ohren schlug und zu besonderen Anlässen eine Frau aufs Zimmer rief. So etwas musste man sich auch erstmal leisten können, grinste Erdmann zufrieden in sich hinein, bereit, den Triumph bis ins Vollste auszukosten.
Hatte er schließlich nicht auch hart dafür gearbeitet? Erdmann schaute auf eine kleine Schachtel pechschwarzer Pillen neben dem Silbertablett. Seine „kleinen Helfer“, wie er sie im Stillen nannte, ein Präparat zweifelhafter Herkunft, das ihm aber seit Monaten nun zur Seite gestanden und jede seiner Versprechungen gehalten hatte: Erdmann konnte besser zuhören, Informationen schneller aufnehmen, konzentrierter arbeiten und charismatischer präsentieren als je zuvor – alles bei tadelloser Gesundheit. Während seine Kollegen sich vielleicht gerade noch mit starkem Espresso durch den Berufsalltag schleppen konnten, hatte er allein die Arbeit von Fünfen erledigt. Und die große Abschlusspräsentation heute Mittag hatte allem die Krone aufgesetzt. Er allein hatte der Firma den größten Kunden seit Jahren an Land gezogen: zweihundert Arbeitsstellen zu Top-Konditionen für die nächsten fünf Jahre – das sollte ihm erstmal einer nachmachen! Ganz besonders dieser aufgesetzte Brockmüller, der sowieso schon immer neidisch gierend auf Erdmanns Leistungen geschielt hatte. Doch nach der heutigen Verhandlung war ihm die Stelle als Assistant Regional Manager unumstößlich sicher. Er war jetzt die Nummer Zwei – und es war nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis der alte Obermeyer endlich das Handtuch werfen würde.
Er nahm die Schachtel in die Hand und schmunzelte: „Schon lustig, was man alles in die Finger kriegen kann, wenn man nur die richtigen Leute kennt.“
Wieder konnte Erdmann den Schweiß auf seiner Stirn spüren. Was war denn mit ihm los? Er sah sich selbst im Spiegel an. Mitte Oktober war es doch nun wirklich nicht mehr so warm!
Und was war das im Spiegel? Eine graue Strähne? Das konnte doch nicht … Moment! Was war das im Spiegel? Dieser dunkle Schatten, den Erdmann nur aus dem Augenwinkel zu sehen schien, als sei er nicht ganz da und dann aber doch vorhanden wie ein Lichtfleck im Auge, der stets vor dem eigenen Blick davonlief.
Seine Knie gaben nach, er stürzte.
Was war denn los? Schweißausbrüche, Augenflimmern, jetzt schwache Knie? So kannte er sich gar nicht! Okay, vielleicht war heute ein langer Tag gewesen, aber er hatte sich doch bis gerade noch so gut gefühlt!
Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.
Und plötzlich verstand Erdmann. Oder besser gesagt er verstand nicht, denn hätte er erklären müssen, was hier gerade passierte, hätte man ihn für verrückt erklärt. Sein Körper aber hatte es ganz instinktiv erkannt. Wie wenn man im Bahnhof in einem stehenden Zug sitzt und nicht genau sagen kann, ob nun das eigene Gefährt oder das gegenüber losfährt, hatte es ihn auch hier einige Sekunden gekostet, die Lage zu erfassen: Erdmann fiel. Nein, nicht nur er – der ganze Raum fiel wie ein Fahrstuhl, dem das Tragseil gekappt wurde. Und es wurde immer schneller; die unsichtbare Gewalt der Physik drückte Erdmann zu Boden. Sein Gesicht verzerrt, halb aus Angst, halb aus Anstrengung, überhaupt bei Bewusstsein zu bleiben. Er versuchte, sich an den Fliesen des Badezimmerbodens festzuhalten, seine Finger in die Fugen zu krallen, doch der Druck wurde immer stärker, drohte, ihn zu zerquetschen.
Seine Hände bebten, seine Nägel splitterten, Erdmann wollte schreien und konnte doch nicht. Und fast wie zu seiner Rettung barsten mit einem Augenblick Boden und Wände des Raums in unzählige kleine Splitter und gaben den Blick auf die unendliche Weite des Kosmos frei. Abertausende von Sternen glühten am Himmel und gebaren feurige Meteore, die in die unendlichen Weiten des Urmeeres stürzten. Ein Meer, das am Horizont kilometerhohe Wellen aufschlug, die zu funkelnden Eismassiven erstarten und die Landschaft in bitterkalten Wind hüllten. Ein Anblick so faszinierend und rein, dass Erdmann für Sekunden vergaß, dass er sich noch immer im freien Fall befand.
Er schrie die eiskalte Luft aus seinen Lungen heraus. Alle Viere von sich gestreckt fiel er tiefer und tiefer und konnte nicht aufhören, zu schreien. Eiserne Ketten schlossen sich um seine Knöchel, verfingen sich in den Spitzen des Kristallgebirges unter ihm und hingen sich und ihn daran auf. Der Rost schnitt sich tief in sein Fleisch.
Und dann kam das Feuer. Der Boden riss auf und spie meterhohe Flammen. Die eiskalte Luft wich dem schwefeligen Gestank aus den Ritzen der Unterwelt. Erdmann versuchte, das Würgen zu unterdrücken. Unmöglich. Als hätten seine Innereien ein Eigenleben entwickelt, ächzte er, keuchte, spürte, wie sich seine gesamten Eingeweide aufbäumten. Und mit einem Krächzen brach der Widerstand seines Kehlkopfs. Heraus strömte ein Schwall pechschwarzer Fliegen, der sich mit einem ohrenbetäubenden Surren in der Luft verteilte.
In seinem Inneren fühlte Erdmann die Leere anwachsen und was von ihm übrig blieb, war einzig und allein er selbst. Einsam in einer Wüste aus Feuer und Eis, unfähig sich zu bewegen, geschweige denn zu befreien. Er spürte die Last auf seinem Rücken, als wollte das gesamte Universum ihn zerschmettern. Schon brachen seine Rippen unter erbärmlichen Schmerzen. Schreien konnte er nicht mehr. Es war vorbei.
Doch bevor er die Augen schließen konnte, begann vor ihm eine Scherbe des Badezimmerspiegels zu schweben. Er sah die Reflexion seines eigenen Gesichts. Um Jahrzehnte gealtert, die Haut aschfahl, das Haar grau und zerzaust und auf der Stirn wulstige Auswüchse, Hörnern gleich. Erdmann traf den Blick seiner eigenen leer glühenden Augen und hörte, wie seine eigene Stimme zufrieden krächzend über die Lippen des Gehörnten ging:
„Schon lustig, was man alles in die Finger kriegen kann, wenn man nur die richtigen Leute kennt.“